Philosophische Anthropologie. Michael Bordt
können – denken Sie beispielsweise daran, dass Sie, wenn Sie Geld haben und sich überlegen, ob Sie Ihr Geld lieber auf ein Bankkonto legen oder ob sie Aktien damit kaufen, utilitaristische Überlegungen anstellen. Sie stellen sich die Frage: Was ist für mich von größerem Nutzen: Wenn ich mein Geld zur Bank gebe oder wenn ich Aktien kaufe? Aber viele Fragen, die wir uns auf einer tieferen Ebene stellen, lassen sich nicht mehr utilitaristisch beantworten.
Denken Sie z. B. an die Frage, ob es für Sie jetzt sinnvoll ist, dieses Buch über die philosophische Anthropologie zu lesen, oder ob Sie nicht viel eher andere Dinge tun sollten, wie z. B. sich um Ihre Familie kümmern oder Obdachlosen helfen. Es sind oft Fragen dieser Art, die uns als Menschen beschäftigen und wo wir nicht nur ein Gut, wie z. B. das Maximieren des Vermögens, miteinander zur Abwägung bringen müssen, sondern ganz verschiedene Güter. Ist es besser, etwas für die Familie zu tun oder ist es besser, sich in der Dritten Welt zu engagieren? Oder ist es besser, sozialpolitische Arbeit in Ihrem eigenen Land zu tun? Dies sind Fragen, die für uns Menschen wichtig sein können, auf die der Utilitarismus jedoch keine Antwort hat, weil er meint, dass es so etwas wie ein Gut gäbe, das maximiert werden kann. Aber es gibt nichts, was den Gütern sichum-die-Familie-kümmern, eine-philosophische-Vorlesung–hören und sich-in-der-Dritten-Welt-engagieren gemeinsam ist. Wir müssen da ganz andere Fragen stellen. Fragen, die damit zu tun haben, wie wir eigentlich leben möchten, was für eine Art von Mensch wir sein möchten usw.
Der zweite Kritikpunkt am Utilitarismus ist folgender: Wenn der Utilitarismus sagt, dass eine Handlung dann moralisch und sittlich geboten ist, wenn sie das Glück vermehrt oder das Leid vermindert, dann kann es vorkommen, dass uns eine Handlung zu tun geboten ist, die zwar unsere eigenes Glück vermindert und unsere eigenes Leid vermehrt, aber anderen Menschen zugute kommt. Und das ist sicher in vielen Fällen außerordentlich kontraintuitiv.
Es ist darum kein Wunder, dass Philosophen, die der Richtung von Immanuel Kant anhängen, der Auffassung sind, der Utilitarismus erfasse mit seiner Nutzenmaximierung, nicht mal im Ansatz, worum es eigentlich geht, wenn wir von Moral und Sittlichkeit sprechen. Moral bzw. Sittlichkeit kann nach Immanuel Kant nichts damit zu tun haben, dass der Nutzen maximiert wird. Eine Handlung ist stattdessen nur dann gut, wenn ihr etwas bestimmtes zugrunde liegt, nämlich der gute Wille. Der Wille, ist dann gut, wenn er sich ausschließlich an dem orientiert, was uns die Vernunft vorschreibt. Und was uns die Vernunft vorschreibt, ist das, was der kategorische Imperativ gebietet.
Der kategorische Imperativ
Wenn Sie sich schon ein wenig mit Immanuel Kant beschäftigt haben, dann kennen Sie das Stichwort vom kategorischen Imperativ. Immanuel Kant unterscheidet den kategorischen vom hypothetischen Imperativ. Der hypothetische Imperativ sagt uns zwar auch, was wir tun sollen, aber nur unter der Voraussetzung, dass ein bestimmtes Ziel, ein Zweck gegeben ist. Ein Beispiel: der hypothetische Imperativ sagt uns, dass wir täglich eine Stunde lang Spazieren gehen sollen, wenn wir gesund leben wollen. Der hypothetische Imperativ hat also die Struktur: Du sollst das und das tun, wenn du das und das erreichen willst. Mit dem hypothetischen Imperativ sind wir Kant zu Folge noch nicht im Bereich der Moral und des Sittlichen. Alle utilitaristischen Erwägungen aber gehören für Kant in diesen Bereich des hypothetischen Imperativs: Wenn du glücklich werden möchtest, solltest du das und das tun.
Der kategorische Imperativ sagt uns dagegen kategorisch,
d. h. unabhängig von irgendwelchen Zielen, Wünschen oder sonstigen Vorstellungen, die wir als Menschen haben mögen, was zu tun ist. Die Tatsache nun, dass wir uns in dem, was wir tun, ausschließlich vom kategorischen Imperativ leiten lassen können, dass wir dazu in der Lage sind, ausschließlich dem zu folgen, was uns die Vernunft vorschreibt, unterscheidet uns als Menschen von den anderen, unvernünftigen Lebewesen und insofern wir das tun, sind wir frei, weil wir uns nur an der Vernunft orientieren und nicht an unseren privaten Wünschen, Zwängen, Emotionen und unserem Streben nach Glück.
Kant macht hier eine wichtige Unterscheidung: Zwar sei es durchaus so, dass die Menschen von Natur aus nach Glück strebten. Aber Handlungen auszuführen, die das Glück unseres eigenen Lebens zur Folge haben, sind nicht moralisch und sind nicht sittlich. Wir müssen uns vielmehr an dem kategorischen Imperativ orientieren und das tun, was uns die Vernunft gebietet, dann sind wir überhaupt erst glückswürdig in unserem Leben und frei, weil wir uns nicht mehr von dem bestimmen lassen, was uns als Menschen in unserer Subjektivität ausmacht.
Die Tugendethik
Genau an diesem Punkt knüpft die dritte oben erwähnte Konzeption des Ethischen an. Diese dritte Position, die so genannte eudaimonistische Ethik, oder Tugendethik, ist eigentlich erst in den letzten 30 bis 40 Jahren wirklich entwickelt worden. Sie knüpft an die große Diskussion zum Thema der eudaimonia in der Antike an. Eudaimonia ist der Zentralbegriff in der Ethik von Aristoteles und heißt dort so etwas wie geglücktes Leben, gelungenes Leben oder sinnvolle Existenz.
Im Jahre 2007 ist ein ganz ausgezeichnetes Buch von Richard Kraut erschienen mit dem Titel: ‚What Is Good and Why?’, also ‚Was ist gut und warum?’ Kraut ist der Ansicht, dass wir, wenn wir die Ethik verstehen wollen, zunächst den Menschen verstehen müssen. Er stellt also Kant auf den Kopf, denn Kant war ja der Auffassung, wir müssen die Ethik verstehen, das Unbedingte sollen, den Anspruch der Vernunft an den Menschen, wenn wir fragen, wie wir als Menschen leben sollen. Kraut fragt nicht, wie wir Menschen leben sollen, sondern er fragt, wie wir Menschen vernünftigerweise eigentlich Leben wollen, welche Vorstellungen des gelungenen, geglückten, sinnvollen Lebens wir als Menschen haben. Und alle Ethik, all das, was wir tun sollen, ergibt sich dann aus einer Antwort auf diese, für Kraut so zentrale, Frage. Wie wollen wir leben? Was für eine Art von Mensch wollen wir sein? Kraut leugnet nicht, dass wir weiterhin sagen können, bestimmte Handlungen seien moralisch, oder bestimmte Handlungen seien sittlich, aber er leugnet, dass es einen eigenen Bereich des Moralischen und Sittlichen gibt, mit eigenen Verpflichtungen, eigenen Regeln, die unabhängig von der Frage sind, was das gelungene Leben für uns Menschen ist. Lassen Sie mich an einigen Beispielen deutlich machen, worin die besondere Relevanz und Sprengkraft dieser Ethik von Kraut liegt.
Ein Beispiel ist das Folterverbot: Dass die Folter verboten sein soll, wird in der Ethik von Immanuel Kant und in der kantischen Tradition oft mit der unverfügbaren Würde des Menschen begründet. Es gibt etwas im Menschen, die Würde, was durch die Folter verletzt wird und deswegen gilt das Folterverbot absolut. Kraut, um nicht missverstanden zu werden, möchte nicht dafür argumentieren, dass wir Foltern erlauben sollten, aber er bringt folgenden Fall: Stellen sie sich vor, ein Terrorist hätte in einem Stadion eine Bombe versteckt. In einer Stunde wird sie explodieren, es bleibt zuwenig Zeit, die Bombe zu finden. Der Terrorist weiß, wo die Bombe liegt. Nun wird er von der Polizei gefangen genommen und es stellt sich die Frage: Darf die Polizei, um die Bombe zu entschärfen und das Leben der 60.000 Menschen zu retten, den Terroristen foltern oder nicht. Kraut wägt nun das Leben der 60.000 Menschen gegenüber dem Wert der Unverletzlichkeit der Person des Terroristen ab, denn natürlich verletzt man den Terroristen durch Folter und greift in seine Vorstellungen eines gelungenen, geglückten Lebens ein. Kraut kommt jedoch zu dem Schluss, dass wir, wenn wir diese beiden Dinge gegeneinander abwägen, es keinen vernünftigen Grund gibt, den Terroristen nicht zu foltern. Wichtig, um Kraut adäquat zu verstehen, ist allerdings, dass Kraut mit dieser Position nicht die Auffassung vertritt, man solle das Foltern allgemein staatlich erlauben. Folter muss weiter verboten bleiben und sie muss geächtet werden. Aber nicht, weil es unmoralisch ist, einen Menschen zu foltern um dadurch 60.000 Menschen zu retten, sondern weil es solche Fälle faktisch in unserer Realität gar nicht gibt. Empirische Studien von Gegnern der Folter haben hinlänglich gezeigt, dass durch Folter nicht das erreicht wird, was man durch Folter erreichen will. Und deswegen ist es eine unerlaubte Abstraktion von der Vielfalt des Lebens, einen Fall so darzustellen, dass man das Leben von 60.000 Menschen gegen das Folterverbot gegenüber dieser einen Person des Terroristen durchsetzen möchte. Die Wirklichkeit sieht anders aus.
Lassen Sie mich noch ein zweites Beispiel geben, ein Beispiel, das mit der Forschung in den Naturwissenschaften zu tun hat. Immer dann, wenn neue Erfindungen gemacht werden, hört man vor allen Dingen