Achtsamkeit Bd. 1. Joseph Goldstein

Achtsamkeit Bd. 1 - Joseph  Goldstein


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üblich. Der heilige Franz von Sales schrieb: »Wenn dein Herz wandert oder leidet, bringe es behutsam an seinen Platz zurück … Und selbst wenn du in deinem Leben nichts getan hast, als dein Herz zurückzubringen, … obwohl es jedes Mal wieder fortlief, nachdem du es zurückgeholt hast, dann hast du dein Leben wohl erfüllt.«2

      Sobald sich der Geist ein wenig beruhigt hat, können wir anfangen, auf irgendein anderes Objekt zu achten, das mehr in den Vordergrund tritt. Das können Körperempfindungen sein oder Geräusche oder verschiedene Gedanken und innere Bilder. Mit zunehmender Kraft der Achtsamkeit können wir allmählich das erste Objekt ganz loslassen und ein offenes Gewahrsein üben, indem wir einfach betrachten, was sich von Augenblick zu Augenblick zeigt. An diesem Punkt wird das Gewahrsein zunehmend panoramaartig; wir verlagern die Betonung vom Inhalt auf allgemeinere Qualitäten einer Erfahrung, insbesondere auf die Unbeständigkeit, Unzuverlässigkeit und Selbstlosigkeit von allem, was entsteht. Bei alldem wird die Kontinuität der Achtsamkeit durch die Achtsamkeit selbst gestärkt.

      WAHRNEHMUNG

      Wir können die Kontinuität auch durch den mentalen Faktor der Wahrnehmung fördern. Im Abhidhamma gilt starke Wahrnehmung als eine der unmittelbaren Ursachen für die Entstehung von Achtsamkeit. Wahrnehmung ist die mentale Qualität des Erkennens. Sie wählt die Merkmale eines bestimmten Objekts aus, durch die es sich von anderen unterscheidet, und wendet dann ein Konzept wie »blau oder rot«, »Mann oder Frau« an, um es für zukünftigen Gebrauch abzuspeichern. Angenommen, wir hören ein Geräusch, dann weiß unser Bewusstsein einfach um das Geräusch. Die Wahrnehmung erkennt es jedoch, benennt es mit »Vogel« und speichert dieses Konzept für das nächste Mal, wenn wir diese Art von Geräusch hören. Dann wird uns zwar nicht unbedingt gleich das Wort »Vogel« einfallen, aber wir werden eine Art vorsprachlichen Erkennens in uns haben, dass dieses Geräusch zu einem Vogel gehört.

      All dies führt zu der interessanten Frage, inwieweit wir uns in der Praxis und in dem Verständnis unserer Meditation mit Konzepten befassen. Einerseits möchten wir eine Achtsamkeit entwickeln, die reines Erkennen ermöglicht – wozu vermutlich ein Geisteszustand nötig ist, der nicht von Konzepten überlagert wird. Andererseits ist der Faktor der Wahrnehmung mit allen daran hängenden Konzepten eine unmittelbare Ursache für die Entstehung von Achtsamkeit.

      Die Lösung für diese scheinbar widersprüchlichen Ansichten liegt in einem tieferen Verständnis der Wahrnehmung. Wahrnehmung gehört zu jedem Augenblick des Bewusstseins. Geschieht Wahrnehmung ohne eine stark entwickelte Achtsamkeit – was die Art ist, wie ein ungeübter Geist gewöhnlich durch die Welt geht –, dann erkennen und erinnern wir nur die oberflächliche Erscheinung der Dinge. Im Moment des Erkennens geben wir dem, was sich zeigt, einen Namen oder ordnen ihm ein Konzept zu. Damit beschränken, verschleiern und verfärben wir unsere Erfahrungen.

      Ein Beispiel für solch ein beschränktes Wahrnehmungspotenzial zeigt sich in der Geschichte, die mir eine Freundin von ihrem Sohn Kevin erzählt hat. Als Kevin sechs Jahre alt war, stellte die Lehrerin in der Schule eine einfache Frage: »Welche Farbe hat ein Apfel?« Die Schüler antworteten: »Rot«, »Gelb«, oder: »Grün.« Aber Kevin sagte: »Weiß.« Die Lehrerin versuchte, durch weitere Fragen und Bemerkungen Kevin zu einer richtigen Antwort zu bewegen. Kevin ließ sich jedoch nicht umstimmen und sagte schließlich mit einer gewissen Frustration: »Jeder Apfel ist doch innen immer weiß!«

      Wahrnehmung kann auch der Stärkung von Achtsamkeit und Gewahrsein dienen. Konzepte können unsere Sicht auf die Dinge nicht nur einengen – richtig angewandt, können sie die momentane Erfahrung auch in ein Licht rücken, welches eine tiefere und sorgfältigere Betrachtung ermöglicht. Es ist, als würde man ein Bild rahmen, um es besser sehen zu können. Ein buddhistischer Mönch namens Ñāṇananda nannte es: »Um des höheren Zwecks der Entwicklung von Weisheit willen Konzepte einsetzen, die dann dabei selbst transzendiert werden.«

      MENTALES BENENNEN

      Die Idee, Konzepte zur Entwicklung von Weisheit einzusetzen, bildet auch die Grundlage der meditativen Technik des mentalen Benennens. In dieser Technik verwenden wir ein Wort, manchmal auch einen kurzen Satz, um das zu bezeichnen, was sich gerade zeigt. Dieses mentale Etikett – zum Beispiel »ein«, »aus«, »ein«, »aus«, »Denken«, »Schwere«, »ein«, »aus«, »Unruhe« – fördert das klare Wahrnehmen, was wiederum sowohl das achtsame Gewahrsein des Augenblicks stärkt als auch das Momentum der Kontinuität. Oder, wie Ajahn Sumedho, einer der ersten westlichen Schüler des großen thailändischen Meisters Ajahn Chaa, bemerkte: »Der Atem ist so«, »Schmerz ist so«, »Ruhe ist so.«

      Das Benennen kann der Praxis auch auf andere Weise dienen. Allein der Tonfall des innerlichen Benennens kann unbewusste Haltungen verdeutlichen. Wir haben die innere Ungeduld, Frustration oder Freude vielleicht gar nicht bemerkt, während wir erfahren, wie sich verschiedene Dinge zeigen, bis wir den angespannten oder begeisterten Tonfall unserer inneren Stimme hören. Das Benennen hilft auch, unsere Identifikation mit der Erfahrung zu mindern, sowohl angesichts von Hindernissen als auch, wenn unsere Praxis sehr subtil und verfeinert geworden ist.

      Das mentale Benennen liefert uns ein wichtiges Feedback: Sind wir wirklich auf kontinuierliche Weise präsent oder nicht? Üben wir, unser Sitzen beziehungsweise unseren Tag nahtlos ineinanderfließen zu lassen? Verstehen wir in unserer Anwendung der Achtsamkeit den Unterschied zwischen Lässigkeit und Entspannung? Wir sollten unsere starke Absicht, achtsam zu sein, nicht zu grimmig verfolgen. Wir können die Kontinuität der Achtsamkeit mit der Anmut von Tai-Chi-Bewegungen oder einer japanischen Teezeremonie praktizieren, indem wir uns selbst den kleinen regelmäßigen Alltagsaktivitäten zuwenden. Diese Kontinuität ist wichtig, weil durch sie das energetische Momentum aufgebaut wird, das zur Verwirklichung von Nibbāna erforderlich ist.

      Dabei sollte immer bedacht werden, dass dieses Werkzeug des mentalen Benennens einfach ein geschicktes Mittel ist, um uns in unserer Achtsamkeit zu unterstützen – es ist nicht das, worum es eigentlich geht, nämlich einfach bewusst zu sein. In vielen buddhistischen Traditionen wird diese Technik nicht verwendet. Aber sie ist es wert, ausprobiert zu werden, und sei es auch nur für kurze Zeit, um herauszufinden, ob sie der eigenen Praxis zuträglich ist oder nicht.

      Wir sollten uns auch ihrer Grenzen bewusst sein. Das Benennen sollte sich nicht zu einer intellektuellen Reflexion auswachsen, sondern auf ein einfaches, stilles Wort beschränkt bleiben. Der bekannte buddhistische Gelehrte David Kalupahana erklärt, dass ein Meditierender im Rahmen von Satipaṭṭhāna Konzepte nur so tief ergründen sollte, wie es zu Erkenntnis führt, und nicht darüber hinaus. »Denn Vorstellungen, die über ihre Grenzen hinaus verfolgt werden, können zu substanzialistischer Metaphysik führen.«3 Konzepte, die zu weit verfolgt werden, verfestigen unsere Sicht der Realität und sperren uns in selbstgemachte Käfige.

      Mit zunehmender Achtsamkeit bemerken wir vielleicht zu viele Dinge, als dass wir sie benennen könnten. Die Objekte verändern sich so schnell, dass wir gar nicht mehr die Zeit haben, sie zu benennen. In dieser Situation beginnen die Benennungen wegzufallen. Wenn das Gewahrsein gut etabliert ist und Achtsamkeit von alleine entsteht – was wir das mühelose Bemühen nennen könnten –, dann können wir einfach in der Kontinuität des reinen Erkennens verweilen. Ryokan, ein Zen-Meister, Dichter und Wandermönch aus dem 19. Jahrhundert, drückte es so aus: »Erkenne deinen Geist genau so, wie er ist.«

      UNABHÄNGIGES VERWEILEN

      Die letzte Zeile des Satipaṭṭhāna-Refrains verbindet die Praxis der Meditation mit ihrem Ziel: »Und er verweilt unabhängig, an nichts in der Welt haftend.« Diese Zeile umfasst den gesamten Weg.

      »Unabhängig verweilen« bezieht sich darauf, dass der Geist an keiner Erfahrung anhaftet, sei es durch Verlangen oder durch Ansichten. »Verlangen« oder »Begehren« sind die üblichen Übersetzungen des Pali-Wortes Taṇha; zuweilen wird es auch mit »Durst« übersetzt, was mehr der körperlichen Dringlichkeit dieses machtvollen Geisteszustands entspricht.


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