Berge im Kopf. Robert Macfarlane

Berge im Kopf - Robert Macfarlane


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sie entweder umkehren müssten oder Gefahr liefen, ernsthafte Erfrierungen davonzutragen. Sie setzten den Aufstieg fort.

      In seinem Bericht beschreibt Herzog, wie er sich immer mehr von dem löst, was geschieht. Die reine, dünne Luft, die kristallene Schönheit der Berge und die seltsame Schmerzlosigkeit der Erfrierungen sorgten dafür, dass er in einen Zustand der dumpfen Gelassenheit geriet, die ihn unempfindlich machten gegenüber seinen schlimmer werdenden Erfrierungen.

      Die Art, wie ich meinen Gefährten und meine Umgebung sehe, hat etwas Unwirkliches … Innerlich muss ich über unsere jämmerlichen Anstrengungen lächeln. Zugleich sehe ich mir bei all meinen Bewegungen von außen zu. Doch sie sind gar nicht mehr angestrengt, es ist, als wäre die Schwerkraft aufgehoben. Diese durchsichtigen, in höchster Reinheit sich darbietenden Formen sind nicht mehr der Berg, den ich ersteige. Es ist ein Berg, den ich träume.

      Noch immer wie in Trance – und für die Schmerzen unerreichbar – suchten sich Herzog und Lachenal einen Weg durch den abschließenden Felsriegel und erreichten den Gipfel:

      Lachenal stampft mit den Füßen auf: Er fühlt, dass sie erstarren. Ich auch. Aber ich achte kaum darauf. Der höchste Gipfel, den Menschen je bezwangen! Er liegt unter unseren Füßen! Vor meinem Geist zieht die Reihe unserer Vorgänger, der großen Pioniere des Himalaja, vorüber: Mummery, Mallory und Irvine, Bauer, Welzenbach, Tilman, Shipton … Wie viele sind tot, wie viele fanden in diesen Bergen ein Ende, wie sie es sich schöner nicht wünschen konnten? […] Mein Ende ist nahe, ich fühle es, aber es ist ein Ende, wie alle Bergsteiger es sich wünschen, im Einklang mit der Leidenschaft, die sie ihr Leben lang beseelt. Ich war den Bergen mit weit offenen Sinnen dankbar dafür, dass sie sich mir heute in ihrer ganzen Schönheit zeigen. Ich empfinde ihr Schweigen wie die Stille einer Kirche. Ich leide nicht und fühle nicht die geringste Bangigkeit.

      Das Leiden und die Angst kamen später. Während Herzog über den Felsriegel abstieg, verlor er seine Handschuhe, und als er das Lager IV erreichte, war er kaum noch in der Lage zu gehen. Sowohl an seinen Füßen als auch seinen Händen hatte er schwerste Erfrierungen davongetragen. Während des verzweifelten Rückzugs über steiles Gelände hinab ins Basislager stürzte er und brach sich mehrere Knochen in seinen bereits fürchterlich zugerichteten Füßen. Als er sich abseilen musste, riss ihm das Seil die Haut in dicken Streifen von den Händen.

      Sobald das Gelände flacher wurde, konnte Herzog getragen werden, und er wurde in einem Tragesack, in einem Korb, auf einem Schlitten und zuletzt auf einer Trage vom Berg heruntergebracht. Während des Rückmarschs waren seine Hände und Füße in Plastikfolie eingepackt, um sie vor weiteren Schäden zu schützen. Erreichten sie abends das Lager, spritzte ihm Expeditionsarzt Oudot das Betäubungsmittel Novocain, ferner Acetylcholin und Penizillin in die Arterien der Oberschenkel und Unterarme, indem er ihm die lange Nadel in die linke und die rechte Leiste und in seine Ellbogen stieß. Das war eine so schmerzhafte Erfahrung, dass Herzog darum bettelte, ihn sterben zu lassen. Im Tal angelangt, waren seine Füße schwarz und braun geworden; als sie Gorakpur erreichten und in Sicherheit waren, hatte Oudot ihm fast alle Zehen und Finger amputiert.

      Ich las Annapurna in diesem Sommer drei Mal. Es leuchtete mir ein, dass Herzogs Entscheidung für den Gipfel richtig war, obwohl er sie teuer bezahlen musste. Was waren schon Zehen und Finger, da waren er und ich uns einig, im Vergleich dazu, auf diesen wenigen Quadratmetern Schnee gestanden zu haben? Selbst wenn er gestorben wäre, hätte es sich gelohnt. Das war die Lehre, die ich aus Herzogs Buch zog: Der schönste Tod ist der auf einem Gipfel – lieber Gott, bewahre mich vor einem Tod in den Tälern.

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      12 Jahre nachdem ich Annapurna zum ersten Mal gelesen hatte – 12 Jahre, in denen ich fast alle meine Ferien in den Bergen verbracht hatte –, stieß ich in einem Antiquariat in Schottland auf eine weitere Ausgabe. In dieser Nacht saß ich lange da und las es noch einmal durch, und es zog mich wieder in seinen Bann. Kurz darauf verabredete ich mich mit einem Kletterpartner, einem Freund aus dem Militärdienst mit dem Namen Toby Till, und buchte Flüge für eine Woche in den Alpen.

      Wir kamen Anfang Juni in Zermatt an und hofften, das Matterhorn noch klettern zu können, bevor im Sommer die Horden einfielen und die Route blockierten. Der Berg war jedoch noch in einen dicken Eispanzer gehüllt, ein Besteigungsversuch war uns zu gefährlich. So fuhren wir ins nächste Tal weiter, wo die Schneeschmelze schon weiter sein sollte. Wir hatten vor, hoch oben zu zelten und am nächsten Morgen das Lagginhorn über seinen leichten Südostgrat zu besteigen. Ich dachte kurz darüber nach, dass das Lagginhorn mit 4 010 Metern fast genau halb so hoch ist wie die Annapurna.

      In der Nacht schneite es. Ich lag wach und lauschte dem Geräusch der schweren Schneeflocken, die auf das Überzelt fielen. Sie verklumpten und bildeten dunkle Schattenkontinente auf dem Stoff, bis diese für die abschüssige Zeltbahn zu schwer wurden und mit einem leisen Zischen auf den Boden hinabrutschten. In den frühen Morgenstunden hörte es auf zu schneien, aber als wir morgens um 6 Uhr den Reißverschluss des Eingangs öffneten, schimmerte ein Unheil verkündender gelblicher Lichtschein wie ein Sturmbote durch die Wolken. Es war uns nicht ganz geheuer, als wir in Richtung Grat aufbrachen.

      Als wir den Grat betreten hatten, stellte er sich als schwieriger heraus, als er von unten ausgesehen hatte. Das Problem war die etwa ein Meter tiefe Altschneeschicht auf den Felsen, die noch einmal von 15 Zentimeter Neuschnee bedeckt war. Die Schichten hatten sich nicht verbunden, der Neuschnee war feucht und schwer. Faulschnee ist entweder körnig wie Zucker oder er bildet einzelne Becherkristalle – egal, um welche Form es sich handelt, er erzeugt immer instabile Schichten in der Schneedecke.

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      Matterhorn

      Anstatt einfach von Fels zu Fels zu klettern, mussten wir uns durch den Schnee wühlen und konnten nie sicher sein, ob wir beim nächsten Schritt auf Stein oder ins Leere treten würden. Es gab auch keine Spuren, denen wir hätten folgen können: Offensichtlich war seit dem letzten Sommer niemand mehr auf dem Grat gewesen. Und außerdem war es kalt, schneidend kalt. Wenn mir die Nase lief, froren die Rinnsale sofort auf meinem Gesicht fest. Der Wind ließ meine Augen tränen, und die Wimpern meines rechten Auges froren zusammen. Ich musste sie voneinander trennen, indem ich mit meinen Fingern die Lider auseinanderzog.

      Nach zwei Stunden Arbeit näherten wir uns dem Gipfel, doch der Grat wurde steiler und wir kamen daher noch langsamer vorwärts. Ich spürte die Kälte bis in die Knochen. Ich hatte auch den Eindruck, dass mein Gehirn langsamer und weniger präzise arbeitete, so als ob die Kälte meine Gedanken eingefroren und zähflüssig gemacht hätte. Natürlich hätten wir umkehren können. Doch wir gingen weiter.

      Die letzten 15 Meter zum Gipfel waren wirklich sehr steil und führten durch tiefen, unverfestigten Schnee. Ich hielt an, um die Lage zu beurteilen. Es sah aus, als könnte der Berg jeden Augenblick den ganzen Schnee abwerfen, so wie man sich eines Mantels entledigt. Hin und wieder glitten kleinere Schneerutsche an mir vorbei. Ich hörte das Geräusch von fallenden Steinen aus der Ostwand des Berges.

      Ich hatte die Spitzen meiner Schuhe in den Schnee gerammt, vor mir baute sich der steile Hang auf. Ich bog meinen Kopf nach hinten und schaute zum Himmel hinauf. Wolken rasten über den Gipfel, und einen Moment lang schien der Berg langsam auf mich herabzustürzen.

      Ich drehte mich um und rief zu Toby, der ein paar Meter unter mir stand, hinab: »Sollen wir weitergehen? Mir gefällt das hier nicht. Das Ganze kann jederzeit ins Rutschen kommen.«

      Unterhalb von Toby verengte sich der Hang zu einer Rinne, die auf den Steilabbruch an der Südseite des Grates zulief. Wenn ich ausrutschte oder der Schnee unter mir nachgab, würde ich an Toby vorbei rutschen, ihn aus dem Stand reißen, und dann würden wir Hunderte von Metern im freien Fall auf den Gletscher hinabstürzen.

      »Natürlich gehen wir weiter, Rob, klar!«, rief Toby zurück.

      »Gut.«

      Ich hatte nur ein Eisgerät dabei, aber der Hang war so steil, dass zwei angebracht gewesen wären. Improvisation war gefragt. Ich nahm den Pickel in die linke Hand und machte


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