Lieber Tod, wir müssen reden. Muriel Marondel

Lieber Tod, wir müssen reden - Muriel Marondel


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Ich atme tief durch.

      »Wir sehen uns nächste Woche wieder, bitte machen Sie einen Termin aus«, sagt er und erhebt sich. Ich gehe mit ihm zur Tür. Wir bleiben kurz stehen, und er sieht mir in die Augen.

      »Es wird besser«, sagt er und gibt mir zackig die Hand. »Trauer braucht viel Zeit, und es schmerzt erst einmal lange.«

      »Danke«, sage ich und bin überrascht davon, dass mich seine Worte ein wenig erwärmen.

      Ich betrete die Straße mit meinen Notfallmedikamenten in der Tasche und fühle mich ein bisschen sicherer in dieser Welt. Aber ich glaube nicht, dass es an den Medikamenten liegt. Es liegt an den letzten Worten des Psychiaters.

      »Seltsam«, denke ich. »Immer wenn jemand Verständnis dafür zeigt, was ich fühle, hilft das. Ich glaube, es ist das Spiegeln, das Verstehen, das Würdigen. Es erschafft eine Verbindung, die wie ein heilender Balsam auf meinen Zustand wirkt und mich für einen Moment Geborgenheit spüren lässt.«

      Ich bin zu viel. Viel zu viel zu viel.

      »Mein Beileid«, schreiben sie und »Mein tiefes Mitgefühl«. Manchmal sagen sie auch »Meine tiefe Anteilnahme«. Dann schreiben sie, dann sagen sie nichts mehr.

      »Danke«, antworte ich dann und spüre nicht viel. Meine Schulfreundin schreibt mir, dass gerade nichts meinen Schmerz wegmachen kann. Und sie mir Kraft zum Atmen wünscht, zum Ertragen. Und ich weine dann, weil sie sich die Zeit genommen hat, mir ein paar persönliche Zeilen zu schreiben.

      Ich spüre, dass sich viele mein altes Ich zurückwünschen. »Du kannst dich doch glücklich schätzen«, sagen sie. »Immerhin hattest du deinen Vater fast 30 Jahre. Andere verlieren ihre Eltern im Kindesalter. Was meinst du, wie schlimm das ist? Sei dankbar dafür.«

      »Ja«, antworte ich dann und fühle nichts, außer der Scham, dass ich mich nicht glücklich schätze. Ich hatte meinen Vater fast 30 Jahre, das ist wahr. Ich sollte mich glücklich schätzen. Und dann traue ich mich nicht mehr zu sagen, dass Papa doch noch nicht einmal 60 war und ich das Gefühl habe, dass mir 20 Jahre geraubt worden sind. Und ich noch so viel mit ihm erleben wollte. Dass ich mir manchmal ganz fest auf die Lippe beiße, wenn ich im Café sitze und junge Frauen mit ihren Eltern vorbeilaufen sehe. Beide Elternteile. Und sehe, dass sie ihr Enkelkind anlächeln, das sie stolz auf ein Dreirad gesetzt haben. Und ich dann nur will, dass ich das einmal, nur ein einziges Mal erleben darf. Ich denke daran, dass ich sehen wollte, wie Papa graue Haare bekommt und alt wird. Und ich doch noch einmal Urlaub mit ihm machen wollte, nur er und ich.

      »Immerhin konntest du dich verabschieden. Andere können das nicht. Was meinst du, wie schlimm das ist?«, sagen sie.

      »Ja«, antworte ich dann und denke an all die Schläuche und Papas Kotzen und dass er nicht mehr laufen konnte – und an seine letzten Atemzüge. Und es brennt im Herzen, und ich wünsche manchmal, ich hätte das nicht gesehen.

      »Dein Vater hätte nicht gewollt, dass du so traurig bist«, sagen sie.

      »Ja«, antworte ich dann, und die Scham wächst weiter. Sie wächst ins Unermessliche. Weil sogar Papa sauer auf mich wäre, würde er mich so traurig sehen.

      Ich werde mit dem Traurigsein aufhören, wirklich. Für euch, damit ihr endlich Ruhe habt von meiner Jammerei und meinen hängenden Mundwinkeln oder von meiner für euch furchtbar öden Apathie. Ihr ertragt es kaum, ich merke das. Irgendwie scheitere ich nur immer wieder daran, ich schaffe es nicht, tapfer zu sein. Das Vermissen hört nicht auf.

      Mein Wunsch, im Bett liegen zu bleiben, ist oft immer noch größer, als der, mich mit irgendjemandem oder irgendetwas auseinanderzusetzen. Ich will nur warten. Warten und heil werden.

      Ständig und überall treffe ich auf jene, die mir sagen, ich solle anders fühlen, als ich es tue. Und fühle mich aufgrund meiner Emotionen, die ich nur schwer kontrollieren kann, wie ein undankbarer Rabenmensch.

      Ich bin dann wütend – in erster Linie auf mich. Und dann auf alles andere.

      »Jetzt komm, du musst mal wieder raus. Freitagabend gehen wir in eine Bar«, sagen sie.

      »Du musst«, antworte ich mir selbst. Und gehe mit in die Bar, die laut ist, viel zu laut und anstrengend. Und eigentlich wollte ich auch diesen Freitag wieder nur heiße Milch mit Honig trinken und Menschen bei mir haben, einen oder zwei, die irgendwo in meiner Nähe sitzen, einen Kokon um mein aufgeriebenes Herz und meine müden Knochen spinnen. Und dann sage ich: »Schon okay, ich schaffe das mit der Bar.« Weil es ja keiner aushält, wenn ich sage, dass ich es nicht aushalte. Niemand will mich als heulenden Tropf mit dabeihaben, versteht ihr? Und dann gehe ich aufs Klo. Weine. Und wische die Tränen weg und sehe die Blicke, wenn ich wieder an den Tisch komme.

      »Hey, das wird schon wieder«, sagen sie dann. Ich will aber nicht, dass es wieder wird, denke ich dann. Ich will meinen Papa zurückhaben. Ich will nur das. Ich will nichts anderes. Ich will doch nur meinen Papa zurück. Und ich lächle gequält. Und sage dann leise: »Schon okay.«

      Was für ein Druck das Tapfer-sein-Müssen sein kann.

      »Komm schon, jeder hat sein Päckchen zu tragen. Andere verlieren ihre Kinder. Stell dir mal vor, wie schlimm das ist«, sagen sie.

      Sie stammeln irgendein Zeug für mich. Und dann laufe ich nach Hause, und ich fühle mich so einsam und gemein, weil ich doch nicht will, dass andere ihre Kinder verlieren, und ich doch weiß, wie schlimm das bestimmt ist. Und ich trotzdem meine tief schürfende Traurigkeit nicht wegzaubern kann, auch wenn andere ihre Kinder verlieren.

      Manchmal wünsche ich mir, einer von euch würde mir schreiben, dass er sich Freitagabend zu mir aufs Sofa legt. Ohne dass ich reden muss, mich erklären. Nur liegen. Und wenn ich dann doch Worte finde, Worte über dieses fürchterliche Brennen in meiner Brust, dann hört mir dieser Mensch einfach zu. Er bietet mir keine Lösung an. Er weiß, dass ich das nicht wegmachen kann. Und er auch nicht.

      »Melde dich, wenn du etwas brauchst«, sagen sie. Aber wie soll ich das tun, wenn ich doch selbst manchmal gar nicht weiß, was ich brauche? Ich weiß doch nicht mal, wie ich das schaffen soll, so ohne Kraft.

      Ruft mich an, bitte. Und wenn ich nicht abhebe, dann kommt doch mal vorbei und küsst mir die Stirn und kocht mir einen Tee und seid da. Und wenn ich unwirsch reagiere, dann seid mir bitte nicht böse. Ich bin nämlich ziemlich verloren gerade.

      Und ich brauche euch, manchmal. Bitte haltet mich aus. Manchmal, nur für ein paar Stunden. Ich weiß, dass es nicht leicht ist. Weil ihr keine Antwort habt auf all das – und trotzdem Antworten gebt, weil ihr denkt, das muss so sein. Ich nehme euch das nicht übel.

      Haltet mich nur ein bisschen aus, bitte. Und irgendwann, wenn ihr dann in eine Situation kommt, in der man euch aushalten muss, auch wenn es schwer ist, dann werde ich kommen und eure Stirn küssen und mich zu euch legen und euch einen Tee kochen. Und ich werde eure Hand nehmen und euch sagen, dass ich die Antwort auch nicht weiß, aber dass ich trotzdem für ein paar Stunden bleibe. Weil es nur ums Aushalten geht. Zusammen.

      Ich bin zu viel. Viel zu viel zu viel.

      Was weiß ich schon von dir?

      Als ich an diesem sonnigen Tag nach Hause laufe und die blühenden Bäume des Frühsommers betrachte, denke ich an einen Spaziergang mit Papa.

      »Weißt du, wenn man so krank ist wie ich, saugt man das, was man sieht, förmlich auf«, sagte er damals und blickte in die Schneelandschaft. »Ja«, antwortete ich nur und konnte nicht mehr dazu sagen, weil ich ja nicht wusste, wie es war, wenn man so krank ist. Ich wusste nur, dass es wehtat, das zu hören. Weil ich ihm seine Krankheit nicht abnehmen konnte und ich mich so furchtbar hilflos fühlte.

      Später gingen wir gemeinsam in eine Kirche, und Mama und ich zündeten eine Kerze für ihn an. Er war nicht religiös, aber Papa war trotzdem gern in Kirchen. Wir setzten uns auf eine der Bänke, und ich streichelte über sein Gesicht. Mathis, der immer mit seiner Kamera unterwegs war, schoss von diesem Moment ein Bild. Ich sehe Papa ganz liebevoll an, und Papa blickt zu Boden. Ich habe das Foto an meinen Spiegel geheftet.

      Papa und ich hatten ein seltsames


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