Berge im Kopf. Robert Macfarlane

Berge im Kopf - Robert Macfarlane


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      Es gibt einen Brief von George Mallory, den er während der Erkundungsexpedition zum Everest im Jahr 1921 an seine Frau Ruth schrieb. Die Vorhut der Expedition lagerte mehr als 100 Kilometer vom Berg entfernt, zwischen einem tibetischen Kloster und der Zunge des Gletschers, der vom Fuß des Everest herabzog. Hier brach das Eis, beschrieb Mallory, »wie die riesigen Wellen eines braunen, wütenden Meeres«. Es war ein unwirtlicher Ort, kalt, hoch gelegen und dem Wind ausgesetzt, der sich durch den mitgeführten Schnee und Staub materialisierte und in schmutzigen Wirbeln durch die Felsen fegte. Mallory hatte diesen Tag, den 28. Juni, mit einer ersten Annäherung an den Berg verbracht, an dem er drei Jahre später sterben würde. Es war ein anstrengender Tag für ihn gewesen: Morgens um Viertel nach drei war er aufgestanden und erst nach 8 Uhr abends zurückgekehrt. Nach einem kilometerlangen Marsch über Gletschereis, Moränen und Fels. Zweimal war er in Gletschertümpel gestürzt.

      Am Ende dieses Tages lag Mallory erschöpft in seinem beengten, durchhängenden Zelt und schrieb im fleckigen Licht einer Sturmlampe einen Brief nach Hause. Er wusste, dass seine Arbeit am Berg für dieses Jahr wahrscheinlich beendet sein würde, wenn der Brief einen Monat später bei ihr in England eintraf. Den größten Teil nahm der Bericht über die Anstrengungen des vergangenen Tages ein, aber in den letzten Absätzen versuchte Mallory, Ruth zu vermitteln, wie er sich dabei fühlte, an einem solchen Ort zu sein und eine solche Tat in Angriff zu nehmen. »Der Everest hat die steilsten Grate und die furchtbarsten Abgründe, die ich je gesehen habe«, schrieb er. »Liebling – ich kann dir nicht beschreiben, wie sehr er Besitz von mir ergriffen hat.«

      Dieses Buch versucht zu erklären, wie das möglich ist: Wie ein Berg so vehement Besitz von einem Menschen ergreifen kann. Wie etwas, das letztendlich nur eine Fels- und Eismasse ist, solch eine außergewöhnliche Anziehungskraft ausüben kann. Aus diesem Grund untersucht es nicht, auf welche Weise die Menschen die Berge bestiegen haben, sondern was sie sich darunter vorgestellt haben, was sie für die Berge empfunden und wie sie die Berge wahrgenommen haben. Daher geht es weniger um Namen, Daten, Gipfel und Höhenangaben, wie in den Standardgeschichten vom Bergsteigen, sondern eher um Eindrücke, Gefühle und Vorstellungen. Es ist eigentlich auch keine Geschichte des Bergsteigens, sondern eine Geschichte der Vorstellungen davon.

      »Hohe Berge sind – für mich – eine Empfindung«, erklärt Junker Harold in Lord Byrons Prosagedicht Childe Harold’s Pilgrimage, während er nachdenklich in das ruhige Wasser des Genfer Sees schaut. Die folgenden Kapitel zeichnen in Form einer Genealogie nach, welche emotionalen Beziehungen zu den Bergen aufeinander folgten, wie diese Gefühle jeweils entstanden sind, übernommen wurden, sich veränderten und weitergegeben wurden, bis sie der Einzelne oder ein ganzes Zeitalter annahm. Das Schlusskapitel erörtert, was dazu führte, dass George Mallory so besessen vom Everest war, dass er wegen dieses Berges seine Frau und seine Familie verließ und schließlich von ihm getötet wurde. Mallory ist ein Paradebeispiel für die Themen dieses Buches, da sich in ihm die verschiedenen Empfindungen für die Berge mit ungewohnter und tödlicher Vehemenz vereinigten. Für dieses Kapitel habe ich Mallorys Briefe und Tagebücher um meine eigenen Vermutungen ergänzt, um die drei Everest-Expeditionen der 1920er-Jahre, an denen Mallory teilnahm, spekulativ zu rekonstruieren.

      Um einen historischen Abriss der Gefühlsempfindungen zu den Bergen zu entwerfen, müssen wir in der Zeit weit zurückgehen – vor meine ängstliche Querung des steilen Schneehangs in den Alpen, noch vor Herzog, dem auf dem Gipfel der Annapurna die Namen seiner illustren Vorgänger durch den Kopf gehen, noch vor Mallory, der am Fuß des Everest auf seinem Lager einen Brief an Ruth kritzelt, während in der Ecke die Sturmlampe leise surrt. Sogar noch vor jene vier Männer, die im Jahr 1865 von den Felsen des Matterhorns stürzen. Wir müssen zurück in jene Zeit, in der das moderne Repertoire an Empfindungen für die Berge zu entstehen begann. Also zurück in den Sommer 1672. In die für die Jahreszeit ungewöhnliche Kälte auf einem Pass, über den der Philosoph und Geistliche Thomas Burnet seinen jungen aristokratischen Zögling, den Earl of Wiltshire, über die Alpen und hinab in die Lombardei führt. Denn bevor die Berge geliebt werden konnten, musste ihre Entstehung geklärt werden, und dafür stellte sich Burnet als unentbehrlich heraus.

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      DAS GROSSE BUCH AUS STEIN

      »Unsere Phantasien können beeindruckt werden, wenn wir die Berge als Monumente der langsamen Arbeit gewaltiger Naturkräfte durch unzählige Jahrhunderte betrachten.«

      LESLIE STEPHEN, 1871

      August 1672 – Hochsommer auf dem europäischen Kontinent. In Mailand und Genua schwitzten die Bürger unter der starken europäischen Sonne. Fast 2000 Meter höher fröstelt Thomas Burnet am Simplon-Pass, einem der wichtigsten Übergänge der Alpen. Mit ihm friert der junge Graf von Wiltshire, ein Ur-Ur-Enkel von Thomas Boleyn, dem Vater der unglücklichen Anne, der zweiten Frau König Heinrichs VIII., die er hinrichten ließ. Der Junge brauchte eine Ausbildung, hatte seine Familie entschieden, und Burnet, ein anglikanischer Geistlicher mit außergewöhnlich reicher Vorstellungskraft, hat diese Aufgabe übernommen. Sie sollte zu einem zehnjährigen Bildungsurlaub von seinem Lehrstuhl am Christ’s College in Cambridge führen. Er wird zum Beschützer und Reiseleiter einer ganzen Reihe heranwachsender Aristokraten; der junge Graf ist der Erste von ihnen.

      Für Burnet ist es ein Vorwand, den katholischen Kontinent zu besuchen. Die beiden werden mit ihrem mürrischen Führer und seinen wiehernden Maultieren den Simplon-Pass überqueren und danach Richtung Süden reisen, am schillernden Lago Maggiore entlang, dann durch die Obstgärten und Dörfchen der Gebirgsausläufer, schließlich über das grüne Fries der Lombardischen Ebenen bis hinab zu den blassen, erbaulichen Städten Norditaliens, die der Junge sehen muss – an erster Stelle Mailand.

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      Simplonpass mit Böshorn und Fletschhorn

      Doch zunächst steht die Überquerung der Alpen an. Es gibt wenig, was den Simplon-Pass anziehend macht. Am höchsten Punkt des Passes steht eine rudimentäre Herberge, aber sie ist kein angenehmer Ort für eine Übernachtung. Die Kälte dort oben geht einem bis auf die Knochen, und es gibt Bären und Wölfe in der Gegend. Die Herberge selbst ist eigentlich ein Schuppen und wird bewirtschaftet von Savoyarden, Schäfern, die widerwillig auch noch die Gäste betreuen.

      Trotz dieser zahlreichen Unannehmlichkeiten ist Burnet glücklich. Denn hier hat er mitten in den Bergen einen Ort entdeckt, der vollkommen anders ist als jeder andere Ort, den er kennt, und der sich so seinen Vergleichsmöglichkeiten entzieht. Für Burnet ist diese Landschaft wahrlich einzigartig auf dieser Erde. Obwohl es Sommer ist, liegt dort Schnee in hohen, vom Wind geformten und hart gefrorenen Verwehungen, denen die Sonne offenbar nichts anhaben kann. Im Sonnenlicht schimmern sie golden, im Schatten sehen sie aus wie das cremige Grauweiß von Knorpel. Felsbrocken so groß wie Gebäude liegen dort verstreut und werfen blaue Schatten. Das Geräusch fernen Donners rollt von Süden heran, doch die einzigen Blitze sind mehr als eintausend Meter unterhalb von Burnet über dem Piemont sichtbar. Er ist entzückt davon, über dem Gewitter zu sein.

      Dort unten in Italien sind die berühmten Ruinen von Rom, die der junge Graf als Teil seiner Lektion über die Antike besuchen muss, weiß Burnet. Auch Burnet selbst bleibt nicht unberührt angesichts der Pracht von Roms zerstörten Tempeln und den vergoldeten, weinenden Heiligen in den Nischen der Kirchen. Aber dort oben ist etwas, das er später beschreiben wird als »diese ungeheuren Gebirgsformen« zwischen dem gigantischen Geröll der Alpen, das für Burnet letztendlich viel beeindruckender und überwältigender ist als die Ruinen von Rom. Obwohl Burnet die Berge schon wegen seines Alters als feindlich und abweisend empfinden muss, fühlt er sich auf seltsame Weise von ihnen angezogen. »Sie haben etwas Erhabenes und Würdevolles«, schrieb er nach der Überquerung des Simplon-Passes,

      etwas, das den Geist zu großen Gedanken und Leidenschaft inspiriert […]. Wie all jene Dinge, die zu groß sind, um sie begreifen zu können, erfüllen und überfluten sie den Geist durch ihr Übermaß und versetzen


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