Die achtsame Schule. Daniel Rechtschaffen
Elend und die Freude eines vollkommen Fremden Ihnen vorkamen wie Ihre eigenen?
In solchen Momenten ist unsere Aufmerksamkeit tief im gegenwärtigen Augenblick verankert, ohne dass unser Geist sich in Vergleichen und Bewertungen verliert. Diese Momente geschärften Gewahrseins entstehen oft spontan, doch wir praktizieren Achtsamkeit, damit wir sie nicht bloß in Ausnahmesituation, sondern auch in unseren alltäglichen Momenten genießen können. Wenn Sie gehen und die Berührung Ihrer Füße auf dem Boden und das Einströmen der audiovisuellen Reize bewusst wahrnehmen, dann gehen Sie achtsam. Wenn Sie autofahren und sich der vorbeiflitzenden Straßenschilder und des Gefühls des Lenkrads in Ihrer Hand bewusst sind, dann fahren Sie achtsam Auto. Das mag einfach klingen, doch überlegen Sie einmal, wie oft Sie schon Ihren Wagen quer durch die Stadt gelenkt haben und die ganze Fahrt über in irgendwelche Gedanken vertieft waren. Achtsam zu sein, könnte Ihnen das Leben retten.
Achtsamkeit ist nicht irgendeine neumodische Erfindung. Es ist nicht nötig, dass Sie diese Achtsamkeit für sich und Ihre Schüler neu entwickeln; wir werden mit ihr geboren. Ja, in gewisser Weise sind Kinder wesentlich achtsamer als Erwachsene. Ein Kind, das mit großen staunenden Augen ein Blatt betrachtet, ist ein großartiges Beispiel für Achtsamkeit. Wenn Babys beginnen, die Welt zu erkunden, dann ist alles neu und wundersam. Natürlich ist 20, 30 oder 40 Jahre später immer noch alles wundersam, doch mit dem Erwachsenwerden hat unser Geist scheinbar gelernt, die wundersamen Dinge banal zu finden. Die Neuropsychologie zeigt, dass das Gehirn eines Säuglings doppelt so aktiv und anpassungsfähig ist, wie das Gehirn eines 18-jährigen. So wie ein Kind beim Guckguck-Spielen denkt, dass die Welt hinter seinen Händen verschwindet, erliegen Erwachsene dem Irrglauben, dass die große weite Welt verschwunden ist, obwohl sie eigentlich nur ihr Gewahrsein eingeschränkt haben. Wir schaffen es tatsächlich in einem Flugzeug zu sitzen, das über schneebedeckte Berggipfel fliegt und – nur gelegentlich von unserem Sudoku-Rätsel aufblickend – uns zu langweilen. Nur allzu leicht verbringen wir unsere Zeit damit, Zukunftspläne zu schmieden, uns Sorgen zu machen oder an irgendwelchen elektronischen Geräten herumzuhantieren, während die Schönheit des Lebens an uns vorüberzieht.
Es ist nie zu spät, dem Geheimnis und dem Rausch unseres Daseins zu verfallen. Achtsamkeit lädt uns ein, zur Kostbarkeit des jetzigen Augenblicks zurückzukehren. Kinder sind im gegenwärtigen Augenblick versunken und mein Anliegen ist es in erster Linie, das helle Gewahrsein, das ja bereits da ist, nicht kaputt zu machen. Zu Beginn sage ich meinen Schülern, dass wir „Achtsamkeit spielen“ werden. Es gibt keine Hausaufgaben, keine Tests und man kann überhaupt gar nichts falsch machen. Denn im Laufe unseres Erwachsenwerdens wurde uns eingetrichtert, dass man alle Fragen richtig beantworten muss, um geliebt zu werden. Der achtsame Weg räumt mit einigen dieser alten Überzeugungen auf, damit wir glücklich sein können, so wie wir sind. Achtsamkeit führt uns Erwachsene zurück zur unmittelbaren Begegnung mit dem gegenwärtigen Augenblick, wie ein Niederknien, um dem Jetzt sein Jawort zu geben.
* Oprah Winfrey ist eine bekannte US-amerikanische Talkshow Moderatorin (Anm. d. Übers.).
Die achtsame Revolution des Erziehungssystems
Hinter den Gittern seiner Jugendstrafanstalt sitzt der 17-jährige Damon auf seinem Stockbett und spürt die sanfte Bewegung seines Atems. Als ein weiterer wütender Gedanke auftaucht, erinnert er sich an seine Achtsamkeitslektion und bemerkt die Spannung in seinem Körper. Er lächelt dem vorbeiziehenden Gedanken zu und spürt wie sein ganzer Körper sich entspannt. Er nimmt die Weite in seinem Inneren wahr und ein Gefühl von Freiheit, von dem er nicht sicher ist, ob er es je zuvor empfunden hat.
Am anderen Ende der Stadt geht Susan in die Friedensecke ihres Klassenzimmers. Sie spürt ein beklemmendes Gefühl in ihrem Hals und ihrem Herzen – dasselbe Gefühl, das sie jedes Mal beschleicht, wenn eine Klassenarbeit ansteht. Sie setzt sich auf ein gemütliches Kissen, schließt ihre Augen und stellt sich vor, wie sie fest umarmt wird. Ihre Anspannung löst sich und Wärme breitet sich in ihrem Körper aus.
Als Susans Lehrerin Nia auf dem Weg zu einem Treffen mit der Direktorin der Schule ist, erinnert sie sich an die vergangenen Meinungsverschiedenheiten über Disziplin und Bestrafung. Sie nützt ihren achtsamen Atem, um inmitten der wirbelnden Gedanken und Gefühle ruhig und zentriert zu bleiben. Zu ihrer großen Überraschung möchte die Direktorin diesmal einen Rat von ihr. Wie kommt es, dass Nias Klasse in letzter Zeit die besten Arbeiten geschrieben hat und trotz allem, als einzige, nicht gestresst scheint? „Ist es diese Achtsamkeits-Sache? Können Sie uns beibringen, wie man das macht?“
Während Sie diese Worte lesen, trainieren Schüler in Ruanda, Israel, Jamaika, Kanada und den gesamten USA ihren Achtsamkeitsmuskel, sie öffnen ihr Herz der Dankbarkeit und Versöhnung, sie lernen zu entspannen und sich selbst zu lieben. Währenddessen erhalten Lehrer endlich die inneren Ressourcen, die sie so dringend benötigen, sie lernen Mitgefühl mit sich selbst zu haben, ihren Stress abzubauen und weitere unschätzbare Lektionen, die sie an ihre Schüler weitergeben können. Sie finden zu innerer Ruhe und mitfühlender Aufmerksamkeit, die das Unterrichten wieder zu der leidenschaftlichen Berufung werden lässt, die es ursprünglich war. Diese Bewegung nimmt im Herzen jedes einzelnen von uns ihren Ursprung und hat das Potential, die ganze Welt zu verändern.
Möchte nicht jeder von uns – Lehrer, Eltern und Kinder – lieber entspannt als gestresst sein, lieber glücklich als deprimiert, lieber aufmerksam als unaufmerksam? Möchten wir uns nicht alle körperlich, geistig und emotional ausgeglichen fühlen? Natürlich möchten wir das. Es fühlt sich einfach besser an.
Schüler werden tausende Male dazu angehalten, aufmerksam zu sein, aber man sagt ihnen nur sehr selten, wie man das macht. Wir sagen unseren Kindern immer wieder, sie sollen nett zueinander sein, ohne ihnen jemals die leicht verständlichen Übungen zu vermitteln, die Mitgefühl und Versöhnung fördern. Wir halten Schüler dazu an, nicht so impulsiv zu reagieren, wir stecken sie sogar in Jugendstrafanstalten – alles nur weil sie die Unruhe in ihrem eigenen Körper nicht regulieren können. Es gibt Mittel, um Impulskontrolle, Aufmerksamkeit und Mitgefühl zu entwickeln, nur werden sie jungen Menschen sehr selten vermittelt. Achtsamkeit hat sich seit Jahrtausenden als effektives Training für diese Qualitäten erwiesen und die Forschung scheint ihren großen gesundheitlichen Nutzen in zunehmendem Maße zu bestätigen.
Viele im Bildungsbereich tätige Menschen setzen nun auf Achtsamkeit als Gegenmittel zur wachsenden Dysregulation der Jugend in unserer Gesellschaft. Die Statistiken sind beunruhigend und bestätigen die Sorge von Lehrern und Eltern. Ernsthafte psychologische Störungen zeigen sich in immer größerer Anzahl in immer jüngeren Jahren. Das National Institute of Mental Health meldet: „Etwa einer von vier Jugendlichen in den USA erfüllt die Kriterien einer psychischen Störung mit schwerwiegender Beeinträchtigung im Laufe seines weiteren Lebens.“ (Merikangas, K. R. u. a., 2010) Das können wir an Gesundheitsindikatoren der unterschiedlichsten Bereiche beobachten: Fettleibigkeit, Autismus, Hyperaktivitätssyndrom, Angstzustände, Depressionen, Mobbing – sei es nun auf sozialer, psychologischer oder physischer Ebene, der Trend weist in eine beunruhigende Richtung.
Es ist sicher interessant, was Erziehungsexperten, Entwicklungspsychologen und Neurowissenschaftler dazu zu sagen haben, doch das wichtigste ist wohl, dass wir unseren Kindern zuhören. Unsere Kinder sind das schwächste Glied in dieser Kette, sie sind die verletzlichsten Mitglieder unserer Gesellschaft, sie reagieren auf die Stressoren unserer Welt. Was in unserer Erwachsenenwelt unter den Teppich gekehrt wird, tritt in den Sandkastenspielen unserer Kinder wieder zu Tage. Wenn ich in meiner Praxis mit kleinen Kindern arbeite, dann fordere ich sie auf, in einem kleinen Sandkasten mit meiner Figurensammlung zu spielen. Die Szenarien, die die Kinder darstellen, repräsentieren ihre ungelösten emotionalen Erfahrungen. Ein Kind, das häusliche Gewalt erlebt hat, legt ein Baby in eine Krippe, die von Wölfen umzingelt ist; ein Kind dessen Eltern sich scheiden lassen, nimmt zwei Häuser und stellt dazwischen eine Wand auf. Die Kinder stellen ihre emotionale Verfassung mit Symbolen dar und versuchen sie dann spielerisch zu lösen. Die Stressoren, mit denen Kinder aufwachsen, beeinflussen die Struktur ihres Gehirns und ihres Körpers und somit auch, wer sie für den Rest ihres Lebens sein werden.
Während Kinder die täglichen Nachrichten von Schulmassakern, Kriegen und steigendem Meeresspiegel mitanhören, entwickelt sich ihr Körper und Geist inmitten dieser Unzahl an Stressoren.