Berge im Kopf. Robert Macfarlane

Berge im Kopf - Robert Macfarlane


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      Während seines zehnjährigen Aufenthalts auf dem Kontinent hat Thomas Burnet zusammen mit verschiedenen jungen Zöglingen mehrmals die Alpen und den Apennin überquert. Der mehrmalige Anblick dieser »wilden, großen, unverdauten Haufen aus Steinen und Erde« ließ in Burnet den Wunsch reifen, den Ursprung dieser fremden Landschaft verstehen zu können. Warum sind diese Felsen so weit verstreut? Und warum hatten die Berge so eine starke seelische Wirkung auf ihn? Die Berge beschäftigten Burnets Fantasie und seine Forscherinstinkte so stark, dass er befand, sich nicht mehr wohlfühlen zu können, bevor er nicht eine akzeptable Erklärung dafür gefunden habe, »wie es zu diesem Durcheinander in der Natur gekommen ist«.

      Und so begann Burnet an seinem kunstvollen, apokalyptischen Meisterwerk zu arbeiten, dem ersten Buch, das den Bergen, den zeitlosesten aller Objekte, eine Vergangenheit zuschrieb. Burnet schrieb in einer Zeit, die man in Europa als bedrohlich empfand. In den Jahren 1680 und 1682 wurden ungewöhnlich grelle Kometen am Himmel beobachtet. Edmond Halley hatte bei seinen Himmelsbeobachtungen von der Spitze eines Vulkans seinen eigenen glühenden Boten ausgemacht, ihn nach sich selbst benannt und seine Rückkehr im Jahre 1759 korrekt vorausgesagt. In ganz Europa wurden Tausende von Flugblättern gedruckt, die bevorstehende Katastrophen für die zivilisierten Länder ankündigten: den Tod von Königen, die Ernte zerstörende Stürme, Dürrekatastrophen, Schiffsuntergänge, Pest und Erdbeben. In dieser von Anzeichen und Omen gesättigten Atmosphäre erschien 1681 Thomas Burnets The Sacred Theory of the Earth, das zuerst in Latein in einer bescheidenen Auflage von 25 Exemplaren erschien und eine kleine, kecke Widmung an den König trug, die auf die Dummheit seiner Majestät verwies. Burnets Buch befasste sich nicht mit zukünftigen Katastrophen, sondern mit dem größten Unglück aller Zeiten, der Sintflut. Sein Buch erschütterte den biblisch-orthodoxen Glauben an das seit Urzeiten unveränderte Antlitz der Erde, und es prägte entscheidend die Art und Weise, wie man sich damals die Berge vorstellte und sie wahrnahm. So verdanken wir es zum Teil Burnets jahrzehntelangem Nachdenken über Zerstörung, dass wir uns heute überhaupt vorstellen können, dass Landschaften eine Vergangenheit haben, eine eigene, lange Entwicklungsgeschichte.

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      Vor Burnet fehlte den Vorstellungen von der Erde eine vierte Dimension, die Zeit. Was, so dachte man, könnte denn beständiger sein als die Berge, und was könnte länger existieren als sie? Sie wurden von Gott in ihrer gegenwärtigen Form geschaffen und würden nun für immer und ewig so bleiben. Vor dem 18. Jahrhundert bestimmte die biblische Erzählung der Schöpfungsgeschichte, wie man sich die Vergangenheit der Erde vorzustellen hatte, und laut Bibel war die Erde erst vor relativ kurzer Zeit entstanden. Im 17. Jahrhundert gab es mehrere geniale Versuche, aus den in der Bibel enthaltenen Informationen ein Ursprungsdatum der Erde zu berechnen. Der bekannteste Versuch stammte von James Ussher, dem Erzbischof von Armagh, dessen zweifellos gewissenhafte Berechnung zum Ergebnis hatte, dass die Geburtsstunde der Erde am Montag, den 26. Oktober im Jahre 4004 vor Christus um 9 Uhr morgens war. Usshers Chronologie für die Erschaffung der Erde stammt aus dem Jahre 1650 und wurde als Fußnote noch in den englischen Bibeln des frühen 19. Jahrhunderts abgedruckt.

      Daher war zu Burnets Zeit die orthodoxe christliche Vorstellung fest verankert, dass die Erde keine Geschichte habe. Man glaubte damals, dass sie nicht älter als 6000 Jahre und in dieser Zeit nicht erkennbar gealtert sei. Keine Landschaft besaß eine interessante Vergangenheit, denn die Erdoberfläche hatte immer gleich ausgesehen. Berge waren wie alles auf der Welt in jener ersten Woche der fieberhaften Schöpfung entstanden, die in der Genesis beschrieben wird. Sie wurden am dritten Tag geschaffen, also am selben Tag, an dem die Polarzonen vereist und die Tropen aufgeheizt wurden. Seither hatte sich ihr Erscheinungsbild kaum verändert, abgesehen vom kosmetischen Effekt des Flechtenwuchses und einer leichten Verwitterung. Sogar die Sintflut hatten sie ohne Folgen überstanden.

      Das entsprach der damaligen allgemeinen Sichtweise. Thomas Burnet war jedoch überzeugt davon, dass der Bibeltext über die Schöpfungsgeschichte, so wie er damals verstanden wurde, das Erscheinungsbild der Welt nicht erklären konnte. Vor allem beschäftigte Burnet die Strömungstheorie der Sintflut. Er wollte wissen, wo auf der Erde denn das Wasser zu finden sein sollte für eine Sintflut, die so hoch war, dass sie, wie die Bibel beschrieb, die »höchsten Berggipfel bedecken konnte«.

      Burnet berechnete, dass für eine globale Überschwemmung dieser Tiefe das Wasser »von acht Ozeanen« erforderlich gewesen wäre. Die in der Genesis beschriebenen vierzig Regentage hätten aber höchstens für einen Ozean gereicht. Nicht einmal genügend Flüssigkeit, um auch nur die Füße der meisten Berge zu benetzen. »Wohin sollen wir denn gehen, um mehr als sieben Ozeane mit Wasser zu finden, die wir noch brauchen«, fragte Burnet. Er kam zu dem Schluss, dass es, wenn es nicht genügend Wasser gegeben hatte, weniger Erde gegeben haben musste. So entwickelte er seine Theorie vom »Mundane Egg«, dem Weltenei. Demnach war die Erde sofort nach ihrer Erschaffung ein ovaler Kugelkörper mit gleichmäßigen Formen gewesen, also ein Ei. Es war makellos in seiner Erscheinung und gleichmäßig in seiner Beschaffenheit, ohne Hügel oder Täler, die seine liebliche Form unterbrochen hätten. Unter der porzellanähnlichen Oberfläche verbarg sich jedoch eine komplizierte Innenarchitektur. Das »Eigelb« im Herzen der Erde war mit Feuer gefüllt und umgeben von mehreren Ringen, die in einander steckten wie die verschiedenen Puppen einer russischen Matrjoschka. Und das »Eiweiß,« Burnet war beharrlich in der Anwendung seiner Metaphern – war demnach ein mit Wasser gefüllter Abgrund, auf dem die Erdkruste trieb. So war die Burnetsche Erde beschaffen.

      Burnet führte weiter aus, dass die Oberfläche des jungen Globus bei seiner Geburt zwar makellos gewesen sei, aber nicht unantastbar. Im Laufe der Jahre wurde die Kruste von der Sonneneinstrahlung ausgetrocknet und bekam Risse und Brüche. Von unten begann das Wasser immer stärker gegen die geschwächte Kruste zu drücken, bis es dann, dem Willen des Schöpfers entsprechend, zu »dieser großen, fatalen Überschwemmung« kam, der Sintflut. Die inneren Wassermassen und Feuerschlote brachen schließlich die Erdkruste auf. Einzelne Abschnitte der Kruste fielen in den frisch aufgerissenen Abgrund und die aufbrausenden Fluten überschwemmten die restlichen Landmassen. Sie bildeten einen »großen, ohne Grenzen oder Ufer in der Luft kreisenden Ozean«, wie Burnet auf anschauliche Weise beschrieb. Die physikalischen Bestandteile der Kruste, eine Mischung aus Fels und Erde, wurden weggeschwemmt. Und als sich die Wassermassen wieder zurückzogen, hinterließen sie Chaos. In Burnets Worten: »[E]ine Welt, die in ihrem Schutt lag.«

      Burnets Theorie bedeutete nichts anderes, als dass der Globus, so wie er und seine Zeitgenossen ihn kannten, nichts anderes war als »das Bild oder Abbild eines großen Untergangs« und ein sehr schlechtes Abbild noch dazu. Als Bestrafung für die Gottlosigkeit der menschlichen Rasse hatte Gott mit einem einzigen Schlag »den Rahmen der alten Welt gesprengt und auf deren Ruinen eine neue entstehen lassen, die wir nun bewohnen«. Die Berge, die chaotischsten und charismatischsten aller Landschaftsformen, waren also nicht ursprünglich von Gott erschaffen worden. Sie waren nur die Überbleibsel nach dem Rückzug der Flut, nämlich Fragmente der Erdkruste, die von den kolossalen Kräften der Flut herumgewirbelt und aufeinander getürmt worden waren. Die Berge waren folglich nichts anderes als gigantische Andenken an die menschliche Sündhaftigkeit.

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      Die Illustration zeigt drei aufeinanderfolgende Stadien des Absinkens der Erdkruste in den Abgrund aus Wasser [1]. Das untere und letzte Bild zeigt die Entstehung der Berge [2] und Inseln [3].

      Die englische Übersetzung von Burnets Buch im Jahre 1684 löste eine ganze Reihe hastiger Veröffentlichungen aus. Viele waren irritiert von seiner Annahme, dass die Erde in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht vollkommen sei, und auch davon, dass er die konventionelle Interpretation der Heiligen Schrift infrage stellte. Sie versuchten, seine ehrwürdige Theorie zu widerlegen. Die Kontroverse führte dazu, dass sich Burnets Ideen und die Gegenargumente in intellektuellen Kreisen rasch verbreiteten. Sowohl die Verteidiger als auch die Kritiker sprachen nur noch von der »Theorie«, wenn sie sich auf The Sacred Theory of the Earth bezogen, und bei nicht genauer erläuterten Bezügen zum »Theoretiker« war stets Burnet gemeint. Stephen Jay Gould, der amerikanische Wissenschaftler, Autor und Humanist,


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