Berge im Kopf. Robert Macfarlane
Bewusstsein für die Schönheit der Gebirgslandschaft. 1786 wurde der Gipfel des Mont Blanc erreicht, und das Bergsteigen im eigentlichen Sinn entstand Mitte des 19. Jahrhunderts aus wissenschaftlichem Erkenntnisdrang (in der Frühzeit dieses Sports hätte kein Bergsteiger, der etwas auf sich hielt, einen Gipfel bestiegen, ohne dort oben wenigstens den Siedepunkt von Wasser zu bestimmen), war zweifellos aber auch von der Schönheit inspiriert. Die komplexe Ästhetik von Eis, Sonnenlicht, Fels, Höhe, senkrechten Abbrüchen und klarer Luft – was der englische Schriftsteller und Maler John Ruskin als die »endlose Klarheit des Raumes, die immerwährende Reinheit des ewigen Lichtes« bezeichnete – empfand der Mensch des ausgehenden 19. Jahrhunderts unbestritten als prachtvoll. Die Berge begannen eine starke und oft verhängnisvolle Anziehungskraft auf den menschlichen Geist auszuüben.
»Die Wirkung dieses seltsamen Matterhorns auf die Vorstellungskraft ist tatsächlich so groß, dass selbst die ernsthaftesten Philosophen sich ihr nicht entziehen können«, behauptete Ruskin 1862 stolz von seinem Lieblingsberg. Drei Jahre später wurde das Matterhorn erstmals bestiegen; beim Abstieg stürzten vier der erfolgreichen Erstbesteiger tödlich ab.
Um die Jahrhundertwende waren alle Alpengipfel bestiegen – die der Westalpen hauptsächlich durch Engländer und ihre einheimischen Führer –, und fast alle Alpenpässe auf Karten verzeichnet. Das sogenannte Goldene Zeitalter des Alpinismus war vorüber. Viele hielten die Berge Europas für passé, und das Interesse der Bergsteiger wandte sich dem Höhenbergsteigen zu, bei dem sie sich extremen Anstrengungen und noch größeren Risiken aussetzten, um die Gipfel des Kaukasus, der Anden und des Himalaja zu erreichen: Ushba, Popocatépetl, Nanga Parbat, Chimborazo oder Kasbek, an dem in der griechischen Mythologie Prometheus von Hephaistos an den Fels gekettet wurde.
Die Macht, die diese hohen Berge an der Schwelle zum 20. Jahrhundert auf ihre Bewunderer ausübten, war enorm, und oft wurden sie zum Objekt einer Besessenheit. Der Kangchendzönga, ein Achttausender, der bei gutem Wetter vom hoch gelegenen Darjeeling aus zu sehen ist, fesselte jahrzehntelang die Sahibs und Memsahibs, die im Sommer der Hitze des indischen Tieflands entflohen.
»Klar und sauber zeichnet sich der schneebedeckte Gipfel des Kangchenzönga vor dem dunkelblauen Himmel ab, so ätherisch wie der Geist, weiß und rein im Sonnenlicht […]. Wir sind erbaut«, stimmte Francis Younghusband an, der englische Offizier und Forschungsreisende, der die Briten 1904 bei ihrem Angriff auf Tibet anführte. Ein begieriges Publikum verfolgte 1892 über die Berichte in der Londoner Tageszeitung The Times die Geschicke der gewagten Expedition von Martin Conway zum Gasherbrum im Karakorum. Und der Everest, der höchste und mächtigste Gipfel von allen, verzauberte ganz Großbritannien, das diesen Berg weitgehend als den seinen betrachtete. Unter den Verzauberten war auch George Mallory, dessen Tod am Nordostgrat im Jahr 1924 die Nation schockierte. Ein Zeitungsnachruf für Mallory und Irvine machte voller Bewunderung auf die »enge geistige Verbundenheit zwischen den Menschen daheim und den Gipfelstürmern« aufmerksam.
Edward Lear, Kangchenjunga from Darjeeling, 1879
Die Gefühle und die Einstellungen, von denen die frühen Bergsteiger angetrieben wurden, bestimmen heute noch die Vorstellungen der westlichen Welt, wenn sie nicht sogar noch tiefer verwurzelt sind. Millionen von Menschen huldigen dem Kult der Berge. Das Senkrechte, das Wilde, das Eisige – all diese Landschaftsformen werden mittlerweile verehrt. Ihre Darstellungen durchdringen eine urbanisierte westliche Zivilisation, die immer gieriger nach Wildnis und Wildheit sucht, nach Grenzerfahrungen, selbst wenn es sich dabei nur um solche aus zweiter Hand handelt. Der Bergsport ist eine der am schnellsten wachsenden Freizeitaktivitäten der letzten zwanzig Jahre. Geschätzte 10 Millionen Amerikaner gehen jedes Jahr bergsteigen, 50 Millionen wandern. Rund 4 Millionen Briten halten sich für mehr oder weniger gute Berggänger. Weltweit wird der Umsatz mit Outdoor-Produkten und -Dienstleistungen auf 7,8 Milliarden Euro im Jahr geschätzt, Tendenz steigend.2
Was das Bergsteigen von anderen Freizeitaktivitäten unterscheidet, ist die Tatsache, dass manche seiner Anhänger dabei umkommen. Innerhalb von sieben mörderischen Wochen starben im Sommer 1997 in den Alpen 103 Menschen. Allein im Mont-Blanc-Gebiet ist die durchschnittliche Zahl der Todesfälle pro Jahr fast dreistellig. Es gibt Winter, in denen im schottischen Hochland mehr Menschen umkommen als auf den Straßen ringsum. Als Mallory den Everest anging, war dieser die letzte Bastion der Erde, die sich noch nicht hatte erobern lassen, der »Dritte Pol«. Heute ist er ein gigantischer, geschmackloser, eisiger Taj Mahal, eine kunstvoll mit Zuckerguss glasierte Hochzeitstorte, auf deren Hauptrouten Expeditionsveranstalter jährlich Hunderte von unerfahrenen Kunden hinauf- und hinablotsen. Seine Hänge sind mit Leichen aus der heutigen Zeit übersät: Die meisten liegen in jenem Bereich, der allgemein als Todeszone bezeichnet wird, in einer Höhe, in der sich der menschliche Körper nicht mehr erholt und einem allmählichen, aber unaufhaltsamen Degenerationsprozess unterworfen ist.
Im Verlauf von drei Jahrhunderten hat sich also in der westlichen Welt ein tiefgreifender Wandel in der Wahrnehmung der Berge vollzogen. Jene Eigenschaften, derentwegen die Berge einst gemieden wurden – Steilheit, Einsamkeit, Gefährlichkeit –, wurden nun als ihre größten Attraktionen gepriesen.
Diese Veränderung war so drastisch, dass sie – aus heutiger Perspektive betrachtet – verdeutlicht, wie stark unsere Reaktion auf Landschaften kulturell geprägt ist. Das heißt: Wenn wir eine Landschaft betrachten, sehen wir nicht das, was dort ist, sondern weitgehend das, was wir dort erwarten. Wir schreiben einer Landschaft Eigenschaften zu, die sie nicht von sich aus besitzt, Wildheit beispielsweise oder Trostlosigkeit, und bewerten sie entsprechend. Mit anderen Worten: Wir lesen Landschaften. Wir interpretieren ihre Formen vor dem Hintergrund unserer eigenen Erfahrung und Erinnerung sowie unseres gemeinsamen kulturellen Gedächtnisses. Obwohl die Menschen die Wildnis traditionsgemäß auch aufsuchten, um der Kultur oder den Konventionen zu entfliehen, haben sie diese Wildnis doch so wahrgenommen, wie alles wahrgenommen wird: nämlich durch einen Filter von Assoziationen. Der Dichter und Landschaftsmaler William Blake hat dies auf den Punkt gebracht. »Der Baum«, schrieb er, »der die einen zu Freudentränen rührt, ist in den Augen anderer nur ein grünes Ding, das im Weg steht.« Dasselbe gilt, historisch betrachtet, für die Berge. Jahrhundertelang galten sie als nutzlose Hindernisse, als »beträchtliche Auswölbungen«, wie Dr. Johnson sie abwertend bezeichnet hat. Nun werden sie zu den erlesensten Formen der Natur gezählt, und es gibt Leute, die aus Liebe zu ihnen bereit sind zu sterben.
Was wir einen Berg nennen, ist also in Wirklichkeit das Zusammenspiel der physischen Erscheinungsformen der Welt und der menschlichen Vorstellungskraft – ein Berg in unserem Kopf. Und wie sich der Mensch gegenüber den Bergen verhält, hat kaum etwas mit den tatsächlichen Objekten aus Fels und Eis zu tun. Berge sind nur geologische Zufallsprodukte. Sie töten nicht absichtlich und wollen auch nicht gefallen. Alle emotional besetzten Eigenschaften, die sie besitzen, werden ihnen von der menschlichen Fantasie zugeschrieben. Wie Wüsten, die arktische Tundra, tiefe Ozeane, Dschungel und all die anderen wilden Landschaften, die wir uns zu Lebewesen romantisiert haben, sind Berge einfach da. Und sie bleiben da, wenn auch ihre physische Form durch die Kräfte der Geologie und der Witterung nach und nach verändert wird, denn sie bestehen jenseits der Wahrnehmung durch den Menschen weiter. Sie sind jedoch auch das Produkt der menschlichen Wahrnehmung; über Jahrhunderte hinweg hat man sich ein Bild von ihnen gemacht. Dieses Buch versucht aufzuzeichnen, wie sich diese Vorstellungen von den Bergen im Lauf der Zeit verändert haben.
Eine Kluft zwischen Vorstellung und Wirklichkeit zeichnet alles menschliche Tun aus, in Bezug auf die Berge ist diese aber besonders stark ausgeprägt. Stein, Fels und Eis fassen sich wesentlich unangenehmer an, als es das geistige Auge erwartet, und die Berge der Welt stellten sich oft als widerspenstiger, auf verhängnisvolle Art realer heraus als die Berge im Kopf. Wie Herzog an der Annapurna und ich am Lagginhorn begriff, sind die Berge, die man bestaunt, über die man liest, von denen man träumt und die man begehrt, nicht diejenigen, die man besteigt. Letztere bedeuten harter, steiler, scharfkantiger Fels und eisiger Schnee, extreme Kälte und eine intensive Ausgesetztheit, die einem den Magen zusammenkrampfen kann und in den Eingeweiden spürbar wird. Sie bedeuten