MIND. Daniel Siegel

MIND - Daniel Siegel


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sie nicht Teil ein und des gleichen Wesens sein? Gibt es einen Weg, ein System ausfindig zu machen, aus dem der Geist entstehen könnte, ein System, das verkörpert und relational sein könnte, eine Sichtweise, welche die innere neuronale und die interpersonelle soziale Sichtweise umschließt?

      Zusammengefasst scheint unserem Gefühl nach die Auffassung, dass „der Geist das ist, was das Gehirn macht“, nicht die ganze Wahrheit zu sein. Wir müssen unseren Geist für das offen halten, was den Geist in seiner reichen Komplexität ausmacht. Subjektivität ist kein Synonym für Gehirnaktivität. Bewusstsein ist kein Synonym für Gehirnaktivität. Unser zutiefst relationales mentales Leben ist kein Synonym für Gehirnaktivität. Die Wirklichkeit des Bewusstseins und seine innere subjektive Textur und die interpersonelle soziale Natur des Geistes laden uns zumindest dazu ein, jenseits des Schwirrens neuronaler Aktivität innerhalb des Schädels, als der vermeintlich ganzen Geschichte vom Wesen des Geistes, zu denken.

      Ich verstehe, dass dieser Zugang zum Geist sich von den vorherrschenden Sichtweisen der Mehrheit moderner Akademiker in der Psychologie, Psychiatrie und den Neurowissenschaften und von vielen zeitgenössischen Klinikern in den Bereichen der Medizin und der mentalen Gesundheit unterscheiden dürfte. Mein eigener zweifelnder Geist bereitet mir Sorgen im Hinblick auf diese Vorschläge.

      Meine wissenschaftliche Ausbildung verpflichtet mich trotzdem dazu, diesen Fragen mit einem offenen Geist zu begegnen, und Optionen nicht vorzeitig auszuschließen. Meine Ausbildung als Arzt und Psychiater und meine Erfahrung als Psychologe seit über 30 Jahren haben mir gezeigt, dass der Geist jener, mit denen ich zusammengearbeitet habe, über den Schädel, ja, über die Haut hinausgeht. Der Geist ist in uns – innerhalb des ganzen Körpers – und er ist zwischen uns. Er ist zwischen unseren Verbindungen untereinander und sogar zwischen den Verbindungen, die wir zu unserer weiteren Umgebung, unserem Planeten haben. Die Frage, was das Wesen unseres mentalen Lebens wirklich sein könnte, ist für die Forschung offen. Das Wesen des Geistes bleibt, von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen, immer noch ein nicht gelöstes Problem.

      Das Ziel dieses Buches ist es, ein umfassenderes Verständnis dessen, was der Geist ist, in einer unmittelbaren und umfassenden Art und Weise zu eröffnen und anzugehen.

      Meine Einladung an Sie besteht darin, sich im Hinblick auf diese Fragen im weiteren Verlauf einen offenen Geist zu bewahren. Diese Reise zum Wesen des Geistes könnte es erforderlich machen, dass wir, wenn wir uns tiefer in diese Ideen versenken, unsere eigenen Glaubensinhalte über den Geist überprüfen. Werden wir zu neuen Sichtweisen gelangen, die für Ihr eigenes Leben von Wert sind? Ich hoffe es, aber Sie werden sehen, was sich ergibt, wenn wir auf unserer bevorstehenden Reise vorankommen. Indem wir uns zusammen auf diese Erkundungsreise machen, könnten wir am Ende mehr Fragen als Antworten erhalten. Doch hoffentlich wird die Erfahrung beim Erforschen des Wesens des Geistes eine erleuchtende sein, selbst wenn wir uns darüber nicht einig werden oder zu letzten Antworten kommen.

      Aus diesen und vielen anderen Gründen werden wir Erkundungen anstellen; wir könnten uns im Hinblick auf diese Frage nach dem Wesen des Geistes wünschen, einen offenen Geist zu bewahren – was immer dieser Geist letzten Endes auch offenbart und wo immer er sich zeigt. Dieses Gefühl, dass es mit dem Geist etwas mehr auf sich haben könnte, dass er mehr als eine bloße innerhalb des Schädels stattfindende Gehirnaktivität ist, soll das Gehirn nicht ersetzen, es vielmehr ergänzen. Wir verwerfen die Errungenschaften der modernen Wissenschaft nicht; wir erforschen sie tiefgehend, respektieren sie vollauf und erweitern sie möglicherweise, um eine umfassendere Wahrheit über das Wesen des Geistes aufzuzeigen. Wir eröffnen den Dialog auf eine wissenschaftliche Art und Weise, laden zur Erforschung des Geistes alle ein, einschließlich die Akademiker, Kliniker, Lehrer, Schüler, Eltern und jeden, der sich für den Geist und die mentale Gesundheit interessiert. Der Zweck dieser Reise ist es, hoffentlich Diskussionen auszudehnen, Einsichten zu vertiefen und das Verständnis zu erweitern.

      Die Diskussion über Geist und mentale Gesundheit wird uns hoffentlich in die Lage versetzen, die Erforschung effektiver zu betreiben, die klinische Arbeit zu konzeptualisieren und zu leiten, Erziehungsprogramme zu erstellen, das Familienleben zu inspirieren, unser Verständnis unserer individuellen Lebenswege zu vertiefen und sogar die Gesellschaft zu formen. Die Erforschung hat das Potenzial, unser persönliches Leben zu stärken, das Wesen unseres Geistes zu erleuchten und uns aufzuzeigen, wie wir mehr Wohlbefinden in unserem Lebensalltag kultivieren könnten.

      Unser modernes Leben überflutet uns häufig mit Informationen, bombardiert uns in digitaler Manier, verbindet uns aber auch rund um den Globus; während wir als eine moderne menschliche Spezies zugleich zusehends isoliert und verzweifelt, überwältigt und allein sind. Wer sind wir? Und was wird aus uns, wenn wir die Konsequenzen der Art und Weise, wie Energie und Informationen unser Leben überfluten, nicht gewissenhaft berücksichtigen? Jetzt ist es bedeutender denn je, dass wir den Kern menschlichen Lebens erkennen, das, was der Geist ist, und lernen, wie wir die Essenz mentaler Gesundheit kultivieren – dass wir wissen, was Wesentlich ist, um einen gesunden Geist zu schaffen.

      Eine mögliche Strategie könnte darin bestehen, einfach ein neues Wort anstelle von Geist zu prägen und dann diesen neuen Begriff zu verwenden, um zu klären, woher und wie unsere interpersonellen Verbindungen und unser verkörpertes Leben, unsere subjektive Erfahrung, unser inneres Wesen, unser Gefühl für Zweck und Bedeutung und unser Bewusstsein jeweils zustande kommen und sich bilden. Wie würden Sie die wesentlichen Grundzüge unseres Lebens benennen, wenn Sie nicht den Terminus Geist verwendeten?

      Einen anderen Begriff zu finden, der einen Prozess symbolisiert, der sich von „Geist ist gleichbedeutend mit Gehirnaktivität“ unterscheidet, ist ein möglicher Zugang. Und vielleicht ist dies eine angemessene Lösung. Aber diese Erforschung ist mehr als eine bloße semantische Diskussion über Begriffe, Definitionen und Interpretationen. Wenn der Geist ein Begriff für die Bedeutung unseres Wesens ist, für das Herz dessen, was beziehungsweise wer wir sind, lassen Sie uns sehen, ob wir jene Bedeutungen des Terminus „Geist“ bewahren und zugleich erkennen können, was es mit diesem Geist, dem Herz unseres Menschseins, wirklich auf sich hat. Wie wär’s mit diesem Vorschlag?

      Wir gebrauchen den Begriff „Gehirnaktivität“, um uns auf das neuronale Feuern zu beziehen. So stellen wir fest, was es ist. Neuronale Aktivitäten finden innerhalb des Schädels statt, innerhalb des Gehirnes im Kopf. Dann können wir die Wirklichkeit des Geistes in seiner ganzen Fülle frei erkunden, ohne die häufigen Argumente, die ich gehört habe, heraufzubeschwören, wie z. B., dass dieser Versuch, eine breitere Sichtweise zu erforschen, die „Wissenschaft verdreht“, weil behauptet wird, dass der Geist mehr als Gehirnaktivität sei. Selbst wenn der Geist völlig von der Gehirnaktivität abhängt, heißt das noch lange nicht, dass Geist das Gleiche wie Gehirnaktivität ist.

      Für den Augenblick, jetzt am Beginn unserer Reise, lassen Sie uns am Geist als unserem Begriff festhalten und sehen, wie es funktioniert. Wir können auf neue linguistische Erklärungen später zurückkommen, wenn wir uns dazu entscheiden. In unserer Alltagssprache, zwischen Ihnen und mir sollten wir entlang dieses Weges darin übereinkommen, dass Geist die breite Bedeutung von etwas haben wird, dem zeitweilig ein Gewahrsein mit einer subjektiven Qualität eignet und das von einem Informationsfluss erfüllt ist - mit und ohne Gewahrsein.

      Für den Augenblick benötigen wir keinen anderen Begriff, aber lassen Sie uns in dieser Hinsicht einen offenen Geist bewahren. Und lassen Sie uns erkunden, wie wir die Natur des Geistes klären können, so dass wir sie tief erfassen und seine Funktion und Entwicklung in Richtung Gesundheit vollauf unterstützen können.

      Nach der Überprüfung einer Reihe von akademischen, klinischen und populären Texten wurde deutlich, dass diese kombinierte innere und interpersonelle Natur des Geistes etwas ist, das in wissenschaftlichen, Fach- und öffentlichen Kreisen selten diskutiert wird. Manchmal bildet die innere, manchmal die interpersonelle Natur den Fokus der Aufmerksamkeit, aber nur selten beide. Doch könnte der Geist nicht beides sein? Wenn wir das Wesen des Geistes klar definieren könnten, könnten wir einander kraftvoller helfen, individuell, in den Familien, Schulen und unseren menschlichen Gemeinschaften. Aus diesen


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