Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie. Christopher Germer

Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie - Christopher Germer


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vor allen anderen wichtige Fertigkeit erworben, ihre Reaktivität wahrzunehmen und zu erkennen, wenn sie sich von achtsamer Präsenz wegbewegt und kontrahiert hatte. Eines Nachmittags begann Jerry darüber zu sprechen, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hätte, und darüber, dass er keine Angst habe, zu sterben. Sie beugte sich vor, küsste ihn und sagte schnell: „Mein lieber … Heute war ein guter Tag, du scheinst mehr Energie zu haben. … Ich mache dir einen Kräutertee.“ Jerry wurde still, und die Stille erschütterte sie. „In diesen Momenten ist mir so klar geworden, dass alles andere als zuhören, darauf lauschen, was wirklich passiert, alles andere als ganz präsent zu sein, uns eigentlich trennte. Ich hatte nicht gewollt, dass wir uns sein Sterben laut eingestehen. Das würde es allzu wirklich machen. Also vermied ich die Realität, indem ich eine Tasse Tee vorschlug. Aber der Versuch, von der Wahrheit dessen wegzusteuern, was passierte, brachte mich von ihm weg, und das war herzzerreißend.

      Während Pam das Wasser für den Tee heiß machte, betete sie und bat darum, mit ihrem Herzen bei Jerry ganz präsent sein zu können. Dieses Gebet leitete sie in den Tagen, die folgten: „Während der letzten paar Wochen musste ich permanent alle meine Vorstellungen davon loslassen, wie sein Sterben sein sollte, und was ich sonst tun sollte, und ich erinnerte mich einfach daran, zu sagen ‚Ich stimme zu‘. Zuerst wiederholte ich die Worte mechanisch, aber nach ein paar Tagen hatte ich ein Gefühl, als finge mein Herz wirklich an einzuwilligen.“ Sie beschrieb, wie sie anhielt, wenn sie merkte, dass sie von starken Gefühlen erfasst war, und schaute dann nach innen, um zu sehen, was los war. Wenn sich ihr Bauch mit Attacken von Angst und Gefühlen von Hilflosigkeit zusammenzog, blieb sie bei den Gefühlen, willigte in die Tiefe ihrer Verletzlichkeit ein, in der Absicht, freundlich zu sein. Wenn sich der ruhelose Drang, „etwas zu tun“, meldete, nahm sie das wahr und war still und ließ den Drang kommen und gehen. Wenn die großen Wellen des Kummers durch sie hindurchfluteten, sagte sie wieder „Ich stimme zu“ und öffnete sich dem gewaltigen schmerzhaften Gewicht des Verlustes. Und als die Tage vergingen, merkte sie, dass ihr Ton, wenn sie „Ich stimme zu“ sagte, immer zarter wurde.

      Diese intime, achtsame Präsenz bei ihrer inneren Erfahrung erlaubte Pam, ganz aufmerksam bei Jerry zu sein und von ihrer inneren Weisheit aus zu handeln. Sie drückte es so aus: „Als ich ganz und gar da war und in die Angst und in den Schmerz einwilligte, wusste ich, wie ich mich um ihn kümmern sollte. Ich spürte, wann ich Worte der Ermutigung flüstern und wann ich nur zuhören oder ihn mit Berührungen beruhigen sollte … wie ich für ihn singen, mit ihm still sein, bei ihm sein wollte.“ Bevor sie das Gespräch beendete, sagte sie mir, was sie als ein Geschenk ihrer letzten Tage mit Jerry, als die Antwort auf ihre Gebete sah: „In der Stille konnte ich über ein Gefühl für ‚ihn‘ und ‚mich‘ hinaussehen. Es wurde klar, dass wir ein Feld der Liebe waren – völlige Offenheit, Wärme, Licht. Er ist gegangen, aber das Feld der Liebe ist immer bei mir. Mein Herz weiß, dass ich nach Hause gekommen bin… wahrhaft nach Hause gekommen, um zu lieben.“

      Ihrem Herzen und Ihrer Bewusstheit vertrauen

      Eine achtsame Präsenz hatte Pams Intuition und ihr Herz geweckt. Sie gelangte von ihrer Angst, vor sich selbst und vor Jerry zu versagen, von ihrer schmerzhaften Isolation und ihrer Wut zu der Einsicht in die Wahrheit der Zugehörigkeit, zu einer immer anwesenden Liebe, die sie auch erhalten konnte, nachdem er gestorben war. Diese Weisheit der Ungetrenntheit ist das Geschenk von Achtsamkeit.

      Als buddhistische Lehrerin würde ich sagen, dass Achtsamkeit unser Tor zur Verwirklichung der vibrierenden Lebendigkeit, Liebe und leuchtenden Wachheit ist, die unsere essenzielle Natur ist. Aus der therapeutischen Perspektive sehe ich, dass Achtsamkeit den Zugriff konditionierter, eingefleischter Tendenzen lockert, die auf Temperament und persönliche Geschichte zurückgehen. Der befreiende „Mechanismus“ der Achtsamkeit drückt sich im vierten und letzten der vier Schritte aus: Nichtidentifikation. Wenn man eine volle Präsenz kultiviert, beginnt man Identifikationen mit gewohnten defensiven Mustern und Reaktionen der Abwehr aufzulösen. Befreit von der Trance, die uns einengt und einschränkt, öffnen wir uns für eine umfassendere und klarere Bewusstheit. Diese offene Bewusstheit erlaubt unseren angeborenen Fähigkeiten für Intelligenz und Mitgefühl, sich spontan zu entfalten, neben neuen Wahrnehmungen, Kreativität und Lernen. In den Beziehungen mit Klienten, mit unseren Partnern, mit unseren Kindern oder mit unserem inneren Leben leben wir von einem Raum der Weisheit und Freundlichkeit aus, der nicht mehr von Trance umwölkt ist.

      Bei meinem ersten Meditationsretreat erzählte einer unserer Lehrer eine Geschichte über eine Tagung in Indien mit dem Dalai Lama. Eine Gruppe westlicher buddhistischer Lehrer hatte ihn gefragt, was für ihn die wichtigste Botschaft sei, die sie ihren Meditationsschülern zu Hause mitbringen könnten. Er dachte einen Moment nach, dann nickte der Dalai Lama und lächelte breit. „Sagen Sie ihnen, dass sie das Vertrauen haben können, dass ihr Herz und ihre Bewusstheit inmitten aller Umstände erwachen.“ Dies ist mir seitdem immer gegenwärtig geblieben.

      Wir sehnen uns danach, angesichts von Schwierigkeiten das Vertrauen zu haben, dass wir den Weg nach Hause zu unserer inneren Weisheit und zu Mitgefühl finden. Achtsamkeitstraining kultiviert dieses Vertrauen, aber nicht notwendigerweise sofort! Ich habe gesehen, wie für viele Menschen der Grund, der sie am meisten davon abhält, bei der Achtsamkeitspraxis zu bleiben, das Gefühl des Zweifels ist: „Ich mache das nicht richtig. Ich verstehe es nicht. Das funktioniert nicht.“ Therapeuten, die ich in Achtsamkeit unterrichtet habe, sowie meine Klienten und Schüler, erzählen mir, dass sie sich regelmäßig in zwanghaften Gedanken verlieren, dass sie nicht fähig sind, eine Erfahrung von „Hier sein“ in achtsamer Präsenz aufrechtzuerhalten. Sie fragen sich, warum meditieren so schwer ist.

      Trainieren unserer Aufmerksamkeit ist schwer. Wie andere Autoren dieses Buches ausführen werden, braucht es Zeit und wiederholtes Üben, um die Hirnstrukturen umzuformen, die unsere mentalen und emotionalen „Grundeinstellungen“ verkörpern. Wenn wir Aufmerksamkeit trainieren, bewegen wir uns auch gegen den Strom unserer Kultur mit ihren unaufhörlichen Ablenkungen und mit Multitasking. Und noch wichtiger ist, dass wir lernen, uns anders zu verhalten, als wir in zahllosen Stunden in Gedanken verloren und unbewusst getrieben von Wünschen und Ängsten gelernt und eingeübt haben. Es ist so, als verbrächten wir unser Leben auf einem Fahrrad und strampelten wild, um vom gegenwärtigen Moment wegzukommen. Wir strampeln, um uns gegen das zu stemmen, was passiert, wir strampeln, um zu versuchen, etwas geschehen zu lassen, wir strampeln, um zu versuchen, irgendwo anders hin zu gelangen. Je mehr wir das Gefühl haben, es fehlte uns etwas oder etwas stimmte nicht, um so schneller strampeln wir. Selbst mitten in einer Meditation können wir wahrnehmen, dass wir strampeln – dass wir uns anstrengen, bei der Atmung zu bleiben, dass wir einer Fantasie nachjagen oder versuchen, etwas herauszufinden. Beim Training in Achtsamkeit fühlt man sich zwangsläufig mangelhaft, wenn man nicht respektvoll die Stärke der Konditionierung anerkennt, vor Präsenz wegzulaufen: Wir sind aber nicht schuld daran! (Siehe Kapitel 18.) Wie können wir vor dem Hintergrund dieser Konditionierung dem Rat des Dalai Lama folgen und unserem Herzen und unserer Bewusstheit vertrauen?

      Die wichtigsten Elemente beim Kultivieren von Vertrauen sind Absicht und Aufmerksamkeit. Der Zenmeister Shunryu Suzuki (2007) sagte: „Das Wichtigste ist herauszufinden, was das Wichtigste ist“ (S. 79). Wenn wir die aufrichtige Absicht haben, in jedem Teil unseres Lebens präsenter zu werden, wird das die Tür öffnen. Und wenn wir daran denken, anzuhalten und unsere Aufmerksamkeit anzuwenden, wann immer wir merken, dass wir uns in einer Trance verloren haben – wenn auch nur für ein paar Minuten –, dann sind wir auf dem Weg nach Hause.

      Zu dieser Heimkehr kann es in jeder Situation kommen. Wir können uns mitten im Streit mit unserem Partner befinden, und statt noch etwas zu sagen, um unseren Standpunkt zu belegen, halten wir inne. In dieser Pause können wir uns erlauben, mit der Unsicherheit oder der Verletzung und dem Schmerz in Kontakt zu kommen, die unter unserer Abwehrhaltung liegen, was dann die Tür zu aufrichtiger Kommunikation und zu mehr gegenseitigem Verständnis öffnen kann. Wir können übertrieben streng mit uns sein, weil wir zu viel gegessen oder eine schlechte Stunde gegeben haben. Aber wenn wir daran denken, innezuhalten und den Schmerz noch einmal zu spüren, der damit verbunden ist, dass wir mit uns selbst hadern, kann sich der Raum für Selbstmitgefühl öffnen (siehe Kapitel 6 und 7). Es kann


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