Berge im Kopf. Robert Macfarlane

Berge im Kopf - Robert Macfarlane


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wie er wegen der dafür erforderlichen Zeit nur in der Kindheit möglich ist, plünderte ich die Bibliothek meines Großvaters und hatte gegen Ende des Sommers etwa ein Dutzend der berühmtesten Expeditionsberichte von den Bergen der Welt und den beiden Polen gelesen, einschließlich der Leidensgeschichte von Apsley Cherry-Garrard in der Antarktis The Worst Journey in the World, John Hunts Mount Everest, Kampf und Sieg und Edward Whympers dramatischem Bericht von seinen Berg- und Gletscherfahrten in den Alpen.

      Die kindliche Vorstellungskraft vertraut mehr als die von Erwachsenen darauf, dass eine Geschichte stimmt und alles tatsächlich so geschehen ist, wie es erzählt wird. Ein Kind kann sich auch besser einfühlen, und als ich diese Bücher las, erlebte ich das Geschehen intensiv mit, und als einer der Entdecker. Ich verbrachte mit ihnen die Abende in ihren Zelten und taute gefrorenen Pemmikan über einem Kocher auf, der mit Seehundfett betrieben wurde, während draußen der Wind pfiff. Ich zog meinen Schlitten durch hüfthohen Polarschnee. Ich stolperte über Schneeverwehungen, stürzte Rinnen hinab, kletterte über Grate und schritt auf Bergrücken aus. Von den Gipfeln der Berge blickte ich auf die Welt herab, als handele es sich dabei um eine Landkarte. Mindestens zehn Mal kam ich fast ums Leben.

      Ich war fasziniert von den Entbehrungen, die diese Männer – denn es waren fast immer nur Männer – auf sich nahmen und aushielten. An den Polen war es so kalt, dass Weinbrand zu festem Eis gefror und die Zungen der Hunde an ihrem Fell kleben blieben, wenn sie versuchten, sich zu lecken. Auch die Bärte der Männer froren an ihren Jacken fest, wenn sie nach unten schauten. Bekleidung aus Wolle wurde durch die Kälte so steif wie Metall und musste mit einem Hammer weichgeklopft werden. In der Nacht mussten die Forschungsreisenden ihre beinhart gefrorenen Schlafsäcke aus Rentierfell zuerst mühsam Zentimeter für Zentimeter auftauen, bis sie hineinkriechen konnten. In den Bergen gab es Wechten, die wie waagrechte Wellen über die Gratkanten hinausragten, es gab die unsichtbaren Gefahren der Höhe sowie Lawinen und Schneestürme, welche die Welt in einem einzigen Augenblick in ein weißes Nichts verwandeln konnten.

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      Vorläufige Karte der Mount-Everest-Expedition von 1921

      Abgesehen von Hillarys und Tenzings erfolgreicher Besteigung des Everest im Jahr 1953 und der Rettung der gesamten Crew von Ernest Shackleton im Jahr 1916 – nachdem Frank Worsley, der Kapitän der »Endurance«, seine unglaubliche Navigationskunst bewiesen hatte und die »James Caird«, das kleine Rettungsboot, 800 Meilen (1288 Kilometer) durch die stürmische See des südlichen Ozeans gesteuert hatte, um zusammen mit Shackleton einen Rettungstrupp für die zurückgebliebene Mannschaft der »Endurance« zu organisieren, woran Shackleton unerschütterlich festhielt, während das alte Europa wie Packeis auseinanderbrach – führten fast alle diese Geschichten zum Tod oder zu irgendeiner Form von Verstümmelung. Ich mochte diese grässlichen Details. In einigen der Pol-Abenteuer gab es kaum eine Seite, auf der nicht der Verlust eines Crewmitglieds oder eines Körperteils zu beklagen war. Zuweilen bedeutete Körperteil zwangsläufig Teammitglied. Auch Skorbut wütete unter den Entdeckern und führte dazu, dass das Fleisch sich auflöste und wie feuchter Biskuit von den Knochen fiel. Ein Mann litt so sehr daran, dass ihm am ganzen Körper das Blut aus den Poren quoll.

      Da war aber noch etwas anderes an diesen Geschichten, was mich tief bewegte: die Schauplätze, an denen sie spielten. Die Kargheit der Landschaft, in der die Männer unterwegs waren, zog mich an – die Wüstenlandschaften der Berge und der Pole mit ihrem strengen manichäischen Dualismus von Schwarz und Weiß. Auch sittliche Werte wurden in diesen Berichten polarisiert. Mut und Feigheit, Ruhe und Anstrengung, Gefahr und Sicherheit, richtig und falsch: Die unerbittliche Natur ihrer Umgebung ordnete alles nach diesem binären Prinzip. Ich wünschte mir, dass mein Leben auch immer so geradlinig verlaufen würde, so einfach hinsichtlich seiner Prioritäten.

      Ich begann diese Männer zu lieben: die Polarforscher mit ihren Schlitten, ihren Liedern und ihrer Schwäche für Pinguine ebenso wie die Bergsteiger mit ihren Pfeifen, ihrer Unbekümmertheit und ihrem Durchhaltevermögen. Ich liebte die Widersprüchlichkeit zwischen ihrer rauen Erscheinung – die robusten Kniebundhosen aus Tweed, die stoppeligen Koteletten und Schnurrbärte, die Seide und das Bärenfett, mit dem sie sich vor der Kälte schützten – und ihrer fast schon elitären Sensibilität für die Schönheit der Landschaften, durch die sie sich bewegten. Hinzu kam die Kombination aus unglaublichem Wagemut und aristokratischer Finesse – beispielsweise wurden bei der Expedition zum Everest im Jahr 1924 sechzig Dosen Wachteln in Gänseleberpastete und ein edler Jahrgang Montebello-Champagner mitgeschleppt, zu deren Genuss sich die Teilnehmer Fliegen umbanden. Und die Akzeptanz, dass ein gewaltsamer Tod wenn nicht wahrscheinlich, so doch immerhin leicht möglich war.

      Sie schienen mir damals die vorbildlichen Reisenden zu sein: unbeeindruckt von Hindernissen und die Bescheidenheit in Person. Ich sehnte mich danach, so zu sein wie sie. Ich sehnte mich besonders danach, die Widerstandskräfte des kleinen Birdie Bowers zu besitzen, Scotts rechter Hand, der sich während der Seereise auf der »Terra Nova« jeden Morgen an Deck mit einem Eimer Meerwasser wusch und in der Lage war, bei Temperaturen von minus 30 Grad Celsius tief und fest zu schlafen – ja, zu schlafen.

      Vor allem aber fühlte ich mich zu diesen Männern hingezogen, die weit reisten, um die Gipfel der höchsten Berge zu besteigen. So viele von ihnen kamen dabei ums Leben. Ich lernte die Liste der Opfer auswendig: Mallory und Irvine am Everest, Mummery am Nanga Parbat, Donkin und Fox am Koshtan Tau im Kaukasus … Die Liste ging weiter und weiter, durch die Ränge der weniger bekannten Toten. Die Bergsteiger beflügelten meine Fantasie ähnlich wie die Polarexpeditionen: durch die Schönheit und Gefährlichkeit der Landschaft, durch die Weite des Raumes, durch die völlige Nutzlosigkeit des Ganzen – nur eben in großen Höhen anstatt in hohen Breitengraden. Sicherlich hatten diese Leute ihre Fehler. Sie waren anfällig für die Sünden ihrer Zeit: Rassismus, Sexismus und ausgeprägter Snobismus. In ihre Tapferkeit mischte sich ein starker Egoismus. Aber damals bemerkte ich diese Charakterzüge nicht. Alles, was ich sah, waren unglaublich tapfere Männer, die hinaustraten in das verheißungsvoll glitzernde Licht des Unbekannten.

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      Das Buch, das zweifellos den stärksten Eindruck bei mir hinterlassen hat, war Annapurna von Maurice Herzog, das er 1951 von einem Krankenhausbett aus diktierte. Er konnte es nicht selbst schreiben, weil er keine Finger mehr hatte. Herzog war der Leiter einer Mannschaft aus französischen Bergsteigern, die im Frühjahr 1950 mit dem Ziel in den nepalesischen Himalaja reiste, die erste Gruppe zu sein, die einen der vierzehn Achttausender der Welt bestieg.

      Nach einem mühseligen Monat der Gebietserkundung unter dem Zeitdruck des nahenden Monsuns gelangte das französische Team schließlich in das Zentrum des Annapurna-Massivs, eine entlegene Welt aus Fels und Eis, die von den höchsten Bergen der Welt wie von einem Ring umschlossen ist. »Der Talkessel, in dem wir uns befinden, ist völlig unerschlossen: Noch nie hat ein Mensch die Berge ringsumher gesehen«, schrieb Herzog.

      Kein einziges Tier, keine Pflanze gedeiht hier. Im reinen Licht des Morgens erhöht das Fehlen jedes Lebens, die Vereinsamung der Natur, nur unsere innere Kraft. Wer mag die Erhebung verstehen, die wir aus diesem Nichtsein schöpfen, während sich die Menschen an der üppigen Mannigfaltigkeit der lebendigen Natur begeistern?

      Langsam kam die Mannschaft am Berg immer höher, indem sie nach und nach Hochlager errichtete. Die Höhe, die extreme Kälte und die schweren Lasten begannen, ihren Tribut zu fordern. Aber je schwächer Herzog körperlich wurde, desto stärker wurde seine Überzeugung, dass der Gipfel erreichbar sei. Am 3. Juni schließlich verließen Herzog und der Bergführer Louis Lachenal aus Chamonix das am höchsten gelegene Lager V, um zu versuchen, den Gipfel der Annapurna zu erreichen.

      Der Schlussanstieg des Berges verlief über eine lange, gebogene Eisrampe, die das Team »Sichelgletscher« getauft hatte, und über einen steilen Felsriegel bis zum Gipfel. Abgesehen von diesem Felsaufschwung bot die Route keine technischen Schwierigkeiten, und da Herzog und Lachenal froh darüber waren, Gewicht sparen zu können, ließen sie ihr Seil zurück.

      Das Wetter war schön und wolkenlos, als sie von Lager V aufbrachen. Doch ein klarer Himmel


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