Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie. Christopher Germer

Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie - Christopher Germer


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ist, bedeutet dies, dass man den Geist mit seinem Potential für diese Weisheit harmonisiert, wenn man sich in diesem Mitgefühl ausbildet, bevor man diese Weisheit direkt verwirklicht hat. Mit anderen Worten, wenn man universelles Mitgefühl übt, ist das eine Hilfe dabei, wenn man den Geist aus den engen Grenzen seines Klammerns an sich selbst und an einen Dualismus befreien möchte, indem man ihm den Mut und die Kraft verleiht, seine Bezugsrahmen in die grenzenlose Leere nicht konzeptueller Weisheit zu entlassen. Kultivieren von Weisheit grenzenloser, ungeteilter Leere stärkt seinerseits weiter ein analog grenzenloses, unparteiliches Mitgefühl (Harvey, 1990; Makransky, 2010). In den indischen Mahāyāna-Traditionen üben die Schüler ausgiebig Meditationen von Mitgefühl, um ihrem Geist die Kraft zu verleihen, nicht konzeptuelle Weisheit zu verwirklichen, und wenn nicht konzeptuelle Weisheit auftaucht, wird sie genutzt, um Mitgefühl zu stärken.

      Die systematische Kultivierung von Mitgefühl und Weisheit wird in einem Text von Kamalashīla, einem indischen Mahāyāna-Lehrer des 8. Jahrhunderts, mit dem Titel Die Essenz der Meditation (Dalai Lama, 2005) erklärt. Er gibt Anleitungen dafür, wie man Mitgefühl für nahestehende, für neutrale und für feindliche Personen kultivieren kann, was letztlich in Mitgefühl für alle Lebewesen kulminiert. Auf jeder Stufe reflektieren wir über die Identität von uns selbst und anderen in den drei Ebenen von Leiden und ihrem Wunsch, von Leiden frei zu sein. Wir reflektieren auch über unsere Beziehung mit allen anderen durch wechselseitige Verbundenheit, und wir fangen an zu lernen, alle als Teil unserer eigenen leidenden Familie zu betrachten.

      Wie Sie vielleicht bemerken, ähnelt diese Meditation der Kultivierung von Mitgefühl im Theravāda, aber in der Mahāyāna-Tradition wird die Kraft des Mitgefühls unmittelbar in einen starken Wunsch geleitet, das Erwachen eines Buddha, also die Art Erleuchtung zu erlangen, die die kunstreichen Mittel besitzt, anderen zu helfen, Freiheit von Leiden zu finden. Dieser Wunsch wird der Geist (spirit) der Erleuchtung (bodhicitta) genannt und von dem Bodhisattva-Gelöbnis bestärkt, um aller Wesen willen die geschickten Mittel (upāya-kaushalya) von Mitgefühl und Weisheit zu verwirklichen (Dalai Lama, 2005). Mit der Kraft dieses feierlichen Gelöbnisses tritt der Bodhisattva in Stufen meditativer Konzentration ein, die dem Geist genug Stabilität verleiht, die substanzlose Natur aller Aspekte der Erfahrung zu untersuchen, bis nicht konzeptuelle Weisheit aufscheint. Diese Weisheit der Leere stärkt das Mitgefühl des Bodhisattva mit allen, die dadurch leiden, dass sie an dem hängen, was leer ist (Dalai Lama, 2005). Das gibt seinem Geist die Kraft, sich tiefer in die Weisheit zu lassen. Diese Synergie von Mitgefühl und Weisheit kommt dadurch zur Wirkung, dass der Bodhisattva auf dem Weg zur Buddhaschaft die sechs Vollkommenheiten praktiziert – indem er auf jeder Stufe mitfühlend seine Zeit, Energie, Geduld, seine Ressourcen und seine Kraft der Präsenz auf jede nur mögliche Weise einsetzt, um das Leiden der Wesen zu erleichtern und aufzulösen, während er die leere Natur all solcher Aktivität anerkennt.

      In Trainingssystemen des tibetischen Mahāyāna, die auf solche indischen Systeme der Praxis zurückgehen, wird Mitgefühl kultiviert, indem man sich an seine Mutter als Quelle Liebender Güte erinnert und damit bei sich eine natürliche Antwort mit Liebe hervorruft. Diese Antwort mit Liebe wird dann auf alle Wesen als frühere Mütter übertragen, deren Leiden auf allen drei Ebenen zum Gegenstand des eigenen allumfassenden Mitgefühls wird. Dieses Mitgefühl ruft den eigenen Wunsch wach, Wesen zu helfen, Freiheit von Leiden zu finden, indem man ihnen hilft, ihr Potential voll zu verwirklichen (Harvey, 2000; Makransky, 2010).

      Austausch des selbst und des anderen

      Ein anderer bekannter indischer Lehrer des 8. Jahrhunderts, Shāntideva, weist darauf hin, dass die Konzepte von Selbst und von anderen ihrem Wesen nach konstruiert sind, und zeigt uns damit, wie wir diese Begriffe neu verwenden können, um unsere Welt zu einem Ausdruck von Mitgefühl und Weisheit umzugestalten und uns dadurch auf den Weg eines Bodhisattva zu bringen. Selbst und andere sind rein relative, kontextuelle Begriffe, argumentiert Shāntideva, wie dieses Ufer und das andere Ufer eines Flusses. Keine Seite eines Flusses ist an sich eine „anderes Ufer“ (Harvey, 2000). In ähnlicher Weise ist es ein kognitiver Irrtum, andere Wesen für an sich „andere“ zu halten. Denn alle sind aus ihrer eigenen Perspektive „selbst“; und alle sind in ihrem tiefsten Potential, mit dem Verlangen nach Glück und den auf Täuschung beruhenden Mustern so wie man selbst; und alle sind im leeren Grund aller voneinander abhängigen Dinge ungetrennt von einem selbst (Wallace & Wallace, 1997). Wenn wir über die Identität von uns selbst und anderen und über den gewaltigen Nutzen, den es für unseren Geist hätte, wenn wir die gewohnten Konstrukte von Selbst, anderen und damit verbundenen Gefühlen rückgängig machten, in solcher Weise nachdenken, erforschen wir, wie es ist, wenn wir andere als uns selbst sehen, während wir uns selbst als einen neutralen anderen empfinden. Durch diese Übung entdecken wir, dass die große Last und das Leiden, das darin besteht, dass wir uns vorzüglich vor anderen an uns selbst klammern, leichter werden. Wir können zunehmend das Mitgefühl und die Weisheit auftauchen lassen, von denen aus wir empfinden und erkennen, dass alle Wesen wie wir selbst sind (Wallace & Wallace, 1997).

      In Tibet hat diese Technik des „Austauschs des Selbst und des anderen“ die Form der Tong-len-Meditation, bei der man sich selbst an die Stelle des anderen setzt. Dabei stellt man sich vor, dass man das Leiden anderer in den leeren Grund seines Seins aufnimmt, während man anderen freigebig alle eigenen Tugenden, Wohlsein und Ressourcen anbietet (Anleitung siehe Kapitel 7). Diese Vorstellung hilft, den eigenen Geist mit der Weisheit der Leere in Übereinstimmung zu bringen, die andere Menschen als letztlich ungetrennt von uns selbst erkennt, und verleiht dieser weisen Einsicht ihren fundamentalsten mitfühlenden Ausdruck (Chödrön, 2003). Die Kraft des Tong-len besteht zum Teil darin, wie diese Form der Meditation auch verwendet wird, um den Kontext unserer eigenen Erfahrungen von Leiden zu verändern und sie zu transformieren. Wenn wir Schwieriges durchleben, spüren wir mitten durch unser eigenes Leiden das Leiden, das viele andere durchmachen, und stellen uns dann vor, dass wir mit Freude jene anderen von ihrem Leiden befreien, indem wir unser eigenes um ihretwillen auf uns nehmen. Menschen haben leicht das Gefühl, dass sie zum Beispiel der Kummer über einen Verlust von anderen isoliert. Bei dieser Praxis aber spüren wir durch unsere eigenen Gefühle von Verlust und Kummer, was viele andere fühlen, und stellen so eine starke empathische Verbindung mit ihnen her. Und diese Verbindung hilft uns, die Fixierung auf das Bewusstsein eines isolierten Selbst zu lockern, uns in die leere Essenz der Erfahrung zu entspannen und zu spüren, dass wir selbst und andere eigentlich ungetrennt sind. So werden wir für andere in Beziehung und dienender Hinwendung mehr präsent. Wenn wir uns so mit angewandter Tong-len-Meditation vertraut machen, können wir allmählich lernen, unser ganzes eigenes Leiden auf den Weg von Mitgefühl und Weisheit sogar bis zum Tod mitzunehmen (Chödrön, 2001; Makransky, 2010).

      Mitgefühl im Vajrayāna

      Weitere Traditionen des Buddhismus entstanden in Indien vom 8. Jh. n. Chr. an, die Vajrayāna („diamantenes Fahrzeug“) genannt wurden und die bei der Verbreitung des Buddhismus nach Tibet und in andere Regionen des Himalaya eine zentrale Rolle spielten. Zum Teil auf der Grundlage der oben beschriebenen Lehren hatten einige Schulen des Mahāyāna die Auffassung vertreten, dass eine gewaltige Fähigkeit für Mitgefühl und Weisheit und für alle damit verbundenen Qualitäten des Erwachens angeboren und schon mit der tiefsten, unbedingten Natur unseres Geistes gegeben ist. Die Traditionen des Vajrayāna legen besondere Betonung auf diese Lehre von der Buddha-Natur. Mit Bezug auf diese Lehre wurden die grundlegenden Lehren über Leiden und seine Ursachen neu gefasst.

      Unsere Buddha-Natur

      Nach Auffassung des Vajrayāna ist unsere fundamentale Bewusstheit vor allen Mustern selbstbezogenen Anhaftens wesentlich unbedingt, rein und unkontaminiert. Unsere grundlegende Bewusstheit ist eine grenzenlose Weite der Leere und des Erkennens, die schon mit allumfassender Weisheit und allumfassendem Mitgefühl begabt ist, wie grenzenloser Raum, der von Sonnenlicht durchdrungen ist. Individuelle und sozial konditionierte Gewohnheiten, zu verdinglichen und festzuhalten, haben viel von diesem grundlegenden Potential verschüttet. Mitgefühl und Weisheit zu kultivieren, besteht daher nicht darin, neue innere Zustände zu erzeugen und sie stärker werden zu lassen (wie es im Theravāda und in einigen früheren Traditionen des Mahāyāna gesehen wurde), sondern vielmehr darin, dem Geist zu


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