Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie. Christopher Germer

Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie - Christopher Germer


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Viele Bücher und Artikel thematisieren „therapeutische Weisheit“, „die Weisheit des Körpers“ und die „Weisheit des Unbewussten“, aber relativ wenige haben sich damit befasst, was Weisheit sein und welche Rolle sie in der Psychotherapie spielen könnte.*

      Die meisten eingehenden Untersuchungen von Weisheit im Zusammenhang mit Psychotherapie finden sich auf dem Gebiet der Transpersonalen Psychologie. Diese Disziplin, die in den 1960er Jahren aus der Forschung mit psychedelischen Drogen und dem darauf folgenden gegenkulturellen Interesse an östlicher Meditation und Yogapraktiken entstand, befasst sich „mit dem Studium des höchsten Potentials der Menschheit und mit der Anerkennung, dem Verständnis und der Realisierung intuitiver, spiritueller und transzendierender Bewusstseinszustände“ (Lajoie & Shapiro, 1992, S. 91). Ihr Ziel ist es, „zeitlose Weisheit mit moderner westlicher Psychologie zu integrieren und spirituelle Prinzipien in eine wissenschaftlich begründete zeitgenössische Sprache zu übersetzen“ (Caplan, 2010, S. 231). Zusätzlich zu Maslows Arbeit über „selbst-aktualisierende“ Individuen halfen Stanislav Grofs Untersuchungen der bewusstseinserweiternden Wirkungen von LSD (1993, 1998) das Gebiet der Transpersonalen Psychologie zu etablieren. Wahrscheinlich weil dieses Gebiet aus einem gegenkulturellen Milieu heraus entstand, sich großzügig bei esoterischen spirituellen Traditionen bedient und besonders an mystischer Erfahrung interessiert ist, hat es bei Therapeuten des Mainstream nicht viel Beachtung gefunden.

      Soweit wir sehen, hat es nur einen einzigen systematischen Versuch gegeben, die Ergebnisse wissenschaftlicher Erforschung von Weisheit im therapeutischen Bereich anzuwenden. Michael Linden, ein deutscher Psychiater, der in Berlin praktiziert, hat einen Ansatz entwickelt, den er „Weisheitstherapie“ nennt. Er verwendet eine Modifikation des Forschungsprotokolls des Berliner Weisheitsprojekts, um bei Klienten Weisheit zu kultivieren. Die Klienten werden aufgefordert, schwierige Lebenssituationen aus mehreren Perspektiven zu betrachten, und zwar mit dem Ziel, verschiedene Komponenten von Weisheit zu entwickeln, darunter Flexibilität der Sichtweise, Empathie, Akzeptanz von Emotionen, Wertrelativismus, Akzeptanz von Unsicherheit und eine langfristige Perspektive (Linden, 2008).

      Als wir dieses Buch planten, haben wir unter Weisheit einfach ein tiefes Verständnis davon verstanden, wie man lebt. Diese Definition erfasst zwar immer noch ihre Essenz, aber wir haben seitdem gelernt, dass Weisheit eine menschliche Fähigkeit auf hohem Niveau und mit vielen Dimensionen ist, die sich unter verschiedenen Bedingungen unterschiedlich manifestiert. Zu ihr gehören Ausgewogenheit und Integration vieler Fähigkeiten und sie hat quer durch kulturelle und historische Kontexte verschiedene Formen angenommen. Es wird daher eine schwierige Aufgabe sein, gezielte Interventionen oder therapeutische Trainingskonzepte zu entwickeln, um so eine vieldimensionale Tugend zu kultivieren.

      Weisheit für den Therapeuten

      Wir haben eine informelle Umfrage unter erfahrenen Therapeuten durchgeführt und sie gefragt, was einen „weisen” Therapeuten ausmache (siehe Kapitel 10). Auf der Grundlage ihrer Antworten und kombiniert mit den historischen und modernen Modellen, die wir eben besprochen haben, haben wir die folgenden Attribute von Weisheit identifiziert – um als Therapeuten mit mehr Weisheit arbeiten wie auch Weisheit bei Patienten kultivieren zu können:

      • Sachwissen, das für das Problem, um das es geht, relevant ist

      • Fähigkeit, zu argumentieren und Probleme zu lösen

      • gesunder Menschenverstand sowie fachlich fundiertes Urteilsvermögen

      • Fähigkeit, mehrere Sichtweisen und miteinander konkurrierende Werte gleichzeitig zu berücksichtigen

      • Bewusstsein von den Grenzen unseres Wissens

      • Fähigkeit, bei Mehrdeutigkeit und Unsicherheit tröstende oder beruhigende Entscheidungen zu treffen

      • Bewusstsein, dass alle Gedanken konstruiert sind

      • intuitives Erfassen, dass alle Phänomene ihrem Wesen nach wechselseitig voneinander abhängig und ewig veränderlich sind und wie das Denken eine konventionelle „Realität” voneinander getrennter stabiler Objekte konstruiert

      • die Fähigkeit, absolute (transzendente, transpersonale, wechselseitig voneinander abhängige) Realität neben konventioneller Realität anzuerkennen und zu würdigen

      • die Fähigkeit, unsere eigene kulturelle, familiäre und persönliche Konditionierung und Psychodynamik zu beobachten, zu reflektieren und zu verstehen

      • Interesse an persönlichem Wachstum und Lernen aus Erfahrung

      • Offenheit für Erfahrung

      • Achtsamkeit für die Wirkung von Handlungen auf die nähere Umgebung und die weitere Welt auf lange und auf kurze Sicht

      • die Fähigkeit, Affekte und Impulse zu tolerieren und über sie zu reflektieren, ohne sie notwendigerweise auszuagieren

      • ein Verständnis der menschlichen Natur, wie sie sich durch körperliche, seelische und spirituelle Entwicklungsstufen hindurch verändert

      • Verstehen der Ursachen menschlichen Leidens und wie es gelindert werden kann

      • Soziale oder emotionale Intelligenz: die Fähigkeit, andere zu verstehen und mit anderen zu kommunizieren

      • Mitgefühl mit sich selbst und mit anderen

      • Das ist eine lange Liste, die sehr anspruchsvoll erscheinen mag. Aber diese Qualitäten hängen tendenziell miteinander zusammen, das heißt, wenn man eine Qualität entwickelt, stärkt man oft auch andere.

      Weisheit kultivieren

      Obwohl zahlreiche Untersuchungen zu der Schlussfolgerung gelangt sind, dass Weisheit eine seltene Entwicklung ist und sich nicht von selbst mit dem Alter einstellt, kommt das doch gelegentlich vor (Baltes & Staudinger, 2000; Jordan, 2005; Staudinger, 1999; Vaillant, 2003). Aber kann man sie bewusst und mit Absicht kultivieren? Eine Studie der Berliner Schule weist darauf hin, dass Psychotherapeuten mehr Weisheit als die Bevölkerung im Ganzen besitzen, wenigstens wenn sie Lösungen für komplexe menschliche Probleme beschreiben (Smith, Staudinger & Baltes, 1994; Staudinger, Smith & Baltes, 1992). Dieses Ergebnis lässt den Schluss zu, dass Training nützlich sein kann, obwohl Therapeuten möglicherweise Probanden sind, bei deren Auswahl Befangenheit im Spiel sein kann. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass die Orientierung an der Absicht, andere zu verstehen und andere Aspekte von Weisheit im Laufe eines Lebens zu entwickeln, ein Faktor ist, der Entwicklung von Weisheit begünstigt (Jordan, 2005). Traditionelle Auffassungen von Weisheit stimmen mit dieser Sicht überein. Plato meinte, dass Entwicklung von Weisheit eine „tägliche Disziplin“ verlangt, und in frühen buddhistischen Traditionen, wurde Weisheit dadurch entwickelt, dass der Achtfache Pfad beschritten wurde, der unter anderem dauerndes „Rechte Anstrengung“ verlangt.

      Die Rolle von Achtsamkeit

      Die meisten Weisheitstraditionen gehen davon aus, dass man weise werden kann, wenn man bewusst meditative und kontemplative Praktiken auf sich nimmt. In der buddhistischen Tradition wurden Übungen zu achtsamer Bewusstheit ausdrücklich als Mittel entwickelt, Weisheit zu kultivieren – „Dinge sehen, wie sie sind, statt wie wir sie gerne hätten“ (Surya Das, 2011, S. 1). Wie könnte das gehen? Betrachten wir einige Elemente von Achtsamkeitsübungen, und wie diese Aspekte verschiedene Bestandteile von Weisheit entwickeln könnten.

      Heraustreten aus dem Strom der Gedanken

      Wenn wir unsere Aufmerksamkeit immer wieder zurück auf die sinnliche Erfahrung von Moment zu Moment richten (zum Beispiel auf die Empfindungen bei der Atmung), statt in Gedanken verwickelt zu bleiben, können wir mit der Zeit unsere Denkprozesse in den Blick bekommen. Diese Übung ermöglicht uns zu sehen, wie Gedanken durch Familie und Kultur konditioniert wurden und wie sie sich mit Stimmungen und Umständen verändern (R. Siegel, 2011). Wir bekommen auch die Möglichkeit, unsere intellektuellen Abwehrmechanismen in Funktion zu sehen – den Widerstand, der als Reaktion auf beunruhigende Gedanken entsteht, und unseren Drang, an


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