Die Weisheit eines offenen Herzens. Thubten Chodron
Probleme wittern, auf eine offenere, gelassenere Haltung umschalten, mit der wir auf Herausforderungen antworten und dennoch die guten Dinge des Lebens genießen können und dankbar dafür sind.
Ich (Russell) habe eine Therapiegruppe in einem Gefängnis aufgebaut, in der wir mit der Compassion Focused Therapy arbeiten. Dieses Programm soll den dort einsitzenden Männern helfen, zu lernen, auf mitfühlende Weise mit ihrer Wut umzugehen. Viele von ihnen gehen mit großen Vorbehalten in die Gruppe, weil sie meinen, Mitgefühl bedeute, schwach und verwundbar zu sein, „ständig nett zu sein“. Aber im Laufe ihrer Teilnahme verändert sich ihre Einstellung zum Mitgefühl dramatisch, wenn sie entdecken, dass Mitgefühl Mut erfordert, den Mut, den Problemen des Lebens und den starken Gefühlen, die manchmal hochkommen, ins Gesicht zu sehen. Es braucht Mut und Engagement, dabei zu bleiben, das Unbehagen auszuhalten, das wir unweigerlich verspüren, wenn wir uns mit diesen Schwierigkeiten auseinandersetzen und lernen, damit zu arbeiten. Mitgefühl ist alles andere als Schwäche.
Und Mitgefühl hat noch weitere Vorteile. Indem uns klar wird, dass wir alle im selben Boot sitzen, hören wir auf, mit dem Finger auf andere zu zeigen oder den Kopf in den Sand zu stecken, und fangen an, einander zu unterstützen. Unser aller Leben ist voller Herausforderungen und wir alle haben manchmal mit intensiven Gefühlen zu kämpfen. Wir können diesen Herausforderungen besser begegnen, wenn wir einander ermutigen. Wenn wir Verantwortung übernehmen, falls wir diejenigen sind, die die Probleme verursachen. Wenn wir uns sicher, angenommen und geschätzt fühlen, sind wir in der Lage, mit den Problemen in unserem Leben umzugehen und verantwortlich auf sie zu reagieren. Das ist ein Geschenk, das wir uns selbst und anderen machen können, ein Geschenk, das dem Gebenden genauso viel gibt, wie dem Empfangenden.
BETRACHTUNG
Drei Schüler und drei Lehrer
Stellen Sie sich vor, drei Schüler versuchten, eine schwierige neue Aufgabe zu bewältigen, wie beispielsweise ein Instrument zu spielen oder ein Mathe-Problem zu lösen. Alle drei haben mit der Aufgabe zu kämpfen. Ein Kind hat einen Lehrer, der es ignoriert und seine Schwierigkeiten gar nicht wahrnimmt. Ein anderes hat einen ungeduldigen Lehrer, der es ständig darauf hinweist, welche Fehler es macht, und es kritisiert. Das dritte Kind hat einen mitfühlenden Lehrer, der es sanft führt und ihm vermittelt, dass diese Aufgabe anfangs schwierig ist, der es aber ermutigt „dranzubleiben“ und der die Fortschritte des Kindes in den Vordergrund stellt. Welches Kind wird die besten Ergebnisse erzielen? Welchen Lehrer würden Sie bevorzugen?1
3 Mitgefühl, wechselseitige Abhängigkeit und universale Verantwortung
Wir alle müssen lernen, miteinander als Brüder und Schwestern zu leben, oder wir werden zusammen als Narren untergehen. Das ist die große Herausforderung der Stunde. Das gilt für Individuen. Das gilt für Nationen. Kein Mensch kann für sich allein existieren. Keine Nation kann für sich allein existieren.
Martin Luther King
Wie Martin Luther King betonte, kann niemand von uns für sich allein existieren, wir alle sind voneinander abhängig. Was müssen wir lernen, um miteinander wie Brüder und Schwestern zu leben? Die Antwort heißt: Mitgefühl. Mitgefühl zu haben heißt, sich um das Leiden der anderen zu kümmern und ihnen zu wünschen, frei vom Leiden und seinen Ursachen zu sein. Mitgefühl ist eng mit der Liebe verbunden, die den Wunsch beinhaltet, dass alle lebenden Wesen Glück und seine Ursachen erfahren mögen.
Es ist sinnvoll, Mitgefühl zu haben. Wenn wir uns nicht um andere scheren, werden wir alle leiden: Entweder, weil unsere Bedürfnisse nicht erfüllt werden, oder weil wir von unglücklichen Menschen umgeben sind – eine Situation, die unser eigenes Leben vergiftet. Aus diesen Gründen rät Seine Heiligkeit der Dalai Lama: „Wenn du egoistisch sein willst, dann sei intelligent egoistisch und hilf anderen.“
Mitgefühl braucht es in allen Bereichen unseres Lebens: auf einer persönlichen Ebene das Mitgefühl für uns selbst, für Freunde und Angehörige, für unsere Kollegen und unseren Chef und sogar für Leute, die uns manchmal lästig sind; auf einer kommunalen Ebene Mitgefühl einer Gruppe für eine andere; auf einer internationalen Ebene Mitgefühl der Bürger einer Nation für die Menschen anderer Nationen. Mitgefühl ist das Gegenteil von und das Heilmittel für unsere übliche Selbstbezogenheit, die uns drängt, das Beste und Meiste für uns selbst herauszuholen, um unser eigenes Glück sicherzustellen. Selbstbezogenheit bringt Schwierigkeiten für die Menschen in unserer Umgebung mit sich, und ihre Probleme stören nicht nur deren Ruhe, sondern auch unsere.
Vor vielen Jahren wollten viele der Bürger der Stadt, in der ich (Chodron) damals lebte, keine höheren Steuern zahlen, um Schulen und außerschulische Aktivitäten für Kinder und Jugendliche zu unterstützen. Sie dachten sich, sie hätten, da ihre eigenen Kinder schon erwachsen waren, keinen Grund, für die Bildung anderer Leute Kinder zu zahlen. Gegen die Verwendung ihrer Steuern für den Bau weiterer Gefängnisse, die sie vor Kriminellen schützen sollten, hatten sie jedoch nichts einzuwenden. Was sie allerdings nicht erkannten, war, dass diese beiden Dinge zusammenhängen.
Wenn Kinder keine gute Bildung erhalten und außerschulische Aktivitäten wie beispielsweise Sport gestrichen werden, kann es leicht passieren, dass sie in die Drogenszene abrutschen. Der Drogenkonsum kostet jedoch Geld, also beginnen manche von ihnen zu stehlen. Die Läden, die sie ausrauben und die Häuser, in die sie einbrechen, gehören oftmals den Leuten, die gegen eine Erhöhung der Einkommensteuer stimmen. Wenn Kinder keinen Zugang zu den Einrichtungen und der Bildung haben, die sie brauchen, und ihre Familien, Schulen und die Gesellschaft im Allgemeinen nicht gut für sie sorgen, hat das negative Folgen für uns alle. Wir sind alle miteinander verbunden.
Wir mögen uns durchsetzen, wenn wir uns nur um uns selbst und die uns nahestehenden Menschen scheren, aber es wird fast immer auf uns zurückfallen, wenn wir andere demütigen und ihr Leid ignorieren. Alle Konflikte und Kriege der Weltgeschichte bezeugen diese Tatsache. Wenn wir also selbst glücklich sein wollen, müssen wir auch das Glück anderer im Blick haben. Anstatt manche Menschen als „Feinde“ zu betrachten, deren Bedürfnisse keine Rolle spielen, können wir zu ihrem Wohlergehen beitragen. Weil wir sie als Menschen achten, ihnen helfen, ihre Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung, Obdach und medizinische Versorgung zu erfüllen, und ihren Wunsch respektieren, akzeptiert zu werden, Liebe und Fürsorge zu empfangen und zu geben und zum Gemeinwohl beizutragen, gibt es keinen Grund für sie, uns feindlich gegenüberzutreten, denn wir haben alles getan, damit sie glücklich sein können und ihr Leiden enden kann. Ein Feind wird zum Freund. In der Geschichte gibt es viele Beispiele dafür, manche sogar aus unserer Zeit. Großbritannien und die USA betrachteten beispielsweise Deutschland und Japan in den 1940er Jahren als Feinde und heute sind diese Länder Verbündete, die gut zusammenarbeiten.
Die Menschen sind heutzutage abhängiger voneinander als je zuvor in der Menschheitsgeschichte. Anders als vor Jahrhunderten bauen heute nur noch sehr wenige Menschen ihre eigene Nahrung an, stellen ihre Kleidung selbst her oder bauen ihre Häuser selbst. Viele von uns wissen gar nicht, wie man das macht, und so sind wir abhängig von Leuten, die das können. Wir sind auch abhängig von den Menschen, die unsere Straßen bauen oder bestimmte Technologien entwickeln, sowie von denen, die uns alles beibringen, was wir wissen, um nur ein paar zu nennen. Wenn uns erst einmal bewusst wird, dass wir untrennbar miteinander verbunden sind, erkennen wir, dass gegenseitige Fürsorge heute unverzichtbarer ist als je zuvor.
Bei einem Treffen mit Großstadtkindern, die in Stadtvierteln mit hoher Kriminalität leben und daher gefährdet sind, selbst zu Gewalttätern zu werden, sagte der Dalai Lama: „Gewalt ist altmodisch. Krieg ist altmodisch. Wir verfügen über ein so hoch entwickeltes Gehirn wie keine andere Spezies, also müssen wir unsere Intelligenz benutzen, um einander zu helfen. Dann werden wir alle profitieren und in Frieden miteinander leben.“ Mitgefühl ist der Weg dorthin.
BETRACHTUNG
Mitgefühl in die Welt tragen
Stellen Sie sich eine Situation in der Welt oder in Ihrem eigenen Leben vor, die durch Mitgefühl verbessert werden könnte. Stellen Sie sich vor, wie anders diese Situation sein könnte, wenn die daran beteiligten