Berge im Kopf. Robert Macfarlane

Berge im Kopf - Robert Macfarlane


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bearbeitet worden war, der dieses Tal geschaffen hatte, und er eine jener Stellen war, an denen der Gletscher seinen gewaltigen Bauch gerieben hatte.

      Ich schaute hoch. Es hatte vor Kurzem geschneit und die Hügel, die hinter dem Tal zu sehen waren, waren unter einer dünnen Schneeschicht grau. Ihre Umrisse wirkten dadurch weicher. Auf diese Entfernung waren sie vor dem weißen Winterhimmel kaum noch zu erkennen und nur ein paar dunkle Striche deuteten ihre Konturen an. Sie erinnerten mich an Kohlezeichnungen oder chinesische Aquarelle.

      Nach zwei Stunden erreichte ich den Taleingang, der im Westen bewacht wird vom kegelförmigen Stac-on-Iolaire, dem Adlerfels, und im Osten von Bynack More und Bynack Beg. Als ich zurückblickte zu den Wäldern im Norden, sah ich vielleicht in einer Entfernung von einem Kilometer – rostfarben auf weiß – ein Rudel Rotwild, das über die Flanke lief und die Beine immer dort höher hob, wo der Schnee oder die Heide tiefer wurden. Ich stand einige Minuten lang da und beobachtete die Prozession der Rehe, die einzigen Objekte in dieser Landschaft, die sich bewegten, und wurde plötzlich jäh von der Zeit fortgerissen. Vor 20 000 Jahren, im Zeitalter des Pleistozäns, lag dieser von Heide überwachsene Granit, über den die Rehe zogen, unter Millionen Kubikmetern Eis begraben. Vor 60 Millionen Jahren, als Schottland gewaltsam von Grönland und Nordamerika abgetrennt wurde, ergoss sich Basaltlava über das Land. Vor 170 Millionen Jahren driftete Schottland durch die nordischen Tropen, und dort, wo ich stand, war eine trockene rötliche Wüstenlandschaft. Und vor etwa 400 Millionen Jahren existierte in Schottland ein Gebirge mit den Ausmaßen des Himalaja, von dem nur erodierte Stummel übrig geblieben sind.

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      Loch Ruicht und Cairngorm

      Selbst wenn man nur Grundkenntnisse der Geologie besitzt, so verleihen sie einem doch die Fähigkeit, die Landschaft mit anderen Augen zu sehen. Sie ermöglichen den Blick zurück in Zeiten, in denen sich Felsen verflüssigen und Meere versteinern, in denen Granit herumschwappt wie Haferschleim, Basalt wie Eintopf köchelt und Kalksteinschichten so leicht zusammengefaltet werden wie Wolldecken. Durch die Schauspiele der Geologie wird die Terra firma zur Terra mobilis, und wir werden gezwungen, unsere bisherigen Überzeugungen darüber, was fest ist und was nicht, zu hinterfragen. Wenn wir also dem Gestein die Macht zusprechen, die Zeit zu überdauern und ihre Tribute zurückzuweisen (durch Steinhügel, Steinplatten, Monumente, Statuen), dann stimmt das nur in Bezug auf unsere eigene Vergänglichkeit. Betrachtet man dies im Kontext des größeren geologischen Rahmens, dann ist Fels genauso dem Wandel unterworfen wie jede andere Substanz.

      Vor allem aber ist die Geologie eine eindeutige Herausforderung für unser Verständnis von Zeit. Sie verursacht Schwindelgefühle beim Gedanken an das Hier und Jetzt. Die imaginäre Erfahrung dessen, was der Schriftsteller John McPhee »tiefe Zeit« nannte, also einer Zeit, deren Einheiten nicht aus Tagen, Stunden, Minuten oder Sekunden bestehen, sondern aus Millionen von Jahren, reduziert die menschliche Existenz zu einem winzigen Punkt auf der unendlichen Achse der Zeit.

      Betrachtet man die Ausmaße dieser »tiefen Zeit«, dann wird man auf wunderbare und zugleich furchterregende Weise mit dem völligen Zusammenbruch der Gegenwart konfrontiert, die zum Nichts wird angesichts der vergangenen und der zukünftigen Zeiten, die viel zu ausgedehnt sind, als dass man sie sich vorstellen könnte. Und das ist sowohl ein körperlicher als auch ein geistiger Schock. Sich einzugestehen, dass der harte Fels eines Berges durch den Zahn der Zeit verletzbar ist, ist die Voraussetzung dafür, über die entsetzliche Vergänglichkeit des menschlichen Körpers nachzudenken. Die Betrachtung der Tiefe der Zeit hat aber auch etwas seltsam Erregendes. Man lernt dabei unmissverständlich, dass man nur ein winziger Punkt ist in den Weiten des Universums. Man wird aber auch mit der Erkenntnis belohnt, dass man existiert – so unwahrscheinlich einem das auch vorkommen mag, man existiert.

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      Die Principles of Geology von Charles Lyell und all die anderen geologischen Arbeiten, die kurz danach versuchten, es ihm gleichzutun, öffneten die Augen der Menschen des 19. Jahrhunderts für die dramatische, verborgene Vergangenheit der Erde. Die allgemeine Vorstellungskraft begann, sich mit der Ästhetik einer maßlosen Langsamkeit und mit den allmählichen Veränderungen über Epochen hinweg auseinanderzusetzen. Und welche Position man auch immer vertrat gegenüber den großen Bewegungen der geologischen Debatte oder den diversen kleinen Erschütterungen und Konflikten, die die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts beunruhigten: Das, was absolut verwunderlich und erschreckend zugleich war, das war das unbeschreibliche Alter der Erde. In knapp einem halben Jahrhundert hatte die Geologie die Erdgeschichte um Milliarden von Jahren in Richtung Vergangenheit enthüllt.

      Das 17. und 18. Jahrhundert waren Zeitalter, in denen sich der Raum ausdehnte, in denen das Reich des Sichtbaren durch das Mikroskop und das Fernrohr stark vergrößert wurde. Es gibt Bilder aus dieser Zeit, die daran erinnern, wie überraschend diese plötzliche Ausdehnung des Raumes gewesen sein muss. Da wäre beispielsweise der holländische Linsenschleifer Antony van Leeuwenhoek, der 1674 in sein rudimentäres Mikroskop blickt und eine große Anzahl an Mikroorganismen erblickt, die sich in einem Wassertropfen sammeln: »Die Bewegung der meisten dieser Kleinstlebewesen im Wasser war so schnell, mal auf und ab und rundherum, dass es wunderbar anzuschauen war […].«

      Oder auch Galileo Galilei, der 1609 durch sein Teleskop zum Mond hinaufschaut und als erster Mensch feststellt, dass es dort oben hohe Berge und tiefe Täler gibt. Und schließlich Blaise Pascals Mischung aus Erstaunen und Entsetzen als ihm klar wird, dass der Mensch unsicher schwankend zwischen zwei Abgründen steht: zwischen der unsichtbar winzigen Welt der Atome mit der Unendlichkeit ihrer Universen, von denen jedes einzelne aus Firmament, Planeten und »Erde« besteht, sowie dem unsichtbaren Kosmos, der zu groß ist, ihn zu überblicken, und der sich mit der Unendlichkeit seiner Universen unermesslich weit über dem nächtlichen Himmel ausbreitet.

      Das 19. Jahrhundert war dann das Zeitalter, in dem die Zeit ausgedehnt wurde. Die beiden vorausgehenden Jahrhunderte hatten die sogenannte Pluralität der Welten zum Vorschein gebracht, die in den Traktaten über den Raum und über den Mikrokosmos der Atome existierten. Die Geologie des 19. Jahrhunderts zeigte dagegen die Vielzahl der Welten, die früher auf der Erde existiert hatten, jetzt aber verschwunden waren. Einige der Bewohner dieser früheren Welten sorgten dabei für mehr Aufregung als alle anderen Entdeckungen aus diesen uralten Zeiten. Das waren eine ganze Reihe monströser Kreaturen, die einst auf der Erde gelebt hatten: Mammuts, andere Säugetiere, Meeresdrachen und die Dinosaurier (wortwörtlich: »beängstigend große Echsen«), wie sie 1842 vom Paläontologen Richard Owen getauft wurden. Jahrhundertelang hatte man versteinerte Knochen und Zähne aus dem Boden geholt, aber erst im frühen 19. Jahrhundert wurde erkannt, dass einige dieser Relikte von verschiedenen ausgestorbenen Arten stammten.

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      »The Rocks and Antediluvian Animals«, Frontispiz aus Ebenezer Brewers Theology in Science (1860)

      Der französische Naturhistoriker Georges Cuvier (1769–1832) trug mehr als jeder andere zu dieser Erkenntnis bei. Es war Cuvier, der in der Kontroverse über das Artensterben nicht nur den Beweis lieferte, sondern auch den erforderlichen konzeptionellen Rahmen dafür schuf, Dinosaurier als versteinerte Tiere betrachten zu können. Cuviers Fallbeispiel war das behaarte Mammut. Indem er den Aufbau versteinerter Knochen des Mammuts mit dem von zeitgenössischen afrikanischen und indischen Elefanten verglich, bewies er, dass die fossilen Knochen zu einer anderen Spezies gehörten. Im Jahre 1804 überraschte er seine Hörer am Institut National de Paris mit der Behauptung, dass riesige, stark behaarte Elefanten, die nicht mehr auf der Erde leben, einst Frankreich bewohnten und mit großer Wahrscheinlichkeit in Herden auch dort hindurchgestampft sind, wo sich nun die makellosen Gärten von Versailles befanden. Da Cuvier hinsichtlich seines Körperumfangs als ein durchaus gewichtiger Mann bezeichnet werden konnte, bekam er zwangsläufig bald den Spitznamen »das Mammut«.

      Cuvier wurde zu Lebzeiten zu einer Berühmtheit, zum Teil wegen seines phänomenalen Gedächtnisses – er war bekannt dafür, sich an alle 19 000 Bücher in seiner Bibliothek erinnern zu können –, vor allem aber als Anatom. Während Hutton


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