Berge im Kopf. Robert Macfarlane
nach, die Geschichten ihrer Entstehung. Während er über die Natur des Granits mit seinem Gemisch aus Mineralien und Farben nachsann, träumte Ruskin von der Gewalt, die seiner Entstehung zugrunde lag: »Die verschiedenen Atome haben alle verschiedene Formen, Charaktere und Pflichten, wurden aber untrennbar miteinander verbunden durch einen feurigen oder taufenden Prozess, der sie alle gereinigt hat.« Beim Basalt erkannte er, dass dieser während eines Stadiums seiner Entstehung »die verflüssigende und ausdehnende Kraft des unterirdischen Feuers« besaß. Durch die Optik von Ruskins Prosa betrachtet, wurde die Geologie zum Krieg oder zur Apokalypse. Der Blick vom Gipfel eines Berges wurde zum Panoramablick über ein Schlachtfeld, auf dem sich feindliche Armeen von Fels, Stein und Eis epochenlang mit unglaublicher Langsamkeit und unvorstellbaren Kräften bekämpft hatten. Wenn man das liest, was Ruskin über Felsen geschrieben hat, dann wird man an die Mittel erinnert, die an ihrer Erschaffung beteiligt waren.
Zwischen 1820 und 1880 entstand auch in Amerika eine Dynastie von Landschaftskünstlern, die von den dramatischen Naturlandschaften der Vereinigten Staaten inspiriert wurden, darunter vor allem Frederick Edwin Church. Obwohl diese Künstler eindeutig vom britischen Triumvirat aus John Ruskin, William Turner und John Martin beeinflusst waren, so waren sie doch auch erfüllt vom typisch amerikanischen Wunsch, in der Darstellung der Landschaft ihrer Nation sowohl Ehrfurcht als auch Stolz auszudrücken, um das von Gott auserwählte Land zu ehren. Zu diesem Zweck erstellten sie riesige Gemälde von der amerikanischen Wildnis, oft in grellen Farben – die roten Fels-Zitadellen der Wüstenstaaten, die gebirgigen Thronsäle der Anden, die lodernden Himmel und spiegelnden Seen der Rockies oder die sprühende Großartigkeit der Niagara-Fälle. Ihre gigantischen Bilder betonten die Schwächlichkeit und Vergänglichkeit des Menschen. Oft kann man in einer Ecke der Gemälde ein oder zwei winzige Menschen erkennen, die von den wuchtigen Landschaftsporträts überragt werden. Diese Künstler waren außerdem auch in Botanik und Geologie versiert. Einige ihrer Bilder enthielten so viele landschaftliche Details, dass die Betrachter bei der ersten Ausstellung mit Operngläsern ausgerüstet wurden, damit sie die außergewöhnliche geologische Korrektheit des Gemäldes erkennen konnten – eine Erinnerung daran, wie eng verbunden die Geologie und die Darstellung der Berge waren.
Ein Ölgemälde ist ein geeignetes Medium, um die Entwicklung der Geologie wiederzugeben, da die Ölfarben quasi Landschaften in sich tragen aufgrund der Mineralien, aus denen sie bestehen. Ölfarben entstanden im 15. Jahrhundert als flämische Maler, darunter vor allem die Gebrüder van Eyck, versuchten, Leinsamenöl mit verschiedenen natürlichen Pigmenten zu vermischen. Dabei stellten sie fest, dass sie eine Substanz geschaffen hatten, die nicht nur kräftigere Farben erzeugte, sondern auch bezüglich der Trocknungsdauer besser war als die traditionelle Temperafarbe aus Ei. Viele der Pigmente, die sie mit Ölen vermischten, waren mineralischen Ursprungs. Ungebrannte Steinkohle wurde vor allem von den flämischen und holländischen Malern des 17. Jahrhunderts benutzt, um Schatten auf der Haut wiederzugeben. Schwarze Kreide und Kohle wurden für die Herstellung brauner Tinte verwendet. Die hellen Blautöne, die beispielsweise Claude Lorrain oder Nicolas Poussin verwendeten, um die Berge tief im Hintergrund darzustellen, entstanden aus Kupferkarbonaten oder Silberverbindungen. Der spezielle »schäumende« Effekt, auf den die holländischen Meister so stolz waren in ihren Darstellungen des Himmels, weil sie so auf hervorragende Weise die Konsistenz von Zirruswolken nachahmen konnten, wurde durch die Verwendung von pulverisiertem Glas und Asche hervorgerufen. Sinopia, rotes Eisenoxid, wurde benutzt, um Gesichtern und Bekleidung rötliche Töne zu verleihen oder für die ersten Skizzen eines Freskos auf Gips. Die Geologie ist also eng verbunden mit der Geschichte der Malerei. In den Ölgemälden der Landschaftsmalerei wurde die Erde dazu gezwungen, sich selbst wiederzugeben.
Eine noch engere Übereinstimmung zwischen Medium und Botschaft findet man in den »Suiseki-Steinen«, die in der T’ang und Sung-Dynastie von China populär waren. 700 Jahre bevor die Romantik die westliche Wahrnehmung von Bergen und Wildnis revolutionierte, huldigten chinesische und japanische Künstler bereits den spirituellen Qualitäten wilder Landschaften. Kuo Hsi, ein gefeierter chinesischer Maler und Verfasser von Essays aus dem 11. Jahrhundert, vertrat in seinem Essay über Landschaftsmalerei die Auffassung, dass eine wilde Landschaft »die Natur eines Menschen nährt«. Er schrieb, dass
die menschliche Natur das Getöse der staubigen Welt und die Abgeschlossenheit der menschlichen Behausungen für gewöhnlich verabscheut, während die menschliche Natur im Gegensatz dazu Dunstschleier, Nebel und die eindringlichen Stimmungen der Berge sucht.
Diese ehrwürdige östliche Wertschätzung der Wildnis erklärt die Beliebtheit der Suisekis, einzelner Steine, die durch die Kraft von Wind, Wasser und Frost in komplizierte, dynamische Formen umgewandelt wurden. Man fand sie in Höhlen, Flussläufen und Bergflanken, und sie wurden auf kleine Holzpodeste gestellt. Die Steine, die von Schülern auf dem Schreibtisch oder im Arbeitszimmer aufbewahrt wurden, so wie wir das von Briefbeschwerern kennen, wurden geschätzt, weil sie die Geschichte und die an ihrer Entstehung beteiligten Kräfte darstellten. Jedes Detail an der Oberfläche eines solchen Steines, jede Furche, Nase, Luftblase, Kante oder Perforation war ein Bericht über Äonen von Jahren. Jeder Stein war ein kleiner Kosmos im Taschenformat. Suisekis waren keine Metaphern für eine Landschaft, sie waren Landschaften. Viele dieser Steine sind noch erhalten und können in Museen besichtigt werden. Wenn man einen davon ganz aus der Nähe und lang genug betrachtet, dann verliert man jeden Maßstab, und dann können die Kringel, die Vertiefungen, die Hügel und die Täler, die die Natur in ihnen verewigt hat, groß genug wirken, um sie zu durchwandern.
Man muss hinzufügen, dass nicht jeder von den Fortschritten der Geologie im 19. Jahrhundert begeistert war. Das Gefühl, dass die Geologie genauso wie die anderen Wissenschaften auf bestimmteWeise die Menschheit verdrängt hatte, war weit verbreitet. Die wissenschaftlichen Untersuchungen und Methoden hatten auf gnadenlose und unwiderlegbare Art bewiesen, dass der Mensch nicht mehr und nicht weniger von Bedeutung ist als jede andere Anhäufung von Materie. Die Geologie hatte die Weltanschauung der Renaissance, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, untergraben. Die trostlose Ausdehnung der Zeit, die von der Geologie ans Licht gebracht wurde, war der überzeugendste Beweis dafür, dass die Menschheit bedeutungslos ist. Wer nachvollziehen konnte, dass Berge abgetragen werden und zu Staub zerfallen, musste zwangsläufig auch die Ungewissheit und Vergeblichkeit des menschlichen Strebens spüren. »Die Hügel sind Schatten«, schrieb der englische Lyriker Alfred Tennyson (1809–1892) in seinem Klagelied In Memoriam: »und sie fließen / von Form zu Form, und nichts bleibt. / Der feste Boden löst sich auf wie Dunst / Wie Wolken formt er sich selbst und geht dahin«. Und was das »Fließen von Form zu Form« betrifft: Die Philologie zeigte, dass die Sprache ebenso unaufhörlich Veränderungen unterworfen ist wie alles andere. Nicht einmal Worte bedeuteten noch das, was sie früher bedeuteten. Nichts war beständiger als der Wechsel.
Im Großen und Ganzen wurden die Enthüllungen der Geologie jedoch eher für inspirierend als für bedrohlich gehalten. Genauso gut wie Ruskin die Kräfte der Erde beschreiben konnte, brachte er sein Publikum dazu, eine Landschaft sowohl dahingehend zu interpretieren, was ihr fehlte als auch dahingehend, was vorhanden war – beispielsweise, an was es den Hügeln fehlte durch katastrophale Umwälzungen oder durch die unaufhörliche Arbeit der Erosion. In Ruskins Schriften erhob sich ein Berg nach dem anderen vor dem inneren Auge einer Fantasie, die alle Eventualitäten von »könnte gewesen sein« und »war einmal« in Betracht zog. Wie Shakespeares wunderbarer Prospero rief Ruskin die Geister der Vergangenheit und ließ sie über die Linien des Horizontes und über die Grate des Tages hinweg aufsteigen. Er lehrte, dass die wilde Natur lediglich eine Ruine von etwas viel Erstaunlicherem war – der Verfallszustand dessen, was er »die ersten großartigen Formen, die einst geschaffen wurden« nannte. Sogar das Matterhorn, dessen nach oben strebende Pracht Bewunderer zu Tausenden ins Tal von Zermatt zog, bezeichnete Ruskin als Skulptur, die von den wütenden Kräften der Erde aus einem einzigen Block gemeißelt und zurechtgeschnitten war. So wie John Muir später in den Vereinigten Staaten hat Ruskin seine zahlreichen Leser gelehrt, dass die geologische Vergangenheit überall erkennbar ist, wenn man nur weiß, wie man schauen muss.
John