Selbstgespräche. Charles Fernyhough

Selbstgespräche - Charles Fernyhough


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kann nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, ob das meine genauen Wörter waren, weil ich sie mir nicht genau notiert habe … Ich erinnere mich an diesen Augenblick und an das Gefühl, kühles Bier zu trinken, und dass ich es wirklich genossen und mich gefragt habe: Will ich noch eines?«

      »Also eine erinnerte Empfindung, ein Bier zu trinken?«

      »Ja, und der Gedanke: Will ich mehr von dieser Erfahrung?«

      Russ fragt, ob sie noch ein Bier wollte, oder ging es vielmehr um die Erinnerung, das kühle Bier eben genossen zu haben?

      »Ich denke, es geht definitiv um beides, weil ich mir diese Frage gestellt habe und anfing, mich daran zu erinnern, um diese Frage zu beantworten, vermute ich.«

      Was waren in diesem Augenblick ihre genauen Worte bei diesem Erlebnis? Lara kann sich nicht erinnern. Russ sagt, dass sie sich in Zukunft diese Wörter schnell notieren soll, weil es auf die genauen Wörter ankommt. Wenn wir herausfinden wollen, wie wir in unserem Kopf mit uns selbst sprechen (neben den vielen anderen Dingen, die sich dort abspielen), kommt es auf den genauen Wortlaut an.

      »Und hörst du diese Wörter mit einer Stimme?«, fährt Russ fort. »Oder liest du sie, oder siehst du sie, oder …?

      »Ja, sie haben eine Stimme, und das ist meine eigene Stimme.«

      »Okay. Und ist diese Stimme so, als würdest du die Wörter aussprechen oder als würdest du sie hören oder …«

      »Hm, ich denke, es ist, als würde ich sie aussprechen? Aber ich sage sie zu mir selbst, so, als würde jemand eine Frage stellen. Die Sache ist die, dass ich, während ich diese Fragen beantworte, einfach beunruhigt bin, dass sich das, was ich über diese Augenblicke berichte, verändern könnte, weil ich gründlicher darüber nachdenke, verstehen Sie?«

      Hurlburt ist einer jener Wissenschaftler, die die Introspektion neu durchdenken.21 Er, ein großer Mann Ende sechzig mit grauen Haaren und einer Brille, begann sein Berufsleben als Ingenieur und arbeitete für eine Firma, die Atomwaffen herstellte. Eigentlich wäre er gern Trompeter geworden. Es war zur Zeit des Vietnamkriegs, und Russ erhielt eine Einberufungsnummer, die mit großer Wahrscheinlichkeit dazu geführt hätte, dass er tatsächlich einberufen worden wäre, deshalb trat er freiwillig der Armeeband in Washington, D. C. bei. Dort fand sein Können als Trompetenspieler einen Einsatz, der einen indirekten und folgenreichen Einfluss auf seine spätere Karriere haben sollte. Er bekam nämlich die Aufgabe zugewiesen, den »Taps« (Zapfenstreich) zu spielen, jene zeremonielle Melodie, die bei Militärbegräbnissen gespielt wird. Seine Aufgabe bestand darin, am Nationalfriedhof Arlington zu warten, bis der Sarg ankam und die Gewehrsalven abgefeuert wurden, um dann den »Taps« über dem Sarg des armen in Vietnam Gefallenen zu spielen. Dann zog er sich diskret in sein Auto zurück, das er unter einem nahen Baum abgestellt hatte, um – noch immer in voller militärischer Montur – auf die nächste Beerdigung zu warten, die frühestens zwei Stunden später stattfand. Somit hatte er jede Menge Zeit, die er nutzte, um sein Auto mit Büchern aus der Bezirksbibliothek von Arlington zu füllen. Er las alles, was Ingenieure aus Zeitgründen gewöhnlich nicht lesen können: Literatur, Poesie, Bücher über die Geschichte und vor allem über die Psychologie. Innerhalb weniger Monate hatte er den gesamten Bestand der Bibliothek zum Thema Psychologie gelesen.

      »Dabei habe ich herausgefunden, dass jedes Buch über Psychologie mit der Aussage beginnt: ›Ich werde Ihnen etwas Interessantes über die Menschen berichten‹, und wenn ich dann am Ende des Buchs angelangt bin, sage ich mir: Na ja, ich habe nichts erfahren, was ich für wirklich sehr interessant halte. Ich habe etwas über die Theorie gelernt, aber nichts über die Person.« Denn Russ wünschte sich, etwas über die Alltagserlebnisse der Menschen zu erfahren. »Ich dachte mir, wenn man über diese Dinge bloß Stichproben machen könnte, das wäre gut … Ich fuhr mit dem Truck durch die Wüste oder die ebenen Außenbezirke irgendeiner Stadt und sagte mir: Ich weiß, wie man einen Signaltongeber baut. Als ich bei der Universität von South Dakota ankam, an der ich mein Aufbaustudium absolvieren wollte, sagte der Direktor zu mir: ›Was möchten Sie machen, Russ?‹ Und ich antwortete: ›Ich möchte Stichproben von Gedanken sammeln, und auf dem Weg hierher habe ich herausgefunden, wie ich es machen kann.‹ Der Studienberater war von Russ‹ Idee beeindruckt, aber er war der Meinung, dass die Sache mit dem Signaltongeber technisch nicht durchführbar sei. Deshalb schlug er Russ einen Deal vor: Sollte Russ tatsächlich in der Lage sein, den Piepser zu bauen, würde er die Voraussetzung, dass Russ den Master in Psychologie erwerben müsste (er hatte bereits den Master in Ingenieurswissenschaft) in seinem Fall nicht anwenden und ihm gestatten, gleich das Promotionsprogramm zu absolvieren.

      Im Herbst 1973 baute Russ den Piepser und gewann seine Wette. Er begann, sein neues technisches Gerät einzusetzen, und versuchte, die Gedanken seiner Untersuchungsteilnehmer zu erforschen, zunächst durch kurze Befragungen und die komplexen statistischen Analysen, die notwendig sind, damit der so gewonnene Berg an Daten Sinn ergibt. Schließlich wurde ihm klar, dass diese Methode nichts Interessanteres über die Gedanken oder die Menschen hervorgebracht hatte als die der Forscher, die er zuvor kritisiert hatte. Deshalb begann er, sich mehr auf die Qualität der Berichte zu konzentrieren: Auf die Beschreibungen der Gedankenprozesse seiner Teilnehmer und was diese für die jeweilige Person charakteristisch machte.

      Seit nahezu vierzig Jahren ist Russ nun schon Fakultätsmitglied an der Universität von Nevada, Las Vegas (UNLV). Er hat seine Karriere der Verfeinerung und dem Testen seiner Methode für die Untersuchung des inneren Erlebens gewidmet, die er Descriptive Experience Sampling (DES) nennt.22 Als er an der UNLV anfing, trug er den DES-Piepser selbst ein ganzes Jahr lang, um herauszufinden, wie er anzuwenden ist. Aufgrund des unübersehbaren Ohrsteckers gingen seine Kollegen auf dem Campus davon aus, dass er schwerhörig sei, allerdings waren viele zu höflich, um ihn danach zu fragen. Bis heute neigen einige Leute auf dem Campus dazu, in seiner Gegenwart lauter zu sprechen.

      Für Lara beginnt der Prozess genau an diesem Tag. Am ersten Tag kann sie ihre DES-Momente nicht gut beschreiben, weil das am ersten Tag niemandem gelingt. Russ erklärt, dass die Menschen ihre eigene Erfahrung in der Regel so schlecht beschreiben können, dass die Berichte des ersten Tages allesamt unbrauchbar sind. Aber Lara wird es immer besser machen. Bei der DES handelt es sich um einen iterativen Prozess, wie Russ ihn bezeichnet: Es geht darum, den Probanden und den Interviewer zu trainieren, um die »einzigartige innere Erfahrung des Subjekts mit zunehmender Genauigkeit« beschreiben zu können. Das gelingt nicht ohne Training und ohne die Bereitschaft, aus den eigenen Fehlern zu lernen. Russ stellt fest, dass es den Menschen in der Regel besser gelingt, ihre Erlebnisse zu verbergen, als sie korrekt zu beschreiben.

      Außerdem ist er der Meinung, dass die DES-Methode viele der Probleme umgeht, mit der das Unterfangen der Introspektion verbunden war. Zum einen hat Russ als Forscher kein anderes Ziel, als die Phänomene während ihres Auftretens zu erkunden, worum es sich auch immer handeln mag. Weder geht er die DES-Befragung mit einer Theorie befrachtet an noch steckt die DES ihre Interessenskategorien von vornherein ab, obwohl mit ihrer Hilfe festgestellt wurde, dass bestimmte Arten von Erfahrungen immer wieder auftauchen: Bildsprache, Körperempfindungen und innere Sprache. Russ Hurlburt bezeichnet letztere als »inneres Sprechen«, um den aktiven Charakter hervorzuheben. Aber er ist an der inneren Sprache nicht besonders interessiert, jedenfalls weniger als ich – eine Tatsache, die mich wahrscheinlich zu einem alles andere als idealen Nutzer dieser Methode macht.

      Die DES ist vor allem von einer philosophischen Methode inspiriert, die als Phänomenologie bekannt ist. Phänomenologie bedeutet wörtlich die Erscheinungslehre, und durch ein kurioses Paradox war sie eine der Kräfte der Philosophie im 20. Jahrhundert, die zum Niedergang der Introspektion beitrug.

      Als Russ mit den quantitativen Ergebnissen, die er durch den Piepser erhielt, unzufrieden war, beschäftigte er sich mit den Werken von Husserl und Heidegger und brachte sich selbst Deutsch bei, um ihre Schriften gründlicher studieren zu können. Für Russ besteht die wichtigste Lektion der Phänomenologie in dem, was als die »Einklammerung aller Vorurteile« bekannt ist: die Fähigkeit des Forschers, die eigenen vorgefassten Meinungen, wie die Dinge sein werden, beiseitezulassen und zu beobachten, wie sie tatsächlich sind. Will man herausfinden, was sich im Kopf eines anderen Menschen abspielt, sollte man nicht vor Beginn


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