Achtsamkeit Bd. 1. Joseph Goldstein

Achtsamkeit Bd. 1 - Joseph  Goldstein


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auch hier der Buddha auf einen unschätzbaren und häufig übersehenen Schatz hin: unseren eigenen Atem.

      »Ihr Bhikkhus, wenn die Achtsamkeit auf den Atem entfaltet und geübt wird, ist sie von großer Frucht und großem Nutzen. Wenn die Achtsamkeit auf den Atem entfaltet und geübt wird, vervollkommnet sie die vier Grundlagen der Achtsamkeit. Wenn die vier Grundlagen der Achtsamkeit entfaltet und geübt werden, vervollkommnen sie die sieben Erleuchtungsglieder. Wenn die sieben Erleuchtungsglieder entfaltet und geübt werden, vervollkommnen sie wahres Wissen und Befreiung.«7

      Dieser einfache Atem ist so ein gutes Objekt der Meditation, weil er immer da ist und für alle Personen funktioniert. Er führt zu tiefer Konzentration und tiefschürfenden Einsichten. Er ist das Gegenmittel zu Ablenkungen und abschweifenden Gedanken und wirkt zum Zeitpunkt des Todes stabilisierend. Nicht nur der letzte Atemzug unseres Lebens, auch der letzte Atemzug unseres Tages kann ein achtsamer sein. Eine herausfordernde, aber interessante Praxis dazu ist, zu bemerken, ob wir beim Einatmen oder beim Ausatmen einschlafen.

      Einatmend weiß ich, dass ich einatme …

      Wir beginnen unsere Praxis mit der schlichten Wahrnehmung: »Einatmend weiß ich, dass ich einatme, ausatmend weiß ich, dass ich ausatme.« Wir kontrollieren unseren Atem nicht und üben keinen Druck aus. Beim Einatmen wissen wir, dass wir einatmen; beim Ausatmen wissen wir, dass wir ausatmen. Das ist ganz einfach und doch am Anfang nicht so leicht. Der Geist neigt dazu, sich von Plänen, Erinnerungen, Bewertungen und Kommentaren davontragen zu lassen – alles Varianten geistiger Abschweifungen. Doch sobald wir merken, wir sind nicht beim Atem, lassen wir bei diesem Teil der Praxis einfach sanft los und fangen wieder an.

      In der zweiten Gruppe von Anweisungen zum achtsamen Atmen sagt der Buddha: »Lang einatmend weiß ich, dass ich lang einatme. Kurz einatmend weiß ich, dass ich kurz einatme.« Die Idee hierbei ist, den Atem auf keine Weise zu beeinflussen, sondern einfach zu bemerken, wie er ist. Allein diese Übung kann helfen, die Gewohnheit der Atmungskontrolle loszulassen. Wir bemerken einfach achtsam, wie sich jeder Atemzug zeigt, ob er kurz oder lang ist. Diese Anweisung erinnert uns, dass es hier nicht um eine Atemübung geht, sondern um Achtsamkeit. Jede Art von Atmung passt dazu.

      Wie bei vielen Anweisungen in diesem Sutta wird auch diese von verschiedenen Lehrern und Lehrerinnen unterschiedlich interpretiert. Der burmesische Meister der Mahasi-Tradition Sayadaw U Paṇḍita spricht davon, wie der Geist auf sein Objekt zustürmt, es machtvoll ergreift und tief durchdringt. Andere Lehrer betonen eher eine empfängliche Herangehensweise, als ob man lauscht (nicht in dem Sinne, dass man die Geräusche des Atems hört, sondern im Sinne einer lauschenden, empfangenden Haltung).

      Wir brauchen uns nicht darüber zu streiten, welcher Ansatz richtig ist, auch nicht innerlich. Wir können vielmehr all diese Ansätze als geschickte Mittel betrachten, Achtsamkeit, Konzentration und Einsicht zu entwickeln. Wenn sich der Geist zu sehr bemüht und sich anspannt, müssen wir etwas weicher und entspannter werden; wenn er viel abschweift oder schläfrig ist, kann das machtvolle Auf-das-Objekt-Zustürmen sehr hilfreich sein.

      Der hoch verehrte Lehrer der thailändischen Waldtradition Ajahn Chaa verwendete ein bekanntes Beispiel für diese Art von Balance. Einmal kam jemand zu ihm und beschwerte sich über die widersprüchlichen Empfehlungen, die er seinen Schülern gab. Manchmal riet er zu einer Sache und etwas später zu genau dem Gegenteil. Ajahn Chaa antwortete: »Es ist so. Wenn ich sehe, wie jemand einen Weg entlangwandert und links in den Graben zu fallen droht, rufe ich: ›Geh rechts!‹ Geht später dieselbe Person oder jemand anderes einen Weg entlang und droht rechts in den Gaben zu fallen, rufe ich: ›Geh links, geh links!‹ Es dreht sich immer darum, auf dem Weg zu bleiben.«

      Manchmal kann der Atem sehr fein werden, manchmal sogar nicht mehr wahrnehmbar sein. Wir sollten den Atem dann nicht verstärken, um ihn zu spüren, sondern eher den Geist von unserem Atem auf seine subtile Ebene sinken lassen. Es ist, als lauschte man auf das Flötenspiel von jemandem, der allmählich in der Ferne entschwindet. Die Feinheit des Atems kann genutzt werden, um den Geist zu verfeinern. Wenn der Atem tatsächlich verschwindet und wir ihn gar nicht mehr spüren, können wir einfach unseres sitzenden Körpers gewahr bleiben, bis der Atem von alleine wieder auftaucht.

      Einatmend empfinde ich den ganzen Körper …

      An diesem Punkt des Suttas gibt es einen interessanten Wechsel in der Sprache. Wie Anālayo anmerkt, verwendet der Buddha in den ersten zwei Übungen das Verb »wissen«: Einatmend weiß ich, dass ich einatme etc. Aber in den nächsten beiden Übungen der Achtsamkeit auf den Atem verwendet der Buddha das Verb »üben«.

      »Er übt sich so: ›Ich werde einatmen und dabei den ganzen Körper erleben‹; er übt sich so: ›Ich werde ausatmen und dabei den ganzen Körper erleben.‹ Er übt sich so: ›Ich werde einatmen und dabei die Gestaltung des Körpers beruhigen‹; er übt sich so: ›Ich werde ausatmen und dabei die Gestaltung des Körpers beruhigen.‹«8

      Dieser Wechsel in der Sprache – von »wissen« zu »üben« – lässt darauf schließen, dass mit der Erweiterung unseres Gewahrseins auf den ganzen Körper auch eine Intensivierung der Absicht unserer Praxis einhergeht.

      Aber auch hier gibt es zwei Interpretationen dahin gehend, was es in diesem Zusammenhang bedeutet, den ganzen Körper zu erleben. Man kann es wortwörtlich nehmen, das heißt den Atem im ganzen Körper spüren oder während des Atmens den ganzen Körper spüren. Die zweite Interpretation von »den ganzen Körper erleben« findet sich in den buddhistischen Kommentaren, denen zufolge sich dieser Ausdruck auf den ganzen »Atemkörper« bezieht – dass wir also üben, den Anfang, die Mitte und das Ende jedes Atemzugs wahrzunehmen. Von der einfachen Wahrnehmung, ob der Atem lang oder kurz ist, spüren wir den Atem jetzt unmittelbarer und bemerken bei jedem Ein- und Ausatmen den ganzen Fluss des Atems mit all seinen wechselnden Empfindungen.

      Wie bereits erwähnt, können beide Interpretationen als unterschiedliche geschickte Mittel betrachtet werden, die zu gegebener Zeit angewendet werden können. Wenn wir den Atem zu sehr kontrollieren, ist es nicht hilfreich, sich ganz auf den Atem zu konzentrieren. Möglicherweise ist es dann besser, sich des Atems im größeren Zusammenhang des ganzen Körpers bewusst zu sein. Falls wir jedoch etwas gedankenverloren sind, kann es unsere Achtsamkeit und Konzentration stärken, unseren Fokus ganz auf den Strom der Empfindungen des Atems zu beschränken.

      Beruhigung der Gestaltungen

      Die letzte Anweisung in dieser Reihe besteht darin, zu üben, mit jedem Atemzug die Gestaltung des Körpers zu beruhigen. Wir können das auf zwei Arten tun. Wenn wir den Satz »Den ganzen Körper empfindend einatmen und ausatmen« so verstehen, dass wir uns unserer gesamten sitzenden Haltung bewusst werden, bedeutet die Beruhigung der Gestaltung des Körpers, eine ruhige, beständige Haltung einzunehmen und unsere Neigung zur Bewegung zu beruhigen. Wir können uns vornehmen, eine bestimmte Zeit lang keine absichtliche Bewegung durchzuführen.

      Beziehen wir den Satz »Den ganzen Körper erleben« auf den Atemkörper, so bedeutet die Beruhigung der Gestaltung des Körpers, sich mit der Absicht zu verbinden, das Atmen selbst zu beruhigen. Manchmal hilft es dann, einfach leise die Worte »ruhig, beruhigend« zu wiederholen. Ist der Atem ruhig, dann wird auch der Körper ruhiger, und wenn die Körperhaltung ruhiger wird, beruhigt sich der Atem. Beides steht in Wechselwirkung miteinander.

      Es ist überraschend, wie oft wir in unserem Leben den Atem übersehen und ihn in unserer Meditationspraxis manchmal langweilig finden. Nicht nur, dass jeder Atemzug uns am Leben erhält – die bewusste, achtsame Wahrnehmung des Atems bildete die Grundlage für das Erwachen des Buddha. Sie kann auch die Grundlage unseres eigenen Erwachens sein.

      »Wenn euch, ihr Mönche, andersfährtige Pilger etwa fragen sollten: ›Was war das, ihr Brüder, für ein Verweilen, in dem der Erhabene während der Regenzeit am meisten verweilte?‹, so mögt ihr Mönche


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