Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie. Christopher Germer
– Zurückkommen und Hier sein sind sehr bewegliche, fließende Facetten der Praxis.
Je mehr wir die wache Stille im Zentrum des Rades bewohnen und in die Bewusstheit alles aufnehmen, was passiert, desto mehr wird die Nabe achtsamer Präsenz sozusagen nahtlos, warm und hell. In dem Moment, wenn es keine Kontrolle der Erfahrung gibt – wenn mühelose Achtsamkeit da ist –, gehen wir ganz in natürliche Präsenz über. Diese zeitlose Präsenz ist voller unendlicher Möglichkeiten. Die Nabe, die Speichen und der Rand schweben alle in unserer leuchtenden offenen Bewusstheit – wir sind zu Hause. In diesen Momenten hat unser Geist seine Quelle in einer unverstellten Sicht der Realität – Weisheit – und unser Herz in bedingungsloser Liebe oder bedingungslosem Mitgefühl.
Mitgefühl und Weisheit in schwierigen Zeiten
Es ist viel leichter gesagt, Präsenz in unserem inneren und zwischenmenschlichen Leben aufrechtzuerhalten, als getan. Wir wissen alle, wie es ist, wenn jemand uns kritisiert, unser Gefühl von Kompetenz infrage stellt oder Schuldgefühle oder Scham auslöst. Wir wissen, wie ist es, wenn wir mit einem Klienten zusammen sind und mit einem Gefühl persönlichen Versagens („Ich bin nicht nützlich“) oder einer Bewertung („Sie versuchen nicht wirklich, sich selbst zu helfen“) reagieren. Und wir wissen, wie es ist, wenn wir wie Pam mit einer tiefen Lebenskrise konfrontiert sind – vielleicht in einer Beziehung mit einem Gefühl von Verrat, mit finanzieller Unsicherheit oder mit einer lebensbedrohenden Krankheit. Statt dann in einer achtsamen Präsenz geerdet zu bleiben, verlieren wir uns in kreisenden Gedanken, in dringendem Bemühen, zu kontrollieren, was passiert, in Suchtverhalten und in den Bewertungen und Abwehrmechanismen, die wir kennen. Wir verlieren unsere Klarheit im Denken und unser Herz wird enger. Wie können wir in solchen Momenten Achtsamkeit stärken, wenn wir Gefahr laufen, in eine Trance zu geraten?
Vor ein paar Jahren hat eine Reihe buddhistischer Lehrer begonnen, ein neues Hilfsmittel für Achtsamkeit zu lehren, das aus vier Schritten besteht. Dieses Training in Präsenz kann in schwierigen Situationen, wenn man es mit intensiven und schwierigen inneren Zuständen zu tun hat, eine Unterstützung sein, um Weisheit und Mitgefühl zu wecken, besonders wenn man dazu neigt, sich in Verwirrung zu verlieren oder in sich zu versinken. Obwohl diese vier Schritte in Verbindung mit einer fortgesetzten Praxis von Achtsamkeitsmeditation am wirksamsten sind, können sie auch Klienten einen Zugang zu Achtsamkeit ermöglichen, die sonst auf alles, was sie für „Meditation“ halten, mit Widerstand reagieren würden. Ich habe diese vier Schritte Tausenden von Schülern, Klienten und Angehörigen heilender Berufe beigebracht und diesen Ansatz zu der Form entwickelt und erweitert, die ich in diesem Kapitel beschreibe. Auch in meinem eigenen Leben habe ich diese Technik zu einer zentralen Übung gemacht. Wenn wir uns wie Pam in einer Trance von Angst und Getrenntheit verlieren und leiden, können diese vier Schritte helfen, uns zu voller Achtsamkeit zurückzubringen, indem sie die Aufmerksamkeit auf eine klare, systematische Weise lenken.
Vier Schritte
• Anerkennen, was passiert
• Zulassen, dass das Leben ist, wie es ist
• Die innere Erfahrung mit Freundlichkeit untersuchen
• Sich nicht identifizieren und in natürlicher Bewusstheit bleiben
Anerkennen, was passiert
Dieses Anerkennen beginnt damit, dass Sie Ihre Aufmerksamkeit darauf richten, was im gegenwärtigen Moment an Gedanken, Emotionen, Gefühlen oder Sinnesempfindungen auftaucht. Anerkennen bedeutet Sehen, was in Ihrem inneren Leben wahr ist. Es bedeutet, einfach zu fragen: „Was passiert in mir in diesem Moment?“ Nutzen Sie Ihre natürliche Neugier, wenn Sie sich nach innen wenden. Versuchen Sie, alle vorgefassten Vorstellungen davon loszulassen, was passiert, und hören Sie stattdessen freundlich und offen auf Ihren Körper und auf Ihr Herz.
Zulassen, dass das Leben ist, wie es ist
Zulassen bedeutet „sein lassen“, was immer Sie an Gedanken, Emotionen, Gefühlen oder Sinnesempfindungen entdecken. Wenn Sie etwas Schwieriges erleben, kann es nützlich sein, sich zu fragen: „Kann ich hier weiter sein?“ Oder: „Kann ich dies so sein lassen, wie es ist?“ Vielleicht empfinden Sie eine natürliche Abneigung oder den Wunsch, dass unangenehme Gefühle verschwinden sollten, oder Sie merken, dass Sie von Gedanken erfüllt sind, die Vorwurf oder Scham enthalten. Aber wenn Sie offener dafür werden, bei dem präsent zu sein, „was ist“, kann sich eine andere Qualität von Aufmerksamkeit einstellen. Um weise handeln zu können, muss man lernen, so bei schwierigen Erfahrungen zu sein, denn sonst reagieren wir auf Schwierigkeiten automatisch und nicht besonnen. Es ist auch notwendig, Mitgefühl zu motivieren, denn wenn wir unseren eigenen Schmerz nicht ertragen können, können wir auch das Leid anderer Menschen nicht ertragen (siehe Kapitel 1).
Die Einsicht, dass Zulassen untrennbar zu Verstehen und Heilen gehört, kann die bewusste Absicht fördern, „sein zu lassen“. Viele Klienten und Schüler, mit denen ich arbeite, unterstützen ihre Entschlossenheit, alles zu akzeptieren, was passiert, dadurch, dass sie ein unterstützendes Wort oder einen Satz innerlich sprechen. Wenn sie zum Beispiel merken, dass Angst sie zu überwältigen droht, sagen sie leise „Lass es zu“, oder sie erleben das Anschwellen tiefen Kummers und sagen „Ja“. Sie könnten auch diese Worte verwenden: „Auch dies“ oder, wie ich Pam vorschlug: „Ich stimme zu“. Zuerst haben viele das Gefühl, dass sie unangenehme Emotionen oder Empfindungen zögernd oder versuchsweise „aushalten“. Oder sie sagen vielleicht in der Hoffnung „Ja“ zu Angst, dass sie sie damit auf magische Weise zum Verschwinden bringen.
In Wirklichkeit müssen wir immer wieder zustimmen und manchmal sogar die subtilsten Formen anerkennen, mit denen wir uns gegen Angst oder Schmerz verspannen. Doch schon die erste Geste des Zulassens – einfach leise „Ja“ oder „Ich stimme zu“ sprechen – beginnt einen Raum zu schaffen, der die harten Kanten unseres Schmerzes weich macht. Ihr ganzes Sein ist nicht mehr so in Widerstand gesammelt und verhärtet. Sprechen Sie den Satz einfach und geduldig, und mit der Zeit wird sich Ihre Empfänglichkeit vertiefen. Ihre Abwehrmechanismen entspannen sich, und Sie empfinden vielleicht körperlich, wie Sie den Wellen der Erfahrung nachgeben oder sich ihnen öffnen können.
Manchmal aber löst allein die Vorstellung des Zulassens vehementen Widerstand aus. „Was soll das heißen?!“, könnte jemand sagen. „Soll ich vielleicht akzeptieren, dass er mich verraten hat?“, „Soll ich Ja dazu sagen, dass ich mich hasse?“, „Zu dieser schrecklichen Angst?“ In diesen Situationen ist es wichtig, klarzustellen, dass man nur der Erfahrung – im Körper, im Herzen, im Geist – im gegenwärtigen Moment zustimmt. Es geht nicht darum, die Situation selbst oder das Verhalten eines anderen Menschen zu akzeptieren, nur die gefühlte Erfahrung hier und jetzt. Wenn Widerstand entsteht, ist der erste Schritt sogar, die Erfahrung des Widerstandes zu akzeptieren. Man erkennt den Abscheu, die Spannung im Körper, den Vorwurf in Gedanken und die Abneigung an und lässt zu, dass man das empfindet. Oft drücke ich es so aus: „Sie sagen Ja zu ihrem Nein!“*
Mit Freundlichkeit untersuchen
Manchmal reicht es aus, wenn man die ersten zwei der vier Schritte ausführt – die Grundbestandteile von Achtsamkeit –, um sich Erleichterung zu verschaffen und sich wieder mit Präsenz zu verbinden. In anderen Fällen reicht die Absicht, anzuerkennen und zuzulassen, allein nicht aus. Wenn man zum Beispiel mitten im Prozess einer Scheidung steht, dabei ist, einen Job zu verlieren, oder mit dem Leiden oder der Not eines nahestehenden Menschen konfrontiert ist, kann es sein, dass man leicht von intensiven Gefühlen überwältigt wird. Weil diese Gefühle immer wieder ausgelöst werden – man zum Beispiel von einem baldigen Expartner einen Telefonanruf bekommt oder morgens mit Schmerzen aufwacht –, können Reaktionen tief erschüttern. In solchen Situationen kann es erforderlich sein, achtsame, freundliche Bewusstheit noch mehr zu beleben und zu stärken.
Untersuchung bedeutet, das natürliche Interesse anzusprechen – das Verlangen, Wahrheit zu wissen – und eine fokussiertere Aufmerksamkeit auf die gegenwärtige Erfahrung zu richten (Goldstein & Kornfield, 1987). Wenn