Achtsamkeit Bd. 1. Joseph Goldstein

Achtsamkeit Bd. 1 - Joseph  Goldstein


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nur zum Leidwesen unserer selbst und anderer beitragen und Schwierigkeiten bereiten sowie uns von Weisheit und Erwachen wegführen, ist in solchen Situationen ein wirksames Werkzeug und nicht nur ein Satz, den wir lesen können.

      In einem heilsamen Geisteszustand nimmt Achtsamkeit eine andere Form an. Dann brauchen wir sie nicht ganz so aktiv einzusetzen. Dies würde Geist und Körper nur stören. Der Buddha verglich diesen Aspekt der Achtsamkeit mit einem Kuhhirten, der seine Kühe nicht mehr ganz so sorgfältig überwachen muss, wenn die Ernte sicher eingefahren ist:

      »So wie im letzten Monat der heißen Jahreszeit, wenn alles Korn in die Dörfer eingebracht worden ist, ein Kuhhirte seine Kühe hüten würde, während er sich am Fuß eines Baums oder im Freien aufhält, da er nur darauf zu achten braucht, dass die Kühe anwesend sind; genauso bestand für mich nur die Notwendigkeit, achtsam darauf zu sein, dass jene Geisteszustände anwesend waren.

      Unerschöpfliche Energie wurde in mir hervorgebracht, und ununterbrochene Achtsamkeit wurde gegenwärtig, mein Körper war still und unbeschwert, mein Geist war konzentriert und einspitzig.«3

      In unserer Praxis des unermüdlichen, wissensklaren und achtsamen Verweilens lernen wir, die angemessene Balance zwischen Aktivität und Empfänglichkeit, zwischen Tun und Nicht-Tun zu finden.

      ERZEUGTE UND NICHT ERZEUGTE ACHTSAMKEIT

      Diese geschickten Mittel können uns helfen, die verschiedenen Weisen zu verstehen, wie buddhistische Traditionen von Achtsamkeit sprechen und damit auf weitere Nuancen unserer eigenen Praxis hinweisen. Jede Tradition verwendet ihre eigene Sprache und Gleichnisse, aber sie verweisen alle auf Aspekte unserer Erfahrung.

      Ein Aspekt der Achtsamkeit ist der kultivierte achtsame Zustand, in dem wir uns bemühen, aufmerksam zu bleiben. Wir brauchen diese Art der Achtsamkeit, um uns zurück in den Augenblick zu bringen. Tulku Urgyen Rinpoche, einer der großen Dzogchen-Meister des vergangenen Jahrhunderts, sagte: »Es gibt nur eines, was wir immer brauchen, das ist der Wächter namens Achtsamkeit, der aufpasst, wenn wir in die Achtlosigkeit abdriften.«

      In der Dzogchen-Tradition wird dies erzeugte Achtsamkeit genannt, was vielleicht dem ähnelt, was im Theravāda Abhidhamma veranlasste Bewusstheit heißt: die absichtliche, durch Reflexion oder Willensentscheidung herbeigeführte Bemühung, einen bestimmten Zustand zu erzeugen. Es gibt noch eine andere Art von Achtsamkeit, die nicht willentlich herbeigeführt wird. Wurde Achtsamkeit gut kultiviert, entsteht sie spontan aus eigener Kraft, ohne zusätzliches Bemühen. In diesem Zustand mühelosen Gewahrseins können wir weiterhin unterscheiden, ob ein Bezugspunkt der Beobachtung anwesend oder abwesend ist, ob es das Empfinden von jemandem ist, der beobachtet oder achtsam ist.

      Dzogchen-Lehren sprechen in diesem Zusammenhang auch von nicht erzeugter Achtsamkeit, womit in dieser Tradition die dem Geist natürlicherweise innewohnende Wachsamkeit gemeint ist. Sie ist »nicht erzeugt«, weil sie, diesen Lehren zufolge, nicht von uns erschaffen wird. Es ist vergleichbar mit der Fähigkeit eines Spiegels, jenes abzubilden, was vor ihn tritt. Diese Fähigkeit wohnt dem Spiegel naturgemäß inne. Aus dieser Perspektive ist dies nichts, was wir erwerben oder entwickeln müssten, sondern etwas, das wir erkennen und zu dem wir zurückkehren können.

      Die Lehren der verschiedenen Traditionen mögen unterschiedliche metaphysische Hintergründe haben, doch statt uns in philosophischen Debatten zu verstricken, können wir sie alle einfach als geschickte Mittel betrachten, um den Geist zu befreien. All diese verschiedenen Aspekte der Achtsamkeit wirken harmonisch zusammen. Nur wenige Menschen können einfach ununterbrochen in nicht erzeugter Achtsamkeit verweilen, ohne sich darum bemühen zu müssen. Doch wenn unser Einsatz Früchte trägt, erleben wir Phasen großer Leichtigkeit, in denen unsere Praxis einfach darin besteht, loszulassen, uns zu entspannen und die Dinge sich entfalten zu lassen.

      »Tatsächlich ist an diesem Geist nicht viel dran. Er ist nur ein Phänomen. Der Geist ist von sich aus bereits in Frieden. Wenn er jedoch nicht in Frieden ist, kommt das daher, dass er Stimmungen und Launen folgt. Er wird unruhig, wenn Stimmungen ihn trügen. Der ungeschulte Geist ist dumm; Sinneseindrücke verleiten ihn, und er verliert sich in Freude und Traurigkeit. Doch der Geist ist mit diesen Dingen nicht identisch. Freude oder Traurigkeit sind nicht der Geist selbst, sondern nur Stimmungen, die erscheinen und uns täuschen. Der ungeschulte Geist folgt diesen Dingen, und wir identifizieren uns dann jeweils mit dem Wohlsein oder Unwohlsein. Tatsächlich ist unser Geist von Natur aus bereits unbewegt und in Frieden, wirklich in Frieden. … Also müssen wir den Geist schulen, die Sinneseindrücke zu verstehen und sich nicht in ihnen zu verlieren. Dies ist das Ziel all der komplizierten Übungen, die wir uns auferlegen.«4

      Am Anfang des zweiten Bands werden wir die Achtsamkeit noch weiter untersuchen und betrachten, wie sie als einer der sieben Faktoren der Erleuchtung wirkt.

      1. Stephen Carter, Civility (New York: Harper Perennial, 1999).

      4. Konzentration

      Die gesammelte Natur des Geistes

      In seiner Definition des Satipaṭṭhāna empfiehlt uns der Buddha die Betrachtung der vier Grundlagen der Achtsamkeit – Körper, Gefühle, Geist und Dhammas –, »frei von Verlangen und Unzufriedenheit in Bezug auf die Welt«. »Frei von Verlangen und Unzufriedenheit« bezieht sich auf Samādhi, die Qualitäten der Konzentration, der Haltung und der Sammlung des Geistes, die entstehen, wenn der Geist frei von dem so oft auftauchenden Verlangen und der Unzufriedenheit ist.

      Es gibt verschiedene Wege, Konzentration zu entwickeln. Ajahn Sucitto, ein englischer Mönch der thailändischen Waldtradition, spricht davon, dass sich Samādhi auf natürliche Weise entwickelt, wenn wir uns unserer verkörperten Präsenz erfreuen, uns im Körper niederlassen und dem Stress und der Anspannung erlauben, sich aufzulösen, indem wir einfach uns dessen bewusst sind, was sich zeigt. Er sagt:

      »Freude empfangen ist ein anderer Ausdruck für Sich-Freuen, und Samādhi ist der Akt des verfeinerten Sich-Freuens. Es beruht auf Geschicklichkeit. Es bedarf eines sorgfältigen Sich-Sammelns in der Freude des gegenwärtigen Augenblicks. In Freude sein bedeutet, es gibt keine Angst, keine Anspannung, kein Sollen. Es gibt nichts, was wir damit anfangen müssten. Es ist einfach.«1

      Samādhi beruht auf geschicktem Verhalten, denn ohne diese Grundlage des Nicht-Schadens ist der Geist voller Sorge, Bedauern und Unruhe. Als mein erster Dharma-Lehrer Munindra-ji zum ersten Mal die Vereinigten Staaten besuchte, war er verblüfft, wie die Leute meditieren und Erleuchtung erlangen wollten, ohne sich viel um diese moralischen Grundlagen zu kümmern. Er meinte, das sei, als versuche man, mit großer Anstrengung ein Boot über einen Fluss zu rudern, ohne es vorher loszubinden. Es bringt einfach nichts.

      Jene von uns, die in der Welt leben, können diese ethische Grundlage entfalten, indem sie sich in den fünf Tugendregeln üben: nicht töten, nicht stehlen, kein sexuelles Fehlverhalten, nicht lügen und keine den Geist verwirrenden Drogen verwenden. Während eines Retreats wird unsere Praxis des Nicht-Verletzens – weder uns selbst noch andere – zunehmend verfeinert, denn in der Stille und Konzentration des Retreats treten Handlungen und ihre Konsequenzen mit größerer Prägnanz hervor und selbst gewöhnliche Dinge können zur


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