Achtsamkeit Bd. 1. Joseph Goldstein
was dies im Zusammenhang unserer heutigen Lebensumstände bedeuten könnte. Es wäre ideal, sich in ein Retreat-Zentrum oder eine Waldhütte zurückziehen zu können. Aber wir können es auch als Empfehlung verstehen, uns in unserem Zuhause einen Platz einzurichten, welcher der Praxis gewidmet ist: ein Raum oder die Ecke eines Zimmers, wo wir eine Atmosphäre von Stille und Schönheit herstellen.
Als ich das erste Mal in Indien war, praktizierte ich in der burmesischen Vihāra in Bodh Gaya, jenem Ort, wo der Buddha Erleuchtung fand. Zu jener Zeit war es für burmesische Pilger schwer, nach Indien zu fahren, deshalb war die burmesische Vihāra für viele an Meditation interessierte Westler ein beliebter Aufenthaltsort. Sie lag zwar direkt an einer stark belebten Straße und in der Nähe eines Dorfes, wo über Lautsprecher ständig Hindi-Filmmusik lief, und direkt gegenüber war ein öffentlicher Trinkwasserbrunnen, aber ich war für diesen Ort zum Praktizieren unendlich dankbar. Er gab mir inmitten all der Geschäftigkeit ein Gefühl des inneren Rückzugs.
Sitzhaltung
Als Nächstes spricht der Buddha über die Sitzhaltung: die Beine kreuzen und den Oberkörper aufrecht halten. In vielen asiatischen Ländern sind es die Menschen von Kindheit an gewohnt, mit gekreuzten Beinen auf dem Boden zu sitzen, und es ist in der Tat eine gute Haltung für die Sitzmeditation. Doch vor dem Hintergrund unserer westlichen Erziehung und Gewohnheiten können wir diese Empfehlung anpassen und uns auf Sitzbänke oder Stühle setzen, falls wir es brauchen.
Am Anfang meiner Praxis war es mir unmöglich, auch nur zehn Minuten lang mit gekreuzten Beinen zu sitzen. Der Schmerz in meinen Knien war zu stark und meine Konzentration zu schwach, um einfach mit dem Schmerz zu sein. Ich setzte mich auf einen Stuhl, was das Meditieren deutlich erleichterte. Doch als große Person sitze ich auch auf den meisten Stühlen nicht bequem, vor allem, wenn ich längere Zeit sitze. Also legte ich Ziegelsteine unter die Stuhlbeine und ein, zwei Kissen auf den Stuhl, und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, drapierte ich noch ein Moskitonetz darüber. Es sah aus wie eine Kreuzung aus einem Thron und einem Schuhputzerstand.
Es war mir zwar immer etwas peinlich, wenn mein Lehrer mich so sah, aber es funktionierte. Ich konnte lange Zeit sitzen und mir so die Gelegenheit geben, meine Achtsamkeit und Konzentration zu vertiefen. Im Laufe der Zeit konnte ich schließlich auch für längere Zeit mit gekreuzten Beinen sitzen. Der Punkt ist hier jedoch, so zu sitzen, wie es für Sie funktioniert.
In den verschiedenen buddhistischen Traditionen wird die Bedeutung der Sitzhaltung unterschiedlich betont. Im Zen beispielsweise wird großer Wert auf eine korrekte Haltung gelegt: Die Form wird sowohl zum Gefäß als auch zum Ausdruck des erwachten Zustands. Im Theravāda gilt es als weniger wichtig, eine bestimmte Haltung einzunehmen. Doch wie das Satipaṭṭhāna Sutta empfiehlt, ist es in jeder Haltung sinnvoll, den Rücken aufrecht zu halten, ohne sich steif zu machen oder anzuspannen, um unermüdlich, wissensklar und achtsam zu bleiben, frei von Verlangen oder Unzufriedenheit in Bezug auf die Welt.
In unserer eigenen Praxis können wir eine Balance zwischen diesen beiden Ansätzen finden. Sind wir schläfrig oder abgelenkt, kann Zen-artiges Sitzen sehr unterstützend sein. Sowohl in der Meditation als auch im alltäglichen Leben kann weises Bemühen energetisieren. Wir meinen oft, wir bräuchten Energie, um uns zu bemühen. Doch auch das Gegenteil kann wahr sein. Denken Sie nur daran, wie es ist, wenn Sie müde und träge sind und sich dann aufraffen, Sport zu machen oder laufen zu gehen. Meistens fühlt man sich hinterher fitter und wacher: Das Bemühen hat Energie erzeugt.
Wenn Sie sich jedoch zu sehr anstrengen und bemühen, mag es hilfreich sein, die Haltung ein wenig zu entspannen, damit die Energie von innen aufsteigen kann. Mit zunehmender Achtsamkeit und Konzentration richtet sich der Körper von alleine auf. Der innere Energiefluss nimmt zu und hält den Körper mühelos aufrecht.
Als ich einmal in Burma praktizierte, hatte ich mich etwas festgefahren und drehte mich im Kreis. Ich hatte mit viel Willenskraft mit gekreuzten Beinen gesessen, aber es schien nichts zu nützen. Also wechselte ich zwischen dem Sitzen mit gekreuzten Beinen und dem Sitzen auf einem Stuhl. Es zeigte sich, dass dies gerade genug Entspannung war, damit sich die Praxis weiter entfalten konnte. Im Laufe der Zeit lernen wir, die Form zu nutzen und den aktuellen Bedürfnissen entsprechend anzupassen.
Die Aufmerksamkeit fokussieren
Also begeben wir uns an einen abgeschiedenen Ort und setzen uns auf die eine oder andere Weise mit aufrechtem Rücken hin. Nun empfiehlt das Sutta, »die Achtsamkeit vor sich gegenwärtig zu halten«. Dieser Ausdruck ist nicht eindeutig. In seinem Buch über die Satipaṭṭhāna-Lehrrede legt Anālayo verschiedene Interpretationen dar. Der Ausdruck »vor sich« lässt als Konzentrationspunkt zunächst an den Bereich der Nase denken – der Nasenspitze oder des Bereichs zwischen Nase und Oberlippe. Das traditionelle Bild dazu ist, diesen Bereich wie einen Torhüter zu betrachten, der aufpasst, wer die Stadt betritt oder verlässt. Der Torhüter folgt niemandem in die Stadt, und er verlässt seinen Posten auch nicht, um mit jemandem auf die Reise zu gehen.
Verschiedene Lehrer empfehlen andere Arten, Achtsamkeit »vor sich« zu entwickeln. Zwei der großen Meister der thailändischen Waldtradition, Ajahn Maha Boowa und Ajahn Dhammadaro, lehren ihre Schüler, die Aufmerksamkeit zunächst auf die Nase zu richten, sie jedoch später auf den Bereich der Brust oder des Solarplexus zu verlagern. In der Tradition von Mahasi Sayadaw liegt die Betonung auf dem Heben und Senken des Bauches. Genau genommen geht es hier weniger um die Achtsamkeit auf den Atem als vielmehr um die Kontemplation des Luftelements, was auch zu den Körper-Kontemplationen gehört.4 Ich persönlich mochte immer den Pragmatismus meines Lehrers Munindra-ji, der sagte: »Beobachte den Atem dort, wo es dir am leichtesten fällt, wo du ihn am deutlichsten wahrnimmst.«
Geistige Gegenwärtigkeit entwickeln
Der Ausdruck »Achtsamkeit vor sich halten« bedeutet auch, innerlich eine meditative Haltung einzunehmen. Es geht darum, geistige Gegenwärtigkeit hervorzubringen, sich mit Wachheit zu umgeben. Im chinesischen Satipaṭṭhāna Sutta heißt es an dieser Stelle: »Mit gut kontrollierten, nicht abschweifenden Gedanken.«5
Nach dem Einnehmen der Haltung betont der Buddha an dieser Stelle des Suttas die Bedeutung, bewusst die Absicht zu setzen, achtsam zu sein. Sie soll uns daran erinnern: »Ja, dies ist, wozu ich hier bin; dies ist, was ich hier tue.« Es bedeutet, sich einen Augenblick lang auf die eigene Absicht zu besinnen, statt sich nur hinzusetzen und möglicherweise in den üblichen Strom der Gedanken und Fantasien abzudriften. Die Art, in der wir beginnen, bestimmt oft die ganze Richtung unseres Sitzens.
In einer Lehrrede aus der Mittleren Sammlung hören wir von dem jungen Brahmanen Brahmayu, der dem Buddha sieben Monate lang wie ein Schatten gefolgt war und seine Qualitäten sowie sein Verhalten beobachtet hatte. Brahmayu beschreibt daraufhin, wie der Buddha sich zur Meditation hinsetzt:
»[Er setzt] sich mit gekreuzten Beinen und gerade aufgerichtetem Oberkörper hin und hält die Achtsamkeit vor sich gegenwärtig. Er denkt nicht daran, sich selbst Leid zuzufügen oder anderen Leid zuzufügen oder beiden Leid zuzufügen; er sitzt da, mit dem Geist auf sein eigenes Wohlergehen ausgerichtet, auf das Wohlergehen anderer und auf das Wohlergehen beider; sogar auf das Wohlergehen der ganzen Welt.«6
Wenn wir diese Worte auf unsere eigene Praxis anwenden, können wir all diese Aspekte des Achtsamkeit-vor-sich-gegenwärtig-Haltens einbeziehen: was den Ort betrifft, wo wir unsere Aufmerksamkeit hinrichten; was die Absicht anbelangt, achtsam zu sein; und was die Entwicklung des Wunsches für unsere Praxis angeht, dass sie allen Wesen dienen möge.
Achtsamkeit auf den Atem
An dieser Stelle des Satipaṭṭhāna Sutta haben wir also einen passenden Ort für unsere Praxis gefunden, eine angemessene Haltung eingenommen und Achtsamkeit vor uns entwickelt.