Über den Kopf hinaus. Werner Huemer

Über den Kopf hinaus - Werner Huemer


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      Der Begriff „Unterbewusstsein“ ist demgegenüber schwerer zu definieren. Er stammt aus der Psychologie und beschreibt die Summe aller Erinnerungen, Eindrücke und persönlichen Motive, die zwar „irgendwo“ angelegt sind, die auch unsere Absichten oder Entscheidungen beeinflussen können, die aber eben unter der Schwelle unseres Bewusstseins liegen. Einen wissenschaftlichen Beweis für die Existenz eines Unterbewusstseins gibt es nicht, auch kein entsprechendes Hirnareal. Aber ein Teil dessen, was sich unbewusst in unserem Gehirn abspielt, hat offenbar das Potential, für bewusste Gedanken maßgeblich zu werden. Es gibt ja Eigenheiten oder persönliche Unzulänglichkeiten, die wir gern verdrängen, oder belastende Ereignisse, an die wir uns nicht erinnern wollen, die aber trotzdem unsere Entschlüsse beeinflussen. Sie gehören mit zu unserer Persönlichkeit, können sich auch in Empfindungen äußern, werden aber nicht zu bewussten Gedanken.

      „Unbewusst“ oder „unterbewusst“ bedeutet also nicht, dass es keinen Bezug zum Ich gibt. Damit haben wir zu rechnen, wenn wir uns der Frage nach dem Wesen dieses persönlichen Ichs nähern. [Anm.: siehe dazu Kapitel 6]

      Jedenfalls kann bis heute trotz detailliertester Gehirnscans und der jahrzehntelangen Dokumentation außergewöhnlicher neurologischer Krankengeschichten niemand behaupten, er wüsste, wie Bewusstsein entsteht. Immer noch ist das eines der größten Rätsel überhaupt.

      Wir wissen, dass Gedanken und selbst Traumbilder sich aus den Gehirnströmen bis zu einem gewissen Grad „ablesen“ lassen. Wir haben auch gelernt, dass Bewusstsein sich im (gleichgetakteten) neuronalen Feuer zeigt, und dass die krankhafte Beeinträchtigung bestimmter Hirnareale Bewusstseinsleistungen verhindert, so wie umgekehrt durch die Stimulation von Arealen bestimmte Erlebnisse ermöglicht werden können.

      Aber wer erlebt? Die Vermutung, das Gehirn würde ein Ich konstruieren, bleibt eine Theorie. Denn was ist das Wesen des bewussten, ichbezogenen Erlebens überhaupt?

      Für diese wissenschaftlich unbeantwortete Frage wurde ein Fachbegriff geprägt: man spricht von „Qualia“. Damit ist aber nicht etwa die Quälerei angesprochen, die sich Forscher und Philosophen auferlegen, wenn sie nach dem Wesen des Bewusstseins suchen, sondern der Begriff steht für subjektive Erlebnisgehalte und -qualitäten.

      Ein Beispiel aus dem Alltag: Ich schneide mir in den Daumen und erlebe deshalb Schmerz. Körperlich passiert dabei folgendes: Über die Nervenbahnen werden Reize zum Gehirn geleitet, dort verarbeitet, und als Reaktion folgt irgendeine Handlung. Wie kommt es aber zum Erleben des Schmerzes, das noch dazu für jeden Menschen anders ist und auch stark von der momentanen persönlichen Befindlichkeit abhängt? Es gibt nichts physisch Fassbares, demzufolge die Reizverarbeitung ein Schmerzerlebnis nach sich ziehen müsste!

      Dieses kleine Beispiel steht exemplarisch für unser gesamtes Erleben: Es ist noch völlig ungeklärt, in welcher Verbindung neuronale Prozesse im Gehirn mit Qualia, also subjektiven Erlebnisgehalten stehen. Aber ohne Qualia wäre kein persönliches Bewusstsein möglich! Das, was das Leben für uns Menschen lebenswert macht, sind ja immer die subjektiven Erfahrungen; es ist nicht das objektiv messbare Feuerwerk der Neuronen im Gehirn, das auf Computerbildschirmen sichtbar gemacht werden kann.

      In seinem Buch „Rosenrot – oder die Illusion der Wirklichkeit“ (München/Grünwald, 2013) weist der deutsche Philosoph Christian Zippel auch auf einen anderen Aspekt des Begriffs „Qualia“ hin. Diese subjektiven Wahrnehmungen sind demnach „vergleichbar mit einem ‚Icon‘ auf dem Desktop unseres Computers […] schön bunt, leicht erfassbar und unverkennbar“. In Wirklichkeit aber würden Qualia für Programme und „unbewusste Hintergrundinformation“ stehen, die in der Summe unsere Persönlichkeit prägen.

      Doch sieht Zippel auch grundsätzliche Vorbehalte, den Begriff „Qualia“ auf die physikalische Ebene zu reduzieren, denn „die Physik – als Produkt des Bewusstseins – steht nicht über der Wahrnehmung, sondern eher daneben. […] Über etwas zu reden und es selbst zu erleben sind zwei Paar Schuh.“

      Auch wenn die Forschung in den letzten Jahren einige beeindruckende Erkenntnisse über die bewussten und unbewussten Vorgänge im Gehirn gewinnen konnte und neue Begriffe geprägt wurden, um die schwer greifbare Individualität unseres Erlebens doch einer bestimmten Schublade zuzuordnen – die Kluft zwischen subjektiven geistigen Erfahrungen und den objektiv messbaren körperlichen Prozessen blieb immer noch ein Rätsel. Viele zentrale Fragen scheinen weiterhin offen. Nicht nur die große Grundfrage „Was sind Gedanken und wie entsteht Ich-Bewusstsein?“, mit der wir uns noch ausführlicher befassen werden, sondern auch wichtige Detailfragen: Wie kann das menschliche Bewusstsein auf den Körper einwirken? Weshalb gibt es psychosomatische Phänomene wie den Placebo-Effekt? Warum kann der Glaube eines Menschen konkrete Wirkungen entfalten?

      Der Göttinger Gehirnforscher Professor Dr. Gerald Hüther meinte, die Physik habe uns bereits gelehrt, dass wir „mit der alten Trennung – dies ist körperlich und das ist geistig – sowieso nicht weiterkommen“.

      Tatsächlich hat uns die Quantenphysik inzwischen an die Schwelle eines völlig neuen Weltverständnisses geführt – was sich allgemein aber leider noch nicht herumgesprochen hat. Üblicherweise denken wir (und dieses „wir“ umfasst auch viele Wissenschaftler) noch weitgehend in den Kategorien der sogenannten Klassischen Physik, die große Persönlichkeiten wie Galilei, Descartes und Newton im 17. Jahrhundert begründet haben [Anm.: siehe dazu Kapitel 5].

      Diese Physik geht von einem deterministischen, mechanistischen Weltgeschehen aus, von der Vorstellung, dass alles einer linearen Kausalitätskette von Ursache und Wirkung folge und bei genauer Kenntnis der Ausgangsgrößen künftige Gegebenheiten exakt vorausgesagt werden könnten. Außerdem postuliert sie die Auffassung, dass die rein objektive Erforschung eines physikalischen Problems möglich wäre und die forschende Person und deren Bewusstsein keinerlei ungewollten Einfluss auf das experimentelle Ergebnis hätte. Henry Stapp, theoretischer Physiker am „Lawrence Berkely National Laboratory“, Kalifornien, brachte das Credo dieser Physik in einem Interview auf den Punkt: „Die klassische Weltsicht sagt aus, dass bei der Geburt des Universums alles einfach vorherbestimmt wurde und sich seither nur mechanisch vorwärts wälzt.“ („EnlightenNext“, 34/2010) Zudem ist es der Klassischen Physik zufolge möglich, jedes zu untersuchende Objekte zu zerlegen und aus den Einzelteilen das Wesen des Ganzen zu ergründen. Für einen freien Willen, der in das Weltgeschehen hineinwirkt, oder für die Einflüsse eines Bewusstseins, bietet eine solche Weltsicht keinen Platz.

      Durch die Quantenphysik hat sich das geändert. Denn man fand unter anderem heraus, dass in der Welt des Allerkleinsten jede Messung, jede Beobachtung das Messergebnis beeinflusst. Überhaupt scheint die materielle Welt bei der Suche nach den winzigsten Materieteilchen in Nichts zu zerfließen. Irgendwann geht es nur noch um Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, um die Beziehungen oder Wechselwirkungen, die zwischen den Teilchen bestehen. „Die Materie ist nicht aus Materie aufgebaut“, bringt es der bekannte Stuttgarter Quantenphysiker Hans-Peter Dürr in seinem Buch „Auch die Wissenschaft spricht nur in Gleichnissen“ auf den Punkt. Und er formuliert: „Die neue Weltsicht ist im Grunde holistisch, nicht atomistisch: es existiert eigentlich nur das Eine, das Ungetrennte, Untrennbare.“

      Die revolutionäre Vorstellung, dass alles mit allem in Verbindung steht oder dass es einen „Raum von Möglichkeiten“ gibt, aus dem erst unter dem Einfluss von Bewusstsein die konkrete materielle Wirklichkeit „gerinnt“, bedingt einen Paradigmenwechsel der Sonderklasse. Die bisher gültigen, grundlegenden Rahmenbedingungen für wissenschaftliche Theorien sind in Frage gestellt. Wenn man aber bereit dazu ist, dies – wenigstens als Hypothese – zu akzeptieren, tun sich völlig neue Möglichkeiten auf, die Wirkungen von Gedanken und Bewusstsein auf die physische Welt zu erklären.

      Freilich: Diesbezügliche Aussagen bewegen sich nicht immer auf gesichertem Terrain, aber Denkansätze, wie sie beispielsweise der saarländische Biologe und Quantenphilosoph Dr. Ulrich Warnke ins Spiel bringt, sind zweifellos faszinierend.

      Wir werden uns später ausführlicher mit der Geschichte des heute vorherrschenden materialistischen Weltbildes befassen und die kritische Frage stellen, ob es überhaupt noch eine solide


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