Das Phönix-Prinzip. Patrick Freudiger
und ich frage mich, weshalb diese Menschen nicht etwas anderes in ihrem Leben tun, etwas das ihnen mehr Erfüllung bringen würde. Die Antwort liegt auf der Hand: Der Job als Vorgesetzter ist in aller Regel besser bezahlt und findet mehr Ansehen als der Job des Mitarbeitenden. Kraft ihrer Position können sich Vorgesetzte Berater leisten, die ihnen Arbeit abnehmen, und Vorgesetzte werden in der Regel weniger kontrolliert als die Mitarbeitenden.
Sie finden, ich übertreibe? Die Beliebtheit der Kurzgeschichten unter dem Titel Business Class des Bestsellerautors Martin Suter sprechen vom Gegenteil. Martin Suter parodiert in Business Class eine Vielzahl von Führungskräften, die teilweise an Narzissmus und Dreistigkeit kaum zu übertreffen sind. Und dennoch, die große Resonanz auf diese Geschichten lässt vermuten, dass diese Figuren zuhauf in der tagtäglichen Realität in den Chefetagen größerer Unternehmen existieren. Jeder von uns kennt solche Führungskräfte in seinem persönlichen Umfeld, hat unter solchen Führungskräften gearbeitet oder trägt selbst Züge einer solchen Führungspersönlichkeit in sich. Was kennzeichnet diese Figuren? Politische Ränkespiele, Ich-Bezogenheit, Selbstdarstellung, Betrügereien und Lügereien, Durchtriebenheit und Gemeinheiten, aber auch Duckmäusertum und Arschkriecherei. Spaß am Job? Spaß am Gewinnen von Machtspielen auf jeden Fall. Vorbildrolle für die Mitarbeitenden? Vorleben? Inspirieren? Beflügeln? Fehlanzeige. Um es mit den Worten von Martin Suter zu sagen:
»Mit Talent, Glück und Tüchtigkeit allein ist es nicht getan. Eine Karriere ist immer auch eine taktische Operation. Es genügt nicht, mit aller Macht auf sein Ziel zuzustreben, man muss auch verhindern, dass ein anderer es vor einem erreicht.«2
Im vorliegenden Buch gibt es ebenfalls einen Protagonisten. Sie haben Ihn bereits kennengelernt. Er heißt Jürg. Er hilft uns mit seinen Erfahrungen und Erlebnissen, die dargelegten theoretischen, methodischen Überlegungen anhand von nachvollziehbaren Alltagsbeispielen zu verdeutlichen. Ähnlich wie die Protagonisten bei Martin Suter ist es mir wichtig, eine Figur mit Wiedererkennungswert zu erschaffen, eine Figur, von der man das Gefühl hat, sie aus seinem Arbeitsumfeld zu kennen, oder in der man sich selbst ein Stück weit wiedererkennt.
Führungskraft – die anspruchsvollste Rolle der Welt?
Gestalten, Großes bewirken, Umdenken erzeugen, Menschen bewegen und begeistern – es gibt viele Gründe, die dafürsprechen, Führungskraft zu werden. Um das zu realisieren, geht man gerne die Extrameile, übernimmt zusätzliche Verantwortung und Verpflichtungen.
Die Rolle der Führungskraft ist anspruchsvoll. Ein wesentlicher Reiz liegt mit Sicherheit in dem meist hohen Gestaltungsspielraum, den die Rolle als Führungskraft mit sich bringt. Je höher die Position in der Organisationshierarchie, desto größer ist die Entscheidungskompetenz und Gestaltungsfreiheit.
Spannend zu beobachten ist, dass, obwohl es im Kern der Führung immer um Menschen geht, die Erfolgsfaktoren der Führung jedoch einem laufenden Wandel unterliegen. So wird neben der Grundvoraussetzung, Menschen zu mögen, eine große Wandlungsbereitschaft der Führungskraft vorausgesetzt.
Fünf Thesen, die ich im Nachfolgenden erläutere, machen exzellente Führung so anspruchsvoll:
1 Disruptive Megatrends fordern agile Führungskräfte.
2 Viele unserer Führungsgrundsätze basieren auf veralteten Denk- und Verhaltensmodellen.
3 Hierarchie-Strukturen machen Führungskräfte zu einsamen Wölfen.
4 Mikropolitik und Bullshit-Kultur – das heißt, es wird eine Art der Kommunikation gepflegt, die einerseits prätentiös, andererseits inhaltlich leer ist – sind toxisch für das Arbeitsklima.
5 Menschen wollen heute anders geführt werden als früher.
Disruptive Megatrends fordern Führungskräfte
Die VUCA-Welt3 ist kein theoretisches Konstrukt, sondern existiert tatsächlich. Seit dem Ausbruch der Corona Krise wissen wir das definitiv. Nie zuvor mussten Volkswirtschaften, Regierungen, Organisationen und Führungskräfte sich mit einem derart disruptiven Ereignis auseinandersetzen.
Auch ohne Covid-19 verändert sich die Welt für Führungskräfte und ihre Mitarbeitenden rasant.
Mit den folgenden vier Megatrends müssen sich Führungskräfte neuerdings auseinandersetzen:
Megatrend Digitalisierung: Traditionelle Geschäftsmodelle und Branchen, wie zum Beispiel Printmedien, Versicherungen, Fachmärkte, Reisebüros und Rechtskanzleien werden zunehmend in ihrer Existenz bedroht. Marktanteile gehen an neue Mitbewerber mit innovativen Dienstleistungsangeboten verloren. Die Rentabilität sinkt. Daraus resultiert ein enormer Veränderungs-, Innovations- und Kostendruck.
Megatrend Wertewandel bei den Mitarbeitenden: Mitarbeitende, insbesondere die rasch wachsende Anzahl an Knowledge Workern, sprechen kaum mehr auf die klassischen Anreizmechanismen (primär finanzielle Anreize, traditionelle Karrieremodelle) an. Die Sinnstiftung einer Organisation rückt verstärkt in den Mittelpunkt und fordert traditionelle auf Marktanteile und finanzielle Performance ausgerichtete Unternehmensstrategien heraus.
Megatrend Fachkräftemangel: Der Fachkräftemangel, insbesondere bei IT-Berufen führt dazu, dass sich das Kräfteverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zugunsten von qualifizierten Arbeitnehmern verschiebt. Diese Mitarbeitenden sind anspruchsvoll und zeigen eine hohe Wechselbereitschaft, falls ihre Erwartungen nicht erfüllt werden.Erschwerend hinzu kommt die demografische Entwicklung in den kommenden Jahren: Die Generation der Babyboomer, der geburtenstarken Jahrgänge, geht schon bald in Rente.
Megatrend Wissenskultur: Durch die fortschreitende Digitalisierung werden neue Fähigkeiten und neue Kenntnisse von den Mitarbeitenden verlangt. Das, was man einst gelernt hat, ist schnell veraltet. Die Bedeutung des lebenslangen Lernens nimmt zu. Es ist ein Muss, »am Ball« zu bleiben, was gerade für ältere Mitarbeitende anspruchsvoll ist.
Diese verschiedenen Megatrends verstärken sich gegenseitig und wirken als Brandbeschleuniger in einem per se schon anspruchsvollen, marktlichen Umfeld.
Viele unserer Führungsgrundsätze basieren auf veralteten Denk- und Verhaltensmodellen
»Chef, du bist das Problem!« Überzeugen Sie sich selbst und googeln »mein Chef ist …« und Sie erhalten die folgenden Autovervollständigungen angezeigt: »eine Niete«, »ein Blender«, »ein Kontrollfreak«, »inkompetent«, »ein Narzisst«, »ein Idiot«, »doof«, »unfair«, »ein Choleriker« und »faul«. Kaum eine der vorgeschlagenen Autovervollständigungen ist eine positive Ergänzung4. Zufall? Kaum, denn verschiedene empirische Untersuchungen gelangen zu den identischen Ergebnissen. Gemäß Gallup, einem der führenden Markt- und Meinungsforschungsinstitute, wechseln 70 % der Menschen ihren Job aufgrund ihres direkten Vorgesetzten5. Eine andere empirische Untersuchung besagt, dass 65 % der Mitarbeitenden aussagen, dass sie lieber ihren Vorgesetzten austauschen würden als eine Lohnerhöhung zu erhalten6. Der größte Unzufriedenheitsfaktor ist bei vielen Mitarbeitenden der direkte Vorgesetzte.
Ein Hauptgrund hierfür ist, dass die gelebten Führungsgrundsätze auf veralteten Denk- und Verhaltensmustern aufbauen und unnütze Chef-Attitüden die Mitarbeitenden unnötigerweise demotivieren.
»Wir verbringen viel Zeit damit, Führungskräften beizubringen, was sie tun sollen. Wir verbringen nicht genug Zeit damit, den Führungskräften beizubringen, was sie