Selbstgespräche. Charles Fernyhough

Selbstgespräche - Charles Fernyhough


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Sprache. Wenn man zu Beginn davon ausgeht, dass die Menschen die ganze Zeit mit sich selbst sprechen, werden die Daten diese vorgefasste Meinung höchstwahrscheinlich wiedergeben.

      Trotz der vielen Jahre, die Russ an der DES gearbeitet hat, betrachtet er die Methode nicht als perfekt. Zum einen sind die DES-Berichte stets durch die Erinnerung gefiltert – ein Problem, das William James bereits 1890 vorhersah –, und die Augenblicke des Bewusstseins werden nach dem Ereignis rekonstruiert. Das sind zwei der Gründe, weshalb Russ an den Details von Laras Gedanken über das Bier so interessiert ist. Sie hat festgestellt, dass sie sich unsicher war, was sie genau gedacht hat; es hat den Anschein, als führe der Prozess des intensiven Nachdenkens über die Erfahrung dazu, dass den Probanden Zweifel beschleichen. Das ist ganz normal, stellt Russ fest. »Wir machen den Job so gut, wie wir können«, versichert er ihr. »Wir erwarten nicht von dir, dass du perfekt bist, weil wir das für unmöglich halten. Wir wollen lediglich versuchen, es gut zu machen.«

      Ich frage Lara nach den Wörtern, aus denen der Gedanke bestand. War es: Will ich noch ein BIER haben? Oder: Will ich noch EINES? »Ich würde sagen, eines«, antwortet Lara, »definitiv eines.« Das sind die Arten von Details, mit denen wir uns in den folgenden Wochen beschäftigen werden. Lara beschließt, sich im Augenblick, in dem das Piepen ertönt, mehr Notizen zu machen und genauere Angaben über die Momente des Bewusstseins, die sie beschreibt, zu liefern. Lara ist eine unserer ersten Studienteilnehmerinnen, sie ist intelligent und engagiert, beflissen, es zu probieren und zu versuchen, dass es funktioniert. Man kann sich auf so etwas nicht beiläufig oder halbherzig einlassen. Dafür bedeutet es zu viel Arbeit. Für Lara sind die Augenblicke, die sie beschreiben soll, so flüchtig, so fern dessen, was sie normalerweise als Fokus ihrer Gedanken betrachten würde, dass es ihr schwerfällt, darüber zu sprechen. »Weißt du, so, wie wenn man nach einem Traum aufwacht und ihn dann sofort vergisst? So ist das.« Russ ermuntert sie, am Ball zu bleiben. Es wird mit der Zeit einfacher werden. Es wird nie perfekt sein, aber so nahe an »perfekt« heranreichen, wie es die Wissenschaft aktuell vermag.

      An diesem Abend kehre ich in mein Hotel zurück und übertrage die Notizen der Befragung. Ein Gewitter geht über Dahlem nieder, das grüne Stadtviertel, in dem sich das Max Planck Institut für Bildungsforschung befindet und in dem wir die Studie durchführen. Jenseits meiner Tätigkeit als Schriftsteller habe ich noch nie so viel Zeit damit verbracht, über die Details der Erlebnisse anderer Menschen nachzugrübeln. Ich schicke die Notizen per E-Mail an Russ, und er antwortet sofort und weist mich auf Fehler hin, die ich gemacht habe, auf Stellen, bei denen meine Erwartungen, wie Laras Erfahrung sein sollte, einer korrekten Wiedergabe im Weg standen. Die Einklammerung aller Vorurteile ist der Dreh- und Angelpunkt. Man muss lernen, diese detaillierten Berichte über die eigenen Erfahrungen zu erstellen, und man muss darüber hinaus lernen, wie man mit denen umzugehen hat, die andere Menschen einem liefern.

      Das klingt nach sehr viel Arbeit, allerdings steht auch viel auf dem Spiel. Die Kritiker der Introspektion sind nicht verstummt. Ein Behaviorist könnte behaupten, dass es zu fehlerbehaftet, zu unwissenschaftlich ist, in den Kopf anderer zu spähen, und dass wir Gedanken und Gefühle insgesamt umgehen und uns stattdessen mit Ereignissen befassen sollten, von denen wir »objektiv« berichten können. Ein Anhänger der Introspektion würde darauf antworten, dass eine Wissenschaft des Geistes, die dem subjektiven Erleben keine Beachtung schenkt, inhaltsleer und bedeutungslos ist und weit hinter dem zurückbleibt, was die Wissenschaft eigentlich leisten soll.

      Dieses Problem scheint durch die Entwicklung neuer Techniken, mit denen man in das Gehirn blicken kann, noch verschärft zu werden. Das Gebiet der kognitiven Neurowissenschaft, die Methoden der Psychologie mit Techniken zur Untersuchung neuraler Systeme (mithilfe von Bildgebung, elektrischer Stimulation oder der Untersuchung von Gehirnschädigungen) kombiniert, hat in vielen Bereichen begonnen, ihr Versprechen einer einheitlichen Erforschung von Gehirn und Geist einzuhalten. Dennoch wissen wir noch immer nicht, was darin vor sich geht. Menschen können die Aktivierung ihres visuellen Kortex oder die Modulation der Amygdala durch Hippocampusaktivität nicht spüren: Sie erleben visuelle Bilder und emotionale Erinnerungen. Wenn wir uns eine integrierte Wissenschaft des Geistes wünschen, brauchen wir eine Möglichkeit, um an diese Erfahrungen heranzukommen. Wir brauchen die DES oder etwas Ähnliches.

      Abgesehen davon stellt sich heraus, dass die Kritik an der Introspektion, die Nisbett und Wilson zugeschrieben wird, am Ziel ziemlich vorbeigeht. Man erinnere sich, dass ihre Abhandlung von 1977 viele Beispiele von Menschen enthielt, die nicht in der Lage waren, verlässlich zu beantworten, weshalb sie bestimmte Entscheidungen getroffen hatten. Menschen können tatsächlich sehr schlecht darin sein, die Gründe für ihr Verhalten zu benennen, aber das heißt noch lange nicht, dass sie nicht gut darin werden können, von ihren eigenen Erfahrungen zu berichten. Tatsächlich haben Nisbett und Wilson nach der Überprüfung vorhandener Studien die Tür für zukünftige Methoden offen gelassen, die die Aufgabe angehen könnten, mit ausreichender Sorgfalt Daten über das innere Erleben zu sammeln.

      »Die Studien reichen nicht aus«, schrieben sie, »um zu beweisen, dass die Menschen über die damit verbundenen Prozesse niemals korrekt berichten können.«23 Wäre eine Methode in der Lage, einen Erlebnismoment in den Vordergrund zu rücken, ohne ihn zu stören, und sicherzustellen, dass die Teilnehmer sorgfältig darauf achten, was in diesem Moment in ihrem Kopf vor sich geht, und könnte sie außerdem dazu beitragen, dass sie im Nachdenken über dieses Erlebnis besser werden, dann wären wir schon einen ganzen Schritt weiter. Für Hurlburt ist das eine recht gute Beschreibung der DES.

      Doch auch diese Methode hat ihre Kritiker.24 Kognitionswissenschaftler bemängeln, dass die DES umständlich und mühsam und dass es darüber hinaus unmöglich sei, von einem einzelnen DES-Teilnehmer auf irgendetwas, was ein bedeutsamer Teil der psychologischen Theorie sein könnte, zu verallgemeinern. Philosophen argumentieren, dass Hurlburt sich zu sicher ist, seine eigenen Mutmaßungen über Erfahrungen ausklammern oder vermeiden zu können, und dass er durch seine Befragung die Prozesse, die er zu beschreiben hofft, beeinflusst. Russ reagiert darauf, indem er hervorhebt, dass man, will man seine Methode ernst nehmen, akzeptieren muss, dass wir uns bei der Beurteilung dessen, was sich in unserem Kopf abspielt, häufig täuschen.

      Im Gegensatz zum typischen Forscher auf dem Gebiet der Psychologie, der davon besessen ist, die Gültigkeit der Ergebnisse festzustellen, versteht Russ seine Methode als Entwicklung einer gemeinsamen Sprache zur Erforschung der Eigenheiten der inneren Welt eines Untersuchungsteilnehmers, anstatt die verschiedenen Erfahrungen der Menschen in vorgegebene Kategorien zu quetschen. »Es ist wie bei den Spähern und den Kriegern«, erklärt er mir. »Die Späher sagen dir, wohin du gehen sollst, dann müssen die Krieger dort sein. Man muss beide haben, um den Kampf zu gewinnen. Doch gegenwärtig gibt es in der Psychologie nicht viele gute Späher.«

      Mein eigener Eindruck ist, dass die DES-Methode eine nützliche Technik ist, die mit anderen, unterschiedliche Stärken und Schwächen aufweisenden Methoden kombiniert werden muss. (Tatsächlich halten wir uns in Berlin auf, um die erste Verknüpfung der DES-Methode mit Neuroimaging-Verfahren durchzuführen. In wenigen Tagen wird bei Lara genau zu diesem Zweck im Scanner ein MRT ihres Gehirns erstellt.)

      Wie die folgenden Kapitel zeigen werden, wurden die Stimmen in unserem Kopf mithilfe vieler verschiedener Techniken untersucht, von denen manche so direkt vorgehen wie die DES, andere eher indirekt. Darüber hinaus vermute ich, dass die DES die Häufigkeit der inneren Sprache, die tatsächlich stattfindet, unterschätzen könnte – zum Teil, weil sie hohe Anforderungen stellt, dass Teilnehmer korrekt berichten, welche Wörter ihnen durch den Kopf gingen, und zum Teil aufgrund der kulturellen Annahmen, welcher Art die innere Sprache sein kann.

      Im Verlauf meines Aufenthalts in Berlin erhalte ich die Gelegenheit, selbst ein paar Befragungen durchzuführen, und stelle fest, dass ich mich bemühe, meine eigenen Annahmen bezüglich der Erfahrungen der Menschen, mit denen ich spreche, auszuklammern und dass mir das gelegentlich auch gelingt. Als ich Russ für dieses Buch befrage, bin ich mir bewusst, dass ich meine Worte besonders sorgfältig wähle. Welche Auswirkung hat all diese Beachtung der feinen Details der menschlichen Erfahrungen auf den Entwickler der DES? Abgesehen von dem einen Jahr, in dem er den Piepser fast unentwegt getragen hat, scheut er aus Sorge, dass seine eigene Erfahrung sich auf seine Erwartungen,


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