Lieber Tod, wir müssen reden. Muriel Marondel

Lieber Tod, wir müssen reden - Muriel Marondel


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dass ich länger nicht geduscht habe. Ich stelle mir vor, meine bleiernen Beine ins Badezimmer tragen zu müssen und mit meinen bleiernen Armen eine Shampooflasche zu öffnen, deren Inhalt ich dann auch noch mit meinen bleiernen Fingern auf meinem langsam arbeitenden Kopf verteilen muss. Urgh. Das Wasser auf meiner Haut wird sich nicht wohltuend, sondern wieder wie ein fast schmerzhafter Reiz anfühlen, weil mein Körper vom ganzen Liegen so seltsam taub geworden ist. Beim Gedanken daran, welche Energie mich das anschließende Abtrocknen und die Tatsache, dass ich mich bücken müsste, um aus meinem Schrank neue Unterwäsche zu suchen, kosten würde, steige ich aus. Ich könnte nach dem Duschen auch ganz schnell nackt und nass ins Bett rennen, denke ich. Dort würde ich dann von allein trocknen, während ich im warmen Schutz meiner Bettdecke langsam wieder einschlafe.

      Der Gedanke an einen ruhigen Schlaf hat in den vergangenen Wochen wohl das einzig wohltuende Gefühl in mir ausgelöst. Wenn das Aufwachen nur nicht so schrecklich wäre.

      Ich stehe immer noch wie angewurzelt vor dem Spiegel und erkenne, dass das Letzte, was mir gerade möglich ist, die Tatsache ist, nackt und nass ins Bett zu laufen. Und schon gar nicht schnell. Dazu müsste ich erst einmal einen Grund finden, warum ich mich überhaupt waschen sollte. Ich müsste einen Grund finden, warum irgendeine Handlung gerade überhaupt Sinn ergeben würde. Die Person, die mir da entgegenblickt, ist mir fremd, ich fühle mich ihr noch nicht wirklich nahe, und ich kann sie auch noch nicht wirklich verstehen.

      Zwischen mir und ihr liegt die Erinnerung an eine andere Welt, die erst vor Kurzem endete. Die Welt von früher.

      Früher, da konnte diese Person noch arbeiten und lachen und schlaue Sachen sagen, und außerdem duschte sie zweimal am Tag. Früher, da war sie vielleicht ein »Achiever«, so wie die Aufsteigerin. Was auch immer das bedeuten mag. Früher, da sagte man ihr, dass sie alles besäße, was ein neues TV-Talent so braucht: Witz und Charme und eine schöne Stimme. Auch ein hübsches Gesicht und die Gabe, ganz lange Schachtelsätze verständlich zu präsentieren. Und gute Fragen zu stellen. Früher war ihr wichtig, dass man ihr das gesagt hat.

      Nur die, die das früher gesagt haben, haben sich auch schon lange nicht mehr gemeldet. Jetzt ist sie nicht mehr so wie früher, jetzt ist sie seit drei Wochen krankgeschrieben und sitzt die meiste Zeit in ihrer Wohnung, genau genommen liegt sie dort. Wegen der komischen Zustände, die sie in der Redaktion bekam und für die sie sich fürchterlich schämt. Weil plötzlich alles in Zeitlupe ablief und die Szenen vor ihr nicht mehr echt wirkten und sie nicht mehr atmen konnte und dachte, sie wäre verrückt geworden. Und sie aus dem Büro ins Grüne stürmte – wie ein Huhn ohne Kopf und ohne Ziel – und ihrem verwirrten Kollegen, der gerade rauchte, zurief, sie glaube, sie müsse sterben. Und weil alle sehen konnten, wie der Krankenwagen kam. Und hörten, wie die Sanitäter sagten, dass sie gar nichts habe. »Sie sind janz jesund, junge Dame. Vielleicht wat Psychisches.«

      Und sie im Arm der Personalchefin lag und sich plötzlich all die ungeweinten Tränen und Unmengen an Rotz unkontrolliert ihren Weg suchten, und es schwer verständlich aus ihr herausgeplatzte: »Mein Papa. Es tut so weh. Mein Papa ist tot.«

      Was keiner weiß, ist, dass sich dieser Moment wie eine schreckliche Niederlage anfühlte: Denn plötzlich wurde ich zu dieser Person, die mir jetzt im Spiegel entgegenblickt – eine ganz schrecklich schwache Frau. Die nichts mehr wollte, als stark und normal zu sein und genauso leistungsfähig wie alle anderen. Die plötzlich anders war, weil es ihr nicht möglich war, so weiterzumachen wie bisher.

      Und weil sich die Trauer ihren Weg sucht. Immer.

      Ich bin unfähig, Teil dieser funktionierenden Welt zu sein, in der keiner über den Tod reden will – oder es vielleicht will, aber sich nicht traut. Weil der Tod und das Sterben und dieser unsagbar unerträgliche Schmerz über den Verlust zeigen, wie fürchterlich verwundbar und fragil unser Leben doch ist. Und keiner die existenziellsten Fragen des Lebens, die ich mir auf einmal stelle, hören will. Weil sie uns aus unserem fest gestrickten Sicherheitsnetz herausmanövrieren könnten. Nein, wir vielleicht sogar entdecken würden, dass unser fest gestricktes Sicherheitsnetz eine Imagination ist. Weil wir vielleicht begreifen würden, wie banal es doch ist, eine Aufsteigerin der Woche zu sein. Und wir trotzdem alles Recht der Welt haben, Banalitäten Wert zu verleihen, weil das Leben vielleicht schlichtweg ganz banal ist. Und das ganze Problem eigentlich ist, dass ich nicht mehr damit klarkomme.

      Einer flog übers Kuckucksnest

      »Wann traten diese Attacken das erste Mal auf?«, fragt mich der Mann auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes in zackigem Ton. Uns trennt ein überdimensional großer orientalischer Teppich und ein Altersunterschied von 40 Jahren. In seiner Hand hält er einen Notizblock und einen Stift, der bereit zu sein scheint, meine psychischen Leiden zu Papier zu bringen.

      Der alte Mann blickt mich mit einer Mischung aus väterlicher Fürsorge und angestrengter Erwartung an. Es ist Freitagmittag, und die Sprechstundenhilfe sagte mir bereits am Telefon, dass ich nur schnell und auch nur ausnahmsweise ohne Termin vorbeikommen könne. Mathis sagte mir, ich solle mir Hilfe suchen. Ich weiß, dass ich ihn überfordere, also habe ich angerufen und bin hierher gekommen.

      Im Wartezimmer saß außer mir noch eine andere Frau. Verrückt sah sie nicht aus, sie strahlte sogar eher eine gleichmütige Freundlichkeit aus. Wahrscheinlich schon medikamentös eingestellt. »Uff, hör auf, so zynisch zu sein!«, fahre ich mich selbst an. Aber ich weiß auch nicht wirklich, wie ich dieser Situation gerade anders begegnen soll.

      »Haaaallo, hören Sie mir zu?«, fragt mich der Psychiater und macht diese Scheibenwischergeste.

      »Ja, ähm«, sage ich und räuspere mich. »Als ich das erste Mal geschlafen habe, nachdem, na ja, nachdem mein Vater gestorben war. Vor fünf Wochen.«

      »Mmhh«, summt der Psychiater. »Und Sie haben das seitdem jede Nacht?«

      »Fast jede. Und tagsüber, da … da bekomme ich so seltsame Zustände. Ich habe das Gefühl, dass sich meine … also ich fühle mich so, als ob sich meine Realität verschiebt. Das ist etwas seltsam. Alles läuft auf einmal viel langsamer ab, und ich bekomme dann so ein Kribbeln im Körper und große Angst. Weil ich glaube, ich sterbe jetzt oder ich werde verrückt. Ich bin aber nicht verrückt, ich hoffe es zumindest. Das ist mir auch in der Arbeit passiert, und deshalb kann ich auch nicht mehr dorthin … gerade.«

      Ich höre mir selbst beim Reden zu. Wie soll ich das denn erklären? Wie soll ich erklären, wie das ist, wenn man nicht mehr man selbst ist. Von heute auf morgen. Warum fühlt es sich so an, als sei ich hier bei mir in meiner eigenen Welt und er dort drüben in einer ganz anderen? Ich fühle mich wie in einem Tunnel, der viel zu eng und viel zu dunkel ist und mir diese Beschaffenheit nur erlaubt, mich Schritt für Schritt langsam zum nächsten Punkt vorzutasten. Sogar das Reden strengt mich an.

      Der Psychiater sieht mich ernst an. »Na, ein Elternteil zu verlieren, ist ein großer Einschnitt in das Leben eines Menschen, nicht? Da kann man schon einmal Depressionen oder eine Panikstörung bekommen«, sagt er ein bisschen weniger zackig.

      Ich fühle mich erkannt und abgestempelt zugleich.

      »Und, was kann ich nun für sie tun?«, fragt er und betont dabei »ich« besonders.

      Verdammt, ich weiß nicht, was ich ihm sagen kann. Am liebsten würde ich ihn fragen, ob er es nicht einfach wegmachen könnte, sage aber stattdessen erst einmal nichts.

      »Glauben Sie, dass ich wieder normal werde?«

      Der Psychiater lächelt jetzt ein wenig aufmunternd. »Bestimmt«, sagt er. »Aber wir sollten Sie ihm Auge behalten. Ich gebe Ihnen erst einmal Notfallmedikamente mit. Sie nennen sich Tavor und sind ein Beruhigungsmittel.«

      »Ich will keine Medikamente. Ich will das nicht«, schießt es aus mir heraus. Ich bin wütend über seinen Vorschlag. Tabletten gegen seelischen Schmerz, mir kommt das falsch vor. Außerdem habe ich das Gefühl, dass die Einnahme von Medikamenten ein Eingeständnis ist, dass ich nicht mehr richtig klarkomme. Obwohl ich natürlich eigentlich weiß, dass ich nicht mehr richtig klarkomme. Der Psychiater nickt. »Na, sie müssen Sie ja nicht nehmen. Es sind auch nur ein paar, denn die können abhängig machen. Also gilt hier sowieso: Vorsicht, Vorsicht!« Er wackelt mit


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