MIND. Daniel Siegel

MIND - Daniel Siegel


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wer ist es, der weiß, dass ich Sie mit „hallo“ begrüßt habe?

      Und wie wissen Sie es?

      Und was heißt „wissen“ wirklich?

      In diesem Buch werden wir die Natur des Wer, Wie, Was, Warum, Wo und Wann des Geistes, Ihres Geistes, Ihres Selbst beziehungsweise Ich, der Erfahrung, die Sie haben, die Ihnen sagt, dass ich Sie mit hallo begrüße, erforschen.

      Manche verwenden den Begriff Geist, wenn Sie Intellekt und Logik meinen, das Denken und Schlussfolgern, Geist und Herz oder Geist und Emotion gegenüberstellen. Dies entspricht nicht der Art und Weise, wie ich den breitgefächerten Begriff Geist hier oder in anderen Schriften verwende. Mit Geist meine ich vielmehr alles, was sich auf unsere subjektiv empfundene Erfahrung bezieht, lebendig zu sein, von den Gefühlen bis zu den Gedanken, von den intellektuellen Ideen bis zu den inneren sensorischen Immersionen vor und unterhalb der Worte, zu unseren empfundenen Verbindungen mit anderen Menschen und unserem Planeten. Und Geist bezieht sich auch auf unser Bewusstsein, die Erfahrung, die wir haben, dieses Lebensgefühls gewahr zu sein, die Erfahrung, innerhalb des Gewahrseins zu wissen.

      Der Geist ist die Essenz unserer grundlegenden Natur, unser tiefstes Gefühl, lebendig zu sein, hier, genau jetzt, in diesem Augenblick.

      Doch jenseits des Bewusstseins und seines Wissens innerhalb des Gewahrseins unseres subjektiven Gefühls, lebendig zu sein, könnte Geist auch einen weiteren Prozess umfassen, nämlich einen, der uns miteinander und mit der Welt verbindet. Dieser bedeutende Prozess ist eine Facette des Geistes, die schwer zu messen sein dürfte, die aber nichtsdestoweniger einen zentralen Aspekt unseres Lebens darstellt, das wir auf der bevorstehenden Reise tiefgründig erforschen werden.

      Obgleich wir diese Facetten unseres Geistes im Kern unserer Erfahrung, hier in diesem Leben zu sein, nicht zahlenmäßig quantifizieren dürften, sind dieses im Inneren gefühlte subjektive Phänomen und die Arten und Weisen, wie wir unsere Verbindungen untereinander und mit der Welt empfinden, subjektive Phänomene, die real sind. Manche nennen dies unsere Essenz, unser Wesen. Manche bezeichnen es als unseren Kern, unsere Seele, unseren Geist oder unsere wahre Natur.

      Ich nenne dies einfach Geist.

      Ist Geist lediglich ein Synonym für Subjektivität – das Wahrnehmen unserer Emotionen und Gedanken, Erinnerungen und Träume, der inneren Wahrnehmung und des Vernetzseins? Wenn Geist auch unsere Art und Weise einschließt, des inneren Gefühls gewahr zu sein, von Augenblick zu Augenblick zu leben, würde Geist zudem die Erfahrung namens Bewusstsein umfassen, unsere Art und Weise, des Wissens gewahr zu sein, was diese Aspekte unseres subjektiven Lebens sind, wenn sie sich entfalten. Daher ist Geist zumindest ein Begriff, der Bewusstsein und die Modalität einschließt, in der wir unserer gefühlten Erfahrung, unseres subjektiven Lebens gewahr werden.

      Aber etwas geschieht auch unterhalb des Gewahrseins, das etwas umfasst, was wir für gewöhnlich desgleichen als Geist bezeichnen. Dies sind unsere nicht-bewussten mentalen Prozesse, wie etwa unsere Gedanken, Erinnerungen, Emotionen, Glaubensinhalte, Hoffnungen, Träume, Sehnsüchte, Einstellungen und Absichten. Manchmal sind wir uns deren gewahr, manchmal auch nicht. Obgleich wir uns dieser zeitweilig nicht gewahr sind, vielleicht sogar die meiste Zeit über, sind diese mentalen Aktivitäten, die unbewusst geschehen, real und beeinflussen unsere Verhaltensweisen. Diese Aktivitäten können als ein Teil unseres Denkens und Schlussfolgerns betrachtet werden, als ein Prozess, der es ermöglicht, dass „Informationen“ fließen und sich transformieren. Und ohne Gewahrsein könnte es sein, dass diese Informationsflüsse keine subjektiven Gefühle erwecken, insofern sie kein Teil der bewussten Erfahrung sind. So können wir sehen, dass jenseits von Bewusstsein und seines Gewahrseins subjektiver Erfahrung der Begriff Geist auch den fundamentalen Prozess subjektiver Informationsverarbeitung umfasst, der nicht von unserem Gewahrsein abhängt.

      Doch was bedeutet der Geist als Verarbeiter von Informationen wirklich? Was sind Informationen? Wenn Informationen steuern, wie wir Entscheidungen treffen und Verhaltensweisen auslösen, wie befähigt uns der Geist dazu, ob bewusst oder nicht, willentliche Entscheidungen über das, was zu tun ist, zu treffen? Verfügen wir über einen freien Willen? Wenn der Begriff Geist Aspekte von Subjektivität, Bewusstsein und Informationsverarbeitung umfasst, inklusive seiner problemlösenden und verhaltensmäßigen Kontrolle, was macht die Essenz dessen aus, was Geist ist? Was ist dieses „Geist-Zeug“, das ein Teil dieses Spektrums mentaler Prozesse ist, von dem empfundenen Gefühl bis zur ausführenden Kontrolle?

      Angesichts dieser bekannten Beschreibungen des Geistes, die Bewusstsein, subjektive Erfahrung und Informationsverarbeitung sowie die Art und Weise umfassen, wie sie sich so manifestieren, dass sie einem vertraut sind, einschließlich Gedächtnis und Wahrnehmung, Gedanken und Emotionen, Schlussfolgerungen und Glaubensinhalte, das Fällen von Entscheidungen und das Verhalten – was können wir über das sagen, was diese wohlbekannten mentalen Aktivitäten zusammenbindet? Wenn Geist die Quelle von allem ist, von Sinneseindrücken und Gefühlen bis zu Gedanken und dem Auslösen von Aktionen, warum werden all diese unter dem Begriff Geist subsumiert? Was können wir über das Wesen des Geistes sagen?

      Geist als ein Begriff und Geist als eine Einheit oder ein Prozess kann als ein Substantiv oder als ein Verb angesehen werden. Als ein Substantiv hat Geist die Bedeutung eines Objektseins, von etwas Stabilem, von etwas, das Sie in Ihren Händen halten könnten, etwas, das Sie besitzen. Sie haben einen Geist und er ist Ihr Geist. Aber was hat es mit diesem substantivhaften Geist tatsächlich auf sich? Als ein Verb ist Geist ein dynamischer, ständig stattfindender Prozess. Geist ist voller Aktivität, entfaltet sich mit unaufhörlichem Wandel. Und wenn der verbhafte Geist tatsächlich ein Prozess ist, was ist diese „dynamische Sache“, diese Aktivität Ihres mentalen Lebens? Was hat es wirklich mit diesem Geist, ob im Sinn eines Verbs oder Substantivs, auf sich?

      Manchmal hören wir von einer Beschreibung des Geistes als eines „Informationsverarbeiters“ (Gazzaniga, 2004). Dies deutet im Allgemeinen auf die Art und Weise hin, in der wir Vorstellungen von Ideen oder Dingen haben und sie dann transformieren, Ereignisse erinnern, indem wir sie verschlüsseln, abspeichern und die Erinnerung abrufen und von der Wahrnehmung zur Überlegung und zum Handeln übergehen. Jede dieser Formen von Geistesaktivität ist Teil der Informationsverarbeitung des Geistes. Was mich in meiner Eigenschaft als Wissenschaftler, Lehrer und Arzt fasziniert hat, mich mit dem Geist über fünfunddreißig Jahre zu beschäftigen, ist die Tatsache, dass diese Beschreibungen des Geistes zwar stark verbreitet sind, aber eine Definition dessen, was der Geist tatsächlich ist – eine klare Sicht der Natur des Geistes jenseits der Auflistungen seiner Funktionen –, von einem breiten Spektrum an Fachgebieten, die sich mit dem Geist befassen, von der klinischen Praxis und Lehre bis zur wissenschaftlichen Forschung und Philosophie, fehlt.

      Als Fachmann für mentale Gesundheit (Psychiater und Psychotherapeut) habe ich mich gefragt, wie dieser Mangel einer Arbeitsdefinition für das, was der Geist tatsächlich ist, unsere Effektivität als Kliniker begrenzt. Mit einer Arbeitsdefinition könnten wir arbeiten und diese im Bedarfsfall im Abgleich mit Daten und unseren persönlichen Erfahrungen anpassend verändern. Eine Definition würde bedeuten, dass wir klar angeben könnten, was die Essenz des Geistes bedeutet. Wir hören das Wort Geist so oft, bemerken aber meist nicht, dass wir dazu keine klare Definition haben. Ohne eine klare Arbeitsdefinition von Geist in der Fachwelt der Wissenschaft, der Lehre und der Medizin und auch ohne eine Definition innerhalb des persönlichen und familiären Lebens zu haben, fehlt – zumindest in meinem eigenen Geist – etwas im Hinblick auf unser Verständnis und unser Gespräch über den Geist.

      Mit bloßen Beschreibungen allein und ohne wenigstens den Entwurf einer Arbeitsdefinition von Geist, wie könnten wir da definieren, was einen gesunden Geist ausmacht?

      Lassen Sie uns sehen, wohin uns das führt, wenn wir auf der Ebene der Beschreibung bleiben und Geist als Produkt aus Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen, Bewusstsein und subjektiver Erfahrung betrachten. Wenn Sie beispielsweise einen Augenblick lang über Ihre Gedanken reflektieren, was macht Ihr Denken dann wirklich aus? Was ist ein Gedanke? Sie könnten sagen: „Nun, Dan, ich weiß, dass ich denke, wenn ich Worte in meinem Kopf wahrnehme.“ Und ich könnte Sie dann fragen, was es heißt,


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