Die Weisheit eines offenen Herzens. Thubten Chodron

Die Weisheit eines offenen Herzens - Thubten  Chodron


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singen. In dieser imaginären Welt hat kein Mensch je mit irgendetwas zu kämpfen, niemand weint, alle Konflikte werden sanft gelöst, es gibt keinen Schmerz und keine Schwierigkeiten und wir alle leben glücklich bis ans Ende unserer Tage.

      Manche Menschen stellen sich unter Mitgefühl einen Zustand vor, in welchem man über allem steht, mit heiterer Gelassenheit alle weltlichen Probleme hinter sich lässt und unversehrt und unbeeinflusst von Schwierigkeiten durchs Leben geht. Wir stellen uns vielleicht vor, wie wir mit einem feinen Lächeln durchs Leben schweben, mit anderen auf eine Weise kommunizieren, die sie wie durch Zauberhand sofort und mühelos von ihren inneren und äußeren Kämpfen befreit und sie inspiriert, ihr Leben um 180 Grad zu drehen. Wir stellen uns vielleicht vor, wie wundervoll die Welt wäre, wenn nur jede(r) die Welt von unserem Standpunkt aus betrachten würde und wenn diese armen Menschen verstehen könnten, was wir verstehen.

      Hier eine Kurzmeldung: Das hat mit Mitgefühl nichts zu tun. Es ist Selbstgefälligkeit und riecht nach etwas, das Chögyam Trungpa „Narren-Mitgefühl“ nannte. Mitgefühl ist weder abgehoben noch versponnen. Es ist nicht anmaßend. Es bedeutet nicht, immer nur nett zu sein und es gemütlich zu haben, und es ist auch keine Ausrede dafür, sich anderen überlegen zu fühlen.

      Stellen Sie sich vor, Sie wären Installateur und jemand riefe Sie an, weil seine Toilette nicht mehr richtig funktioniert. Er berichtet von einem schrecklichen Geruch, der von unterhalb des Hauses nach oben zieht, was auf ein Leck in einem Abwasserrohr hinweisen könnte, das erneuert werden muss. Wir kommen in unserer sauberen, weißen Arbeitskleidung an, unterhalten uns mit dem Kunden über das Problem und geben gut gemeinte Ratschläge: „Diese Dinge erledigen sich oft von selbst. Achten Sie darauf, dass Sie keine verkehrten Sachen in die Toilette werfen. Trinken Sie eine schöne Tasse Tee, essen Sie einen Keks und Sie werden sich gleich besser fühlen.“ Das ist alles gut und schön, aber es wird das Problem nicht lösen. Wir müssen den Kanalzugang unter dem Haus öffnen, hineinkriechen, um das Problem zu diagnostizieren, unser Werkzeug durch den Dreck schleifen und das geborstene Rohr reparieren. Es wird ungemütlich sein. Der Geruch wird sehr unangenehm sein. Die weiße Arbeitskleidung wird definitiv schmutzig werden. Aber das ist es, was getan werden muss, wenn wir helfen wollen.

      Und so setzt auch Mitgefühl eine Bereitschaft voraus, mit dem Schmerz und dem Leiden in Berührung zu kommen – unserem eigenen und dem Leid derjenigen, denen wir helfen wollen. Mitgefühl setzt voraus, dass wir dableiben, wenn es ungemütlich wird, dass wir die schwierigen Gefühle aushalten, die hochkommen, wenn wir in Kontakt mit dem Leiden kommen und mit denen, die es durchmachen. Mitgefühl bedeutet Mut.

      Probieren Sie eine kurze Übung aus: Atmen Sie ein paar Mal ein und aus und nehmen Sie bewusst Ihre Gefühle und Gedanken wahr. Sagen Sie nun zu sich: „Hungriges Kind.“ Nehmen Sie alle Gefühle wahr, die bei diesen Worten hochkommen und lassen Sie sie zu. Vielleicht fühlen Sie sich berührt oder traurig – diese Gefühle kamen bei mir hoch, als ich die Worte schrieb. Das ist kein Zufall. Wir werden mit der Fähigkeit geboren, unseren Schmerz miteinander zu teilen, und wir sind mit dem Instrumentarium des Mitgefühls ausgestattet, um darauf zu antworten.1

      Es braucht Mut und Geduld, sich diesem Schmerz zu stellen. Das ist nicht leicht, denn wir haben starke Instinkte, die uns vor allem zurückschrecken lassen, was uns unangenehm ist. Aber wenn wir uns ständig erlauben, dem äußeren und inneren Leiden auszuweichen, werden wir nicht in der Lage sein, es gut genug zu verstehen, um helfen zu können. Wir müssen bereit sein, uns in den Leidenden hineinzuversetzen, die Welt durch seine oder ihre Augen zu betrachten. Wir müssen fähig sein, dazubleiben und zuzuhören. Und das bedeutet, dass wir unsere gewohnheitsmäßige Reaktion, aus der Situation zu flüchten, zu urteilen oder gedankenlosen Rat zu erteilen, aufgeben müssen, damit wir weitergehen können. Stattdessen müssen wir uns das Leiden genau anschauen, um sein Wesen und seine Ursachen zu verstehen und zu wissen, was heilsam sein kann. Wenn wir dann mitfühlend handeln, können wir es mit Weisheit und Selbstvertrauen tun.

      Uns selbst kennenlernen

      Denken Sie an ein paar Situationen, in denen Sie sich unwohl fühlen und die Sie gerne meiden. Wie empfinden und reagieren Sie beispielsweise, wenn Sie mit Menschen zusammen sind, die körperliche Schmerzen leiden oder die Trauer, Kummer, Angst, Wut oder Hoffnungslosigkeit fühlen? Überlegen Sie, welche Erfahrungen Sie mit diesen Menschen teilen können und welche Sie dazu bringen, sich zurückzuziehen.

      7 Verwirrung über Mitgefühl

      Während mitfühlendes Verhalten allgemein bewundert wird, existiert auch eine Menge Verwirrung in Bezug auf Mitgefühl. Wenn wir lernen, was Mitgefühl ist, ist es auch gut, zu wissen, was es nicht ist.

      Mitgefühl zu haben heißt nicht, es ständig allen Leuten recht machen zu wollen. Die Motivation eines Jasagers ist Selbstschutz. Es ist also nicht echte Fürsorge für einen anderen Menschen, sondern der Wunsch, andere mögen gut von uns denken oder nett zu uns sein. Ein solches Motiv entspringt dem Bestreben, unser Ego zu schützen, und nicht, jemand anderem etwas Gutes zu tun.

      Mitgefühl bedeutet auch nicht, dass man sich in das Leben anderer einmischt und ihre Probleme löst. Wenn wir Herr oder Frau „Repariere es“ werden, liegt der Fokus wieder auf uns. Wir denken: „Ich kann es nicht ertragen, einen anderen Menschen leiden zu sehen. Ich muss etwas dagegen tun.“ Mit diesem Gedanken riskieren wir, stärker involviert zu werden, als es dem anderen recht ist. Der Gedanke: „Ich werde ihr Problem lösen“, treibt uns so an, dass wir ungewollt dazu beitragen, dass sich die andere Person hilflos und ohnmächtig fühlt. Niemand will, dass andere sein Leben aus falsch verstandenem Mitgefühl kontrollieren. Manchmal äußert sich unser Mitgefühl am stärksten darin, dass wir anderen zeigen, wie sie ihr Problem selbst lösen können, und dann einen Schritt zurücktreten, um ihnen dazu Gelegenheit zu geben. Gelingt es ihnen, wird ihr Selbstvertrauen wachsen. Wenn nicht, werden sie hoffentlich aus ihren Fehlern lernen. Fragen sie uns nach Tipps, wie sie mit der Situation umgehen könnten, können wir ihnen welche geben, während wir gleichzeitig ihre Autonomie respektieren.

      Weiterhin bedeutet Mitgefühl nicht, dass wir uns zum „Fußabtreter“ machen, auf dem andere herumtrampeln können, oder dass wir uns ausnutzen lassen. Mitgefühl hat nichts mit fehlgeleiteter Vergebung zu tun wie im Falle von häuslicher Gewalt: „Es ist wieder gut, Liebling. Du hast mich gestern und vorgestern Abend geschlagen. Ich habe Mitgefühl mit dir und vergebe dir. Du kannst mich wieder schlagen, wenn du willst.“ Das ist kein Mitgefühl, das ist Dummheit, die weder anderen noch uns selbst hilft. Wenn wir oder unsere Kinder in Gefahr sind, sollten wir die Situation unmittelbar verlassen und nicht zurückkehren, bis die andere Person die Hilfe erhalten hat, die sie braucht, damit die Gewalt ein Ende hat und die Situation sicher ist. Obwohl wir unser Mitgefühl für Menschen, die von negativen Emotionen überwältigt werden, aufrechterhalten, erlauben wir ihnen nicht, uns zu verletzen oder zu schaden. Das ist nicht nur für unsere eigene Sicherheit wichtig, sondern hilft auch ihnen, denn sie werden aufgrund ihres gewalttätigen Verhaltens viele Probleme bekommen.


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