Achtsamkeit Bd. 1. Joseph Goldstein
Sunim fasst die Quintessenz der Integration von Leerheit und Karma mit den Worten zusammen: »Es gibt weder richtig noch falsch, doch richtig ist richtig und falsch ist falsch.«
Es reicht jedoch nicht, Karma einfach zu verstehen; wir müssen dieses Verständnis auch in unserem Leben umsetzen. Denken wir daran, unsere Absicht zu erforschen, wenn wir handeln wollen oder wenn bestimmte Gedanken oder Gefühle dominieren? Fragen wir uns: »Ist dieses Handeln oder dieser Geisteszustand geschickt oder ungeschickt? Ist dies etwas, was ich kultivieren oder aufgeben will? Wohin führt diese Absicht? Will ich da wirklich hin?«
1. Anālayo, Der direkte Weg. Aus dem Englischen übersetzt von Ilse Maria Bruckner und Siegfried C.A. Fay, Verlag Beyerlein & Steinschulte, Stammbach 2010. https://www.buddhismuskunde.uni-hamburg.de/pdf/5-personen/analayo/direkte-weg.pdf. (Da der Text online steht, sind bei den betreffenden Zitaten keine Seitenzahlen angegeben. Jede Stelle kann leicht mit der Suchfunktion gefunden werden.)
2. Zitiert in Dilgo Khyentse Rinpoche, »Teachings on Nature of Mind and Practice«, Tricycle: The Buddhist Review, Winter 1991.
3. Shabkar Tsogdruk Rangdrol, Das Leben des Shabkar, Manjughosha Edition, Berlin 2011, 58–59.
4. Aus der Dhammapada. Es gibt zahllose Übersetzungen der Dhammapada. Dies ist meine eigene Version, die sich im Laufe der Jahre bei der Lektüre verschiedener Quellen herausgebildet hat.
2. Wissensklarheit
Klares Verstehen kultivieren
Sampajañña ist der Pali-Ausdruck für die zweite Qualität des Geistes, die der Buddha im ersten Absatz des Satipaṭṭhāna Sutta erwähnt. Er wird meistens mit »Wissensklarheit«, »klares Verstehen« oder »Wachheit« übersetzt und verweist auf die Fähigkeit, klar zu begreifen, was geschieht. Hier geht es um den Forschungs- und Weisheitsaspekt der Achtsamkeit. Wir werden uns diese Qualität im 9. Kapitel – »Achtsamkeit auf die Handlungen« – noch detailliert anschauen.
Das Kultivieren des klaren Verstehens – uns dessen bewusst zu sein, was wir tun und warum wir es tun – ist eine tiefe, transformierende Praxis. Dahinter steht ein Verständnis von Achtsamkeit, das über einfaches Präsent-Sein hinausgeht. Durch klares Verständnis kennen wir den Zweck und die Eignung dessen, was wir tun, und verstehen die Motivation hinter unseren Handlungen. Häufig merken wir, dass wir mitten in einem Verhalten stecken, ohne recht zu wissen, wie wir dorthin gekommen sind. Haben Sie sich je mit der Hand im Kühlschrank ertappt, ohne sich vorher über das Verlangen, die Entscheidung und die Angemessenheit dieses Tuns bewusst gewesen zu sein? Indem wir uns selbst bei kleinen Dingen unseres Handelns voll bewusst sind, wird es möglich, auch die dahinterliegende Absicht zu bemerken und uns zu überlegen: Ist diese Absicht, dieses Handeln, geschickt oder nicht, ist es nützlich oder nicht?
Zur Zeit des Buddha lebten ein paar Mönche zusammen in einem Wald. Der Buddha besuchte sie und fragte sie, ob sie alle harmonisch zusammenlebten. Anuruddha, einer der großen Schüler des Buddha, antwortete: »Warum sollte ich nicht beiseitelegen, was ich tun will, und das tun, was diese Ehrwürdigen wünschen?« Und alle anderen Mönche antworteten auf dieselbe Weise. Wenn wir klar wissen, was wir tun, können wir liebende Güte im Alltag leben, statt sie nur auf dem Meditationskissen zu praktizieren.
Der eigenen Motivation bewusst zu sein, spielt auf dem Weg zur Befreiung eine zentrale Rolle. Mit zunehmendem Gewahrsein unserer selbst fangen wir an zu erkennen, dass unsere Praxis nicht nur uns selbst, sondern dem Wohlergehen und Glück aller Wesen dienen kann. Wie kann unsere Praxis dem Wohlergehen anderer dienen? Wie kann die Wahrnehmung des eigenen Atems oder ein achtsam gegangener Schritt irgendjemandem helfen? Das geschieht auf verschiedene Weise. Je mehr wir unseren eigenen Geist verstehen, desto besser verstehen wir alle anderen. Wir spüren immer mehr die Gemeinsamkeit unseres menschlichen Daseins, was Leiden erzeugt und wie wir davon frei sein können.
Unsere Praxis dient anderen auch durch die Transformation dessen, wie wir in der Welt sind. Indem wir akzeptierender, friedvoller, weniger verurteilend und weniger selbstsüchtig sind, wird die ganze Welt liebevoller und friedvoller, weniger verurteilend und weniger selbstsüchtig. Unser Geist-Körper ist ein schwingendes, vibrierendes Energiesystem. Wie wir sind, beeinflusst daher unausweichlich alle um uns herum.
Auf einem in einem Sturm schwankenden Schiff kann ein weiser, ruhiger Mensch alle in Sicherheit bringen. Diese Welt ist wie solch ein Schiff, das vom Sturm der Gier, des Hasses und der Angst umhergeworfen wird. Können wir einer der Menschen sein, die zur Sicherheit beitragen? Der Buddha trug seinen ersten sechzig erleuchteten Schülern Folgendes auf:
»Geht, ihr Bhikkhus, in die Welt, vielen Wesen zum Wohl, vielen Wesen zum Glück, aus Mitgefühl mit der Welt, zum Wohl und Glück der Götter und Menschen. Geht nicht zu zweit denselben Weg. Lehrt, ihr Bhikkhus, den Dhamma, der vorzüglich am Anfang, vorzüglich in der Mitte und vorzüglich am Ende ist. … Verkündet das Heilige Leben, das vollkommen und rein ist.«1
In gewissem Maße können wir in ihre Fußstapfen treten.
1. Nārada Thera, The Buddha Dhamma or The Life and Teachings of the Buddha (New Delhi, India: Asian Educational Services, 1999), 69. Dt.: http://www.palikanon.com/vinaya/mahavagga/mv01_02_07-14.html.
3. Achtsamkeit
Das Tor zur Weisheit
Achtsamkeit, die dritte Qualität, die der Buddha erwähnt, ist die Übersetzung für den Pali-Begriff Sati und spielt in jeder buddhistischen Tradition eine zentrale Rolle. Durch Sati wird jeder spirituelle Weg erst möglich. Achtsamkeit hat verschiedene Bedeutungen und Funktionen, die alle entscheidend wichtig sind, um Weisheit zu entwickeln. Ein Verständnis dieser vielfältigen Bedeutungen eröffnet uns neue Möglichkeiten, wie die Kraft der Achtsamkeit unser Leben transformieren kann.
GEWAHRSEIN DES GEGENWÄRTIGEN AUGENBLICKS
Achtsamkeit wird meistens im Sinn von geistiger Präsenz, Wachheit, Bewusstheit des gegenwärtigen Augenblicks verstanden, also als Gegenteil von geistiger Abwesenheit. Wann immer wir verwirrt sind, können wir einfach zur Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks zurückkehren.
Nach einem meiner öffentlichen Vorträge kam eine Frau zu mir, die schon mehrere Retreats besucht hatte, und erzählte, sie sei kürzlich auf einer Kreuzfahrt gewesen. In ihrer Kabine habe eine Karte mit der Schiffsroute gehangen, auf der ein Pfeil die jeweilige Position mit den Worten anzeigte: »Sie sind hier!« Wo auch immer sie im weiteren Verlauf der Reise gewesen sei, was auch immer sie getan habe, diese Worte hätten sie stets daran erinnert, einfach präsent zu sein: »Sie sind hier!«
Wir kennen diesen Aspekt der Achtsamkeit, der unverwandten Aufmerksamkeit, des reinen Gewahrseins, aus der Erfahrung des Musikhörens. Während wir einer Musik wirklich lauschen, ist unser Geist offen und zugewandt. Wir versuchen nicht zu beeinflussen, was als Nächstes kommt, wir sinnen auch nicht über die letzten paar Takte nach. In der Fähigkeit zuzuhören liegt eine große Kraft: Diese Qualität der Empfänglichkeit kann intuitive Weisheit hervorrufen.
Mutter Teresa wurde einst von einem Journalisten gefragt, was sie sage, wenn sie zu Gott bete. »Ich sage gar nichts«, antwortete sie. »Ich höre nur zu.« Der Journalist fragte daraufhin, was Gott denn im Gebet zu ihr sage. »Er sagt gar nichts«, erwiderte sie. »Er hört nur zu. Und wenn Sie das nicht verstehen, kann ich es Ihnen auch nicht erklären.«1
DIE PRAXIS DES ERINNERNS
Eine weitere Bedeutung von Sati, die nicht so oft mit Achtsamkeit assoziiert wird, ist »Erinnern«. Sie bezieht sich auf die Praxis, uns auf Heilsames zu besinnen, um uns auf dem Weg