Im Einklang leben. Richard Stiegler
Egos zum SEIN und wieder zurück.
Diese versöhnte Einstellung bringt Entspannung und Annahme mit sich. Wir müssen nichts ausgrenzen und nicht anders oder besser werden, und doch entwickelt sich eine zunehmende Bewusstheit, die innere Freiheit bringt. Das ist die Perspektive des SEINS, das nichts ausgrenzt und alles annimmt. Daher bringt die Versöhnung mit dem Ego eine innere Haltung mit sich, die in Übereinstimmung mit der Haltung des SEINS ist. Dies wird allmählich eine Umwandlung unserer Egostrukturen bewirken, und die Grundhaltungen des SEINS werden mehr und mehr unser Leben durchwirken.
Reflektiere:
Visualisiere dein Ego fantasievoll als innere Gestalt.
Welche Beziehung hast du zu dieser Person?
Was würde sich ändern, wenn du eine liebevolle, verständnisvolle Beziehung wie eine gute Mutter dazu aufbauen könntest?
1.4 Präsenz und ihre Wirkung
Präsenz ist eine Kraft. Die Kraft des SEINS. Obwohl diese Kraft nicht materiell ist und wir sie nicht anfassen oder sehen können, können wir sie doch unmittelbar erfahren. Sie kann eine große Wirkung in unserem Leben entfalten und auf andere Menschen spürbar einwirken.
Sind wir mit Präsenz in Kontakt, fühlen wir uns belebt und ganz wach. Wir sind auf eine natürliche und entspannte Weise aufmerksam und gegenwärtig. Doch Präsenz ist mehr als Gegenwärtigsein. Wir können vollkommen gegenwärtig einem Vogelgesang lauschen, ohne Präsenz zu erfahren. Plötzlich kann es jedoch geschehen, dass sich beim Lauschen auf den Vogel der Moment verdichtet und eine besondere Intensität des Augenblicks entsteht. Wir spüren das SEIN, unsere Existenz.
Die Intensität des SEINS
Präsenz ist verdichtetes SEIN. Die Erfahrung unserer Existenz. Sie ist eine Kraft, die intensiv und erfüllend gleichzeitig ist. Der Moment kann sich auf eine Weise verdichten, dass wir eine immaterielle Substanz spüren, die in uns oder um uns herum spürbar wird. Diese Substanz kann sich realer anfühlen als unser materieller Körper und doch ist sie keine Materie, sondern verdichtetes formloses SEIN.
Die meisten Menschen kennen diese Art von Erfahrung und lieben ihre Intensität, ohne sich allerdings dessen bewusst zu sein, was die Ursache dieser Kraft ist. Denn trotz ihrer Intensität und Dichte ist sie immateriell und subtil. Präsenz ist kein greifbares Objekt wie andere Erfahrungen und so bleibt sie oft unerkannt im Hintergrund unseres Erlebens.
Es gibt viele Beispiele dafür, wie Menschen Präsenz erfahren und diese Intensität immer wieder aufsuchen, ohne sich dessen bewusst zu sein, welche Kraft sie in diesen Momenten erfüllt. Ich denke zum Beispiel an Sportler. Durch die große körperliche Anstrengung kann man im Sport aus dem Denken aussteigen und es kann sich dadurch ein erfüllender Moment des SEINS ereignen. Hier eröffnet sich uns die Kraft der Präsenz. Meist denken wir aber, dass der Grund für diese Erfüllung der Sport ist. Sport ist hier aber nur das Gefährt, das Hilfsmittel, um mit Präsenz in Kontakt zu kommen. Die eigentliche Erfüllung ist die Intensität der Präsenz, die in diesen Momenten erfahren wird.
Wo wir diesen Vorgang der Verwechslung noch beobachten können, ist bei Kriegsveteranen. Wie oft erzählen alte Männer häufig mit leuchtenden Augen vom Krieg. Warum tun sie das? Weil diese Erfahrung so schön war? Bestimmt nicht. Krieg ist immer schrecklich und konfrontiert alle Menschen mit Angst und Schmerz. Gleichzeitig werden Menschen aber in Kriegszeiten aus der gewohnten Welt herausgerissen und erfahren eine Intensität, die sie danach in der Routine des Alltags oft vermissen. Diese Intensität entspringt der Kraft der Präsenz. Männer, die im Krieg waren, haben diese Intensität im Krieg erfahren, also sprechen sie gerne vom Krieg. Es waren die dichtesten Momente ihres Lebens.
Alle Lebenskrisen haben das Potenzial, uns aus unserer Gewohnheit und unseren Gedankenmustern herauszureißen und uns in Kontakt mit Präsenz zu bringen. Obwohl wir diese Krisen oft als schmerzhaft erleben, erfahren wir doch eine Lebensintensität dabei, an die wir uns gerne immer wieder erinnern. Denn an was erinnern wir uns, wenn wir zurückschauen? An Momente der Intensität, sei es durch eine Liebesbegegnung, durch einen Verlust oder eine eindrückliche Reise. Wenn wir uns erinnern, schauen wir jedoch immer nur auf die Begleitumstände dieser Momente. Die Situation und die Umstände sind uns bewusst, aber nicht die Präsenz selbst.
Das führt oft dazu, dass wir versuchen, die Umstände zu wiederholen, um diese nährende Präsenz wieder zu erfahren. Wir planen wieder eine Reise ans Meer oder machen regelmäßig intensiv Sport. Im Extremfall entwickeln wir sogar eine Art Sucht nach der Situation, die uns Präsenz vermittelt hat und suchen sie immer und immer wieder auf. Wie wir wissen, ist dies keine Garantie dafür, dass wir Präsenz erneut erfahren, da letztlich nicht die Situation die Intensität erzeugt, sondern unser Geisteszustand in dieser Situation. Wir verwechseln Ursache und Wirkung.
Würden wir jedoch klar erkennen, dass die Intensität eine Frucht unseres Aufmerksamseins ist, hätten wir die Freiheit, in jedem Augenblick unseres Lebens größere Präsenz zu erfahren, indem wir uns auf das SEIN selbst ausrichten. Ob im Büro, in der Hängematte oder beim Sport, wir könnten uns an das SEIN erinnern und davon kosten, indem wir in ein ungerichtetes Lauschen eintauchen. Die Intensität von Präsenz, dieses intensive Lebendigsein, das wir so sehr lieben und das wir oft in der Alltagsroutine vermissen, könnte uns dann unabhängig von den aktuellen Lebensumständen von innen her nähren.
Reflektiere:
Welches waren Momente oder Phasen deines Lebens, in denen du am meisten Intensität erfahren hast?
Auf welche Weise suchst du nach Intensität in deinem Leben?
Welche äußeren Mittler (z. B. Sport, Reisen,…) zu Präsenz kennst du?
Erinnere dich an eine Situation von dichter Präsenz und erforsche die Präsenz selbst.
Sinn und Routine
Immer wieder beginnt die Lebensroutine die Kraft der Präsenz zu überdecken. Wir werden gleichsam eingelullt durch die Funktionalität des Alltags und das ewig kreisende Gedankenkarussell in unserem Kopf. Nichts kann uns die Frische und das Lebendigsein von Präsenz mehr verstellen als die alltäglichen Gewohnheiten unseres Lebens.
Dabei sind unsere Gewohnheiten nicht nur wichtig und hilfreich fürs Überleben, wir mögen sie auch. Sie vermitteln uns Halt und Sicherheit. Allerdings verleitet jede Gewohnheit dazu, weniger aufmerksam zu sein. Je automatischer wir agieren, desto reibungsloser läuft das Muster ab und wir benötigen nur noch wenig Aufmerksamkeit dafür. Das führt dazu, dass wir die Dinge, die uns ständig umgeben, kaum mehr wahrnehmen.
Gewohnheit frisst Aufmerksamkeit. Und so kann eine Phase unseres Lebens, in der alles glattläuft und unser Leben wie ein geruhsamer Fluss dahinfließt, sich zwar sehr angenehm und sicher anfühlen, aber mit der Zeit vermissen wir Lebensintensität und Sinn. Eine gähnende Öde und Sinnlosigkeit kann sich ausbreiten. Langeweile, Interesselosigkeit, Unzufriedenheit, Energielosigkeit, Wertlosigkeit und Schwermut sind typische Folgen eines längeren Mangels an Präsenz. Das alles sind Symptome einer unterschwelligen Sinnlosigkeit. Diese kann uns beschleichen, obwohl auf der Oberfläche unseres Lebens alles in Ordnung ist und wir vielleicht sogar äußerlich erfolgreich sind.
Der Grund dafür ist, dass das Gefühl von Sinn nicht davon abhängt, ob wir etwas Sinnvolles tun, sondern ob wir mit Lebensintensität – mit Präsenz – in Kontakt sind oder nicht. Fühlen wir dieses frische unmittelbare Lebendigsein, fragen wir uns nicht mehr nach dem Sinn des Lebens. Wir fühlen ihn, unmittelbar.
Doch wenn wir die Ursache unseres Mangels und unserer Sinnlosigkeit sowie den Zugang zu Präsenz nicht kennen, gehen wir im Außen auf die Suche nach der verlorengegangenen Intensität. Viele Menschen suchen dann zum Beispiel Abwechslung und Aufregung in Funparks oder Freizeitaktionen. Wir versuchen durch spektakuläre Aktionen unsere innere Langeweile zu überdecken. Vielleicht ist es symptomatisch für die funktionale westliche Welt, in der das Empfinden für wahren Sinn immer mehr verloren geht, dass im gleichen Maße unsere Unterhaltungsindustrie zu immer drastischeren Mitteln greifen muss, um uns immer wieder für kurze Zeit eine Lebensintensität zu vermitteln. Unsere Rummelplätze werden immer spektakulärer und unsere Filme