Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie. Christopher Germer

Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie - Christopher Germer


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und Angst wahrnehmen, nicht gut genug zu sein. Wir können Klienten genauer zuhören, wenn wir achtsam mit unserer Erfahrung in Kontakt sind und sie anerkennen.

      Wenn wir innehalten und in achtsamer Präsenz ankommen, entsteht Raum dafür, dass sich unsere natürlich intuitive Intelligenz und Anteilnahme einstellen können. Unser Leben wird reich an Möglichkeiten und Verbundenheit mit allem Leben wird überall klarer wahrnehmbar. Mit der Zeit erschließt achtsame Präsenz die Kraft unseres Herzens und unserer Bewusstheit und ermöglicht uns, Mitgefühl und Weisheit, die uns angeboren sind, zu vertrauen und sie zu verkörpern. Darüber hinaus werden wir immer mehr sehen und anerkennen, dass diese selbe grundlegende Güte durch unsere Klienten und alle Menschen hindurch scheint, denen wir begegnen.

      KAPITEL 3

      Leben mit Mitgefühl und Weisheit aufbauen

      BARBARA FREDRICKSON

      Liebe, Mitgefühl und Toleranz sind Notwendigkeiten, kein Luxus. Ohne sie kann die Menschheit nicht überleben.

      TENZIN GYATSO, DER 14. DALAI LAMA (1999, S. 3)

      Jemand schneidet Sie im Straßenverkehr.

      Ihr Chef übersieht Ihre vielen Beiträge zur Leistung eines Teams, während er andere lobt.

      Ihr Partner fährt Sie an und sagt Ihnen, Sie sollten sich zurückhalten und aufhören.

      Diese und andere Vorfälle können Ärger oder Wut, Verzweiflung, eine zunehmende Verschlechterung des inneren Zustands und eine ganze Menge verwandter schmerzhafter Empfindungen und destruktiver Verhaltensweisen auslösen. Schließlich sind wir nur Menschen.

      Doch als Menschen haben wir eine große Wahlfreiheit, wie wir auf die Fallstricke im täglichen Leben reagieren. Was wäre nötig, damit wir diese und andere aufregende Situationen ohne inneren Aufruhr oder äußere Destruktivität erleben können? Ist das möglich?

      Es ist tatsächlich möglich. Was es braucht, ist eine gesunde Dosis an Mitgefühl und Weisheit, die zentralen Themen dieses Buches: Mitgefühl, um andere anzunehmen und sogar zu lieben, wie sie sind, auch wenn sie uns mit unerwartetem und schwierigem Verhalten konfrontieren; Weisheit, um zu erkennen, dass ihr Verhalten oft aus ihrem eigenen Leiden und ihrer eigenen tief verwurzelten Konditionierung durch vergangene Erfahrungen entsteht.

      Man beginnt eine Psychotherapie, weil man leidet, entweder unter unerwünschten schmerzhaften Emotionen oder unter destruktiven Verhaltensmustern. Klienten wie Therapeuten formulieren oft Glück als das eigentliche Ziel und sehen Psychotherapie als einen Prozess, in dem Leiden gelindert und Bedingungen für Glück kultiviert werden. Dieses Verständnis des therapeutischen Prozesses ist zwar edel und richtig, aber verbirgt dennoch die wichtige Rolle positiver Emotionen. Mehr als ein Jahrzehnt empirischer Arbeit an der Broaden-and-build-Theorie positiver Emotionen (Fredrickson, 1998, 2001) lassen diese als wichtige Motivation für persönliches Wachstum und Resilienz erkennen, und nicht einfach als ihre Produkte. Anders gesagt, Emotionen wie Freude, Heiterkeit, Dankbarkeit, Liebe und Mitgefühl neben inneren Haltungen wie Gleichmut sind wichtige Hilfsmittel in der psychotherapeutischen Ausstattung und nicht nur das, woran man Erfolg messen kann.

      In diesem Kapitel beschreibe ich, wie positive Emotionen die Sicht auf das Leben erweitern und persönliche Fähigkeiten wie Achtsamkeit und die Fähigkeit, mit Menschen in Kontakt und verbunden zu sein, aufbauen und stärken. Dann zeige ich, wie vorübergehende Zustände von Mitgefühl und Weisheit zu stabileren Zügen der Persönlichkeit werden können. Schließlich stelle ich zwei Übungen vor, die Therapeuten und ihren Klienten helfen können, positive Emotionen – Liebe, Freundlichkeit, Dankbarkeit, Freude – häufiger in ihrem Alltag zu empfinden.

      Positive Emotionen als Mittel, nicht als Ziel

      Positive Emotionen öffnen den Geist

      Die erste Grundannahme der Broaden-and-build-Theorie besagt, dass positive Emotionen die Bewusstheit von Menschen erweitern, indem sie ihnen vorübergehend erlauben, mehr kontextuelle Informationen über ihre Umgebung aufzunehmen, als sie das in neutralen oder negativen Zuständen tun (Fredrickson, 1998, 2001). Diese momentane kognitive Wirkung positiver Emotionen wurde mit einem breiten Spektrum genau kontrollierter Experimente belegt, die in einer Vielzahl von Laboratorien durchgeführt wurden. Zum Beispiel hat man in Verhaltenstests, mit Tests, die die Millisekunden dauernde Reaktionszeit subtiler Verhaltensreaktionen messen (Rowe, Hirsh & Anderson, 2007), und mit Techniken zur Blickerfassung (Eye-Tracking) (Wadlinger & Isaacowitz, 2006) gezeigt, dass experimentell induzierte positive Emotionen den Horizont visueller Aufmerksamkeit erweitern (Fredrickson & Branigan, 2005). Mehr noch, Experimente mit bildgebenden Verfahren (zum Beispiel funktionaler Magnetresonanztomografie, fMRT) zeigen, dass positive Emotionen auf sehr frühen Stufen der Codierung der Wahrnehmung das Gesichtsfeld erweitern (Schmitz, De Rosa & Anderson, 2009; siehe auch Soto et al., 2009). Positive Emotionen erweitern demnach ganz wörtlich die Sicht von Menschen der Welt um sie herum.

      Obwohl die Erweiterung von Bewusstheit, die positive Emotionen begleitet, so subtil und kurzlebig wie die Emotion selbst ist, ist sie für Zuwächse an Kreativität verantwortlich, die mit Positivität in Beziehung stehen (Rowe et al., 2007). Sie kann auch gut die folgenden dokumentierten positiven Wirkungen positiver Emotionen erklären: die positive Wirkung auf das autobiografische Gedächtnis (Talarico, Berntsen & Rubin, 2009), auf integrative Entscheidungsfindung (Estrada, Isen & Young, 1997), auf Leistung bei Tests und bei der Arbeit (Bryan & Bryan, 1991; Staw & Barsade, 1993), auf Coping und Resilienz (Fredrickson, Mancuso, Branigan & Tugade, 2000; Tugade & Fredrickson, 2004), auf zwischenmenschliches Vertrauen (Dunn & Schweitzer, 2005), soziale Verbundenheit (Johnson & Fredrickson, 2005; Waugh & Fredrickson, 2006), Teamarbeit (Sy, Cote & Saavedra, 2005) und auf die Fähigkeit, zu verhandeln (Kopelmann, Rosette & Thompson, 2006). Kurz, offene und flexible Bewusstheit ist eine Kerneigenschaft positiver emotionaler Zustände.

      Positive Emotionen transformieren Leben

      Die zweite Grundannahme der Broaden-and-build-Theorie besagt, dass sich mit der Zeit die momentanen Zustände erweiterter Bewusstheit, die von positiven Emotionen hervorgerufen werden, sammeln und verfestigen und dauerhafte persönliche und soziale Ressourcen bilden, die das Leben letztlich zum Besseren umformen (Fredrickson, 1998, 2001, 2011). Im Kontext der Psychotherapie bedeutet dies, dass Ressourcen gebildet und Resilienz aufgebaut werden, die zukünftiges Leiden minimieren und Wohlbefinden kultivieren helfen, wenn man Klienten spezifische Techniken zeigt, mit denen sie selbst positive Emotionen bei sich hervorrufen können – was ihnen ermöglicht, ihre tägliche Zufuhr an solchen Emotionen zu steigern. Jüngere randomisierte kontrollierte Tests haben die Wirkungen untersucht, wenn man Probanden die Meditation Liebender Güte als ein Mittel beibringt, häufiger positive Emotionen selbst zu erzeugen. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Meditation Liebender Güte viele positive Emotionen zuverlässig steigert. Dauerhaftigkeit und Breite dieser Wirkungen lassen die Schlussfolgerung zu, dass eine anhaltende Zunahme positiver Gefühle tatsächlich möglich ist, besonders wenn der Meditationspraxis mehr Zeit gewidmet werden kann (Cohn & Fredrickson, 2010; Fredrickson, Cohn, Coffey, Pek & Finkel, 2008).

      Am wichtigsten ist jedoch, dass die Zunahme positiver Emotionen, die bei Menschen beobachtet wurde, die die Meditation Liebender Güte praktizieren, auch ihre persönlichen Ressourcen steigerte, darunter ihre Achtsamkeit,


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