Achtsamkeit für alle. Jon Kabat-Zinn

Achtsamkeit für alle - Jon Kabat-Zinn


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es schaffen, Moment für Moment, Tag für Tag zu erkennen, was ist, und dann einen roten Teppich dafür auszurollen – auch für die absolute Katastrophe des Menschseins – und klug damit umgehen. Wenn wir das schaffen, dann beginnt die Kultivierung von Achtsamkeit, uns auf mysteriöse Weise mit dem Leben selber zu verbinden, auf verschlungenen, verborgenen Pfaden, die wir nicht für möglich gehalten hätten, und die sich letzten Endes als für alle vorteilhaft erweisen.

       Zurückschauen, um nach vorne zu schauen

      Wie Sie aus den Beispielen ersehen können, die ich heranziehe, vor allem im ersten Band, wurde der Großteil des Materials in diesem Buch zum ersten Mal zwischen 2002 und 2004 niedergeschrieben. (Der damalige Text bildete die letzten beiden Teile des ursprünglichen Buches Zur Besinnung kommen.) Dort versuchte ich, den Horizont der Achtsamkeitspraxis und ihre grundsätzlich orthogonalen Ausrichtung so zu erweitern, dass er das »politische Gemeinwesen« umfassen könnte, mit anderen Worten: sein heilsames Potenzial auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten – darauf, wie z. B. die USA innen- und außenpolitisch tatsächlich handeln, im Gegensatz zu ihrer Rhetorik – und auch auf ein paar zentrale Herausforderungen, vor denen unsere Spezies (das begann sie allmählich zu erkennen) damals stand und heute, in diesem Moment, nicht weniger steht.

      Dieses Buch ist der optimistische Versuch einer Begründung, warum es für uns menschliche Wesen dringend geboten ist, das Objektiv der Achtsamkeit sowie ihre Kultivierung14 in die Welt hinauszutragen, in die Welt des ganzen Planeten. Wenn wir das tun, haben wir nämlich einen viel besseren Bezugsrahmen, um die Krankheiten unserer Gesellschaft akkurat zu diagnostizieren und angemessen zu behandeln, sowohl die offen zutage tretenden wie auch das unterschwellige, sich durch alles ziehende »Un-Wohlsein« (siehe Band 1, Teil 2), an dem sie leidet. Zu den offen zutage tretenden Krankheiten gehört die unwiderlegbare Tatsache, dass die Aktivität unserer Spezies es geschafft hat, den Planeten in ein Fieber zu treiben, das das Leben im Laufe der nächsten Generationen für fast alle potenziell unendlich viel härter, ja unerträglich machen könnte, wenn nicht irgendwelche radikalen, ja wundersamen planetenweiten sozialen, technischen und staatlichen Innovationen größeren Ausmaßes kommen (zusammen mit der Zügelung unserer scheinbar endlosen Sucht nach Wachstum).

      Aber Lernen, Wachsen, Gesund-Werden, Transformation kommen in ihrer entscheidenden Form nicht von der Technik oder dem Staat. Sie können nur aus unser aller Kapazität als menschliche Wesen kommen, für unsere missliche Lage wach zu werden, aber auch für unser Potenzial zur Einsicht: Einsicht in unsere Situation und in die inneren wie äußeren Ressourcen, die uns als Spezies zur Verfügung stehen, um das, was ungesund und oft von Gier getrieben ist, zugunsten von etwas Gesünderem und Mitfühlenderem aufzugeben. Und aus dieser Einsicht heraus diese Ressourcen zu mobilisieren, um zu heilen statt Schaden anzurichten. Wir müssen, jede Einzelne und jeder Einzelne von uns, mit dem vollen Spektrum unserer multiplen Intelligenzen – somatisch, intuitiv, begrifflich, emotional, sozial, global –, das frontal angehen, was unsere frühreife Spezies seit dem Beginn der industriellen Revolution angerichtet hat (es ist nur ein paar Menschenalter her): das Schöne wie die Schattenseiten.

      *

      Wie Sie sehen werden, habe ich mich beim vorliegenden Band bewusst dafür entschieden, das Material nicht – um aktuelle Beispiele unterbringen zu können – völlig neu zu schreiben. Stattdessen habe ich hie und da dem Text einen leichten Dreh verpasst und Ergänzungen eingefügt, um auf den neuesten Stand zu kommen. Die meisten Beispiele sind mittlerweile historisch. Und doch wieder nicht! Wir sehen ja, wie dieselben Themen und Tendenzen, die schon Anfang der 2000er-Jahre sichtbar waren, als das Buch geschrieben wurde – ja sogar schon vorher –, sich auch heute immer wieder neu abspielen. Wie wir die Welt in diesem Moment behandeln, hängt – wie immer – in großem Maße davon ab, durch welche Brille wir sie sehen und welche Zuschreibungen wir benutzen, um sie zu verstehen. Wir sehen, wie Zwietracht sich in nie dagewesenem Maße breitmacht, und doch auch in immer dagewesenem Ausmaß. Nur sind die Technologien dafür schneller und umfassender, weil wir global vernetzte Supercomputer in unseren Hand- und Hosentaschen haben, aber die Grundelemente des Kampfes unserer Spezies bleiben die gleichen.

      Ich hoffe, dass Sie durch die Brille dieser Seiten die Welt sehen werden, wie sie heute ist, und auf Ihre eigene Art erkennen, was nötig wäre, das Leben, das Ihnen gehört, im derzeitigen Klima (Wortspiel beabsichtigt) voll und ganz zu leben – und was nötig wäre, um das für alle zu gewährleisten. Wenn wir das Un-Wohlsein der menschlichen Grundsituation medizinisch betrachten – all das berücksichtigend, was Medizin und Wissenschaft im Laufe der letzten vierzig Jahre über die Geist-Körper-Beziehung, Neuroplastizität, Epigenetik, Telomere und Zellalterung dazugelernt haben, aber vielmehr noch über Achtsamkeit, Gesundheit und Wohlbefinden, öffentliche Gesundheitsfürsorge und die Umwelt (siehe Band 3) –, so haben wir vielleicht eine Chance, unsere Lage mit viel größerer Genauigkeit zu diagnostizieren als in der Vergangenheit. Und als Folge davon die Chance, die Motivation und das Durchhaltevermögen zu finden und zu bewahren, einen der Größenordnung dessen, was uns plagt, angemessenen Therapieplan zu verwirklichen. In diesem Prozess haben wir die Gelegenheit, die Unversehrtheit unseres Wesens und unsere ursprüngliche Schönheit als menschliche Wesen zu ent-decken und neu zu gewinnen. Das ist nicht nur befriedigend – es lässt tiefe Einsichten entstehen und damit echte Kraft.

      *

      Als elementare »Zellen« des politischen Gemeinwesens und des blühenden Lebens auf diesem Planeten zählt jede(r) Einzelne von uns, und unsere Bemühungen, im eigenen Leben und in der Fülle unserer vielfältigen Beziehungen Achtsamkeit zu kultivieren und zu verkörpern (und dadurch Herzerfülltheit und Herzensgüte), könnten das entscheidende Element sein – und am Ende tatsächlich den Unterschied ausmachen –, wie sich die Dinge im Laufe der nächsten Momente, Jahre und Generationen entwickeln.

      Es gibt Grund zum Optimismus. Wie mein verstorbener Schwiegervater Howard Zinn, Historiker, Lehrer und Aktivist für Bürgerrechte und Friedensarbeit, es ausdrückte:

      »Wir müssen keine großartigen heroischen Taten vollbringen, um am Prozess des Wandels mitzuwirken. Kleine Handlungen, wenn sie sich durch Millionen von Menschen multiplizieren, können die Welt verwandeln. In schlimmen Zeiten Hoffnung zu haben ist keine naive Romantik. Es beruht auf der Tatsache, dass die Geschichte des Menschen nicht nur eine Geschichte der Grausamkeit ist, sondern auch eine von Mitgefühl, Opferbereitschaft, Mut, Güte. Unsere Entscheidung, worauf wir in dieser komplexen Geschichte Wert legen wollen, wird unser Leben bestimmen. Wenn wir nur das Schlimmste sehen, zerstört das unsere Fähigkeit, etwas zu unternehmen. Wenn wir uns an die Zeiten und Orte erinnern – von denen es so viele gibt! –, an denen Menschen sich hervorragend verhalten haben, gibt uns das die Energie zum Handeln und zumindest die Chance, diese dahintaumelnde Welt in eine andere Richtung zu lenken.

      Und wenn wir tatsächlich handeln, so klein unsere Geste auch sein mag, müssen wir nicht auf die große utopische Zukunft warten. Die Zukunft ist eine unendliche Folge von Gegenwarten, und jetzt so zu leben, wie wir denken, dass menschliche Wesen leben sollten, allem Schlechten um uns herum zum Trotz: Das ist an sich schon ein wunderbarer Sieg.«15

      *

      Möge Ihre Achtsamkeitspraxis wachsen und blühen und Ihr Leben, Ihre Arbeit, Ihre Berufung auf dieser Welt Moment für Moment, Tag für Tag bereichern. Möge die Schönheit der Welt Sie in guten und in schlechten Zeiten tragen und Sie daran erinnern, wer Sie wirklich wirklich wirklich wirklich sind, und was lebendig zu halten und zum Blühen zu bringen am wichtigsten ist, solange man die Möglichkeit dazu hat.

      Mögen Sie in Schönheit wandeln, wie die Navajos zu sagen pflegen, und mögen Sie erkennen, dass Sie es bereits tun – und immer getan haben. Und mögen Sie unterwegs das pflegen, was in der Welt gepflegt werden muss, mit sorgsamer Güte.

      Jon Kabat-Zinn

      Northampton, Massachusetts

      26. Oktober 2018

      1 Homo sapiens sapiens: Die Spezies, die Bewusstsein besitzt und sich dessen bewusst ist; aus dem lateinischen »sapere«, »schmecken« oder »wissen« (vgl. auch Band 1 dieser Reihe: »Meditation ist nicht, was Sie denken«, Seite 221).

      2 Wenn Sie das Wort »Dharma« nicht kennen,


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