Die Zehn Gebote für Neugierige. Fabian Vogt
Gott seinem Volk in diesem Moment anbietet, ihm den Weg durch die Wüste in Gestalt einer Wolkensäule (tagsüber) und einer Feuersäule (nachts) zu zeigen, ist deshalb keineswegs als Einschränkung ihrer Freiheit zu verstehen, sondern eine schlichte Orientierungshilfe – quasi das erste Navigationsgerät der Weltgeschichte. („Halten Sie sich an der Oase rechts!“) Entscheidend dabei ist: Die Israeliten hätten einen anderen Weg wählen können. Sie waren ja jetzt frei. Haben sie aber nicht. Zum Glück.
Wenig später trübt dann noch eine viel schlimmere Entwicklung die Stimmung: Anstatt sich über ihre Freiheit zu freuen (und zu tanzen und zu jubeln), fangen einige der Israeliten nämlich an, pausenlos zu jammern und zu stänkern: „Wann sind wir endlich da? O Mann, in Ägypten waren wir zwar versklavt, aber da gab’s wenigstens regelmäßig was zu essen und zu trinken.“ Wirklich! Die sind richtiggehend empört über die Unübersichtlichkeit der Freiheit. Das ganze Herumgemotze führt am Ende so weit, dass sich die Leute ernsthaft zurück in die Sklaverei wünschen.
Über so ein absurdes Verhalten möchte man am liebsten nur den Kopf schütteln, es ist aber zu fürchten, dass die dahinterstehenden Mechanismen heute noch genauso funktionieren: Menschen setzen nach wie vor aus Angst ihre Freiheit aufs Spiel, verzichten aus Bequemlichkeit oder Trägheit auf das „Land, in dem Milch und Honig fließen“ und bleiben lieber in einengenden Lebensverhältnissen hocken, anstatt aufzubrechen und das Weite zu suchen. Das heißt auch: Sie bleiben unter ihren Möglichkeiten, weil jemand oder sie selbst ihnen eine vermeintliche Sicherheit schmackhaft macht, die in Wirklichkeit versklavt.
In dieser eigenartigen Situation (fehlende Erfahrung mit der Freiheit und Angst vor zu viel Eigenverantwortung) entschließt sich Gott aus verständlichen Gründen, den Menschen erst mal eine kurze „Einführung“ in die Grundlagen eines befreiten Lebens zu geben – und genau daraus entstehen die Zehn Gebote.
Sprich: Drei Wochen nach der gelungenen Flucht verkündet Gott wortgewaltig, er werde demnächst in einer großen Wolke zu Besuch kommen und dem von ihm berufenen Anführer Mose die Grundsätze der neuen Daseinsform in aller Ruhe erläutern. Erst verbal – und dann zur Sicherheit noch mal in schriftlicher Form.
Erfreulicherweise begreifen die Israeliten sofort, dass es jetzt wirklich ans Eingemachte geht, und bereiten sich, wie Gott es wünscht, intensiv auf die verheißene Verheißung vor: Sie waschen sich und ihre Kleider (was in der Wüste gar nicht so leicht ist), sie lassen sich segnen und sie leben bewusst enthaltsam. Und dann, als nach drei Tagen tatsächlich eine riesige Wolke mit Blitz und Donner aufzieht, versammelt sich das gesamte Volk am Fuß des Berges, während Mose hinaufsteigt, um die Zehn Gebote stellvertretend in Empfang zu nehmen und sie anschließend den Wartenden bekannt zu machen. Eine Sternstunde der Menschheit!
Kluge Wissenschaftler haben übrigens darauf hingewiesen, dass die Ausführung der Zehn Gebote nicht nur viele ethische Normen enthält, sondern auch stark an orientalische Vasallenverträge erinnert, in denen ein Herrscher mit einem Volk einen Bündnispakt eingeht. Und tatsächlich haben die Israeliten die Zehn Gebote genauso empfunden: als einen Bund. Sie sprechen dem Gott, der sie soeben aus der Sklaverei in die Freiheit geführt hat, ihr Vertrauen aus.
Im Grunde möchte Gott wissen: „Wollt ihr mein Volk sein und diesen angefangenen Weg in die Freiheit mit mir weitergehen? Glaubt ihr, dass ich weiß, wie man befreit lebt? Und wollt ihr meine Ratschläge befolgen?“ Und die Menschen antworten wörtlich: „Alle Worte, die Gott gesagt hat, wollen wir tun!“ Das heißt: Die Israeliten und Gott einigen sich darauf, dass die neu gewonnene Freiheit geschützt werden muss und dass sich beide Seiten dafür einsetzen wollen. Sie schließen quasi ein Freiheitsabkommen und machen damit zugleich deutlich: Freiheit braucht Bindung. Und zwar eine freiwillige Bindung.
Warum ist das wichtig? Ganz einfach: Manche Freiheitsfanatiker behaupten ja gerne, Freiheit bedeute „von nichts und niemandem abhängig zu sein“. Das stimmt aber nicht. Kein Mensch ist von nichts und niemandem abhängig. Das wäre auch fatal. Wir alle leben in Systemen – und wenn wir uns zum Beispiel für einen Ehepartner oder eine Ehepartnerin entscheiden, dann geben wir nicht unsere Freiheit auf, wir nutzen sie bewusst, um uns an einen Menschen, den wir lieben, zu binden. Weil es ohne Bindung gar keine Liebe gibt.
Und ja, wer Kinder bekommt, der wird vermutlich nicht mehr so frei wie vorher jede Nacht einen draufmachen können – aber wenn er aus Angst, seine individuelle Freiheit zu verlieren, auf Kinder verzichten würde, wäre das eine genauso große Unfreiheit. Wenn nicht sogar eine viel größere. Freiheit bedeutet: Ich kann selbst entscheiden, welche Bindungen ich eingehen möchte. So wie das Volk Israel. Man könnte also auch sagen: Gott macht den Menschen an diesem Tag ein Angebot, und die Menschen sagen: „Ja, das wollen wir! Wir wollen uns an diesen Gott halten, der uns Freiheit geschenkt hat.“
Genau deshalb beginnen (wie wir später noch genauer betrachten werden) die Zehn Gebote eben auch mit einer Erinnerung an den Auszug aus Ägypten. Damit keiner vergisst, worum es bei diesem ungewöhnlichen Bund eigentlich geht – auch die nachfolgenden Generationen nicht, die den eigentlichen Exodus ja nicht am eigenen Leib miterlebt haben und immer wieder neu vor Augen geführt bekommen müssen, wie kostbar die Freiheit ist und dass es sich lohnt, um sie zu ringen.
Bevor wir uns gleich in Ruhe den einzelnen Geboten widmen und nach ihrer Aktualität fragen, noch ein paar kurze Vorbemerkungen, die uns helfen, den Charakter der Zehn Gebote insgesamt besser zu verstehen.
1. Die Zehn Gebote sind keine Gebote, sondern Maximen
Lustigerweise kommt das Wort „Gebot“ im Text der Zehn Gebote überhaupt nicht vor. Weil sie eben keine Gebote im klassischen Sinne darstellen. Später werden sie (wie oben schon erwähnt) meist „Die zehn Worte“ (Dekalog) genannt – und sie sind auch ganz anders formuliert als die üblichen Gesetzestexte des Alten Testaments, die eine erkennbar andere Anmutung haben: In der Regel sind biblischen Gesetze nämlich nach dem „Wenn-Dann-Muster“ aufgebaut. Etwa: „Wenn du dies oder jenes machst, dann sollst du so und so bestraft werden.“ Zum Beispiel heißt es in Exodus 21: „Wer einen Mann erschlägt, der soll getötet werden.“ Das ist ein Gesetz!
Im Dekalog dagegen heißt es: „Du sollst nicht töten!“ Das ist kein Gesetz, das ist eine Lebensmaxime, ein ethischer Grundsatz. Deshalb wird hier auch nicht erklärt, was denn passiert, wenn jemand trotzdem einen Mord begeht. Konkret heißt das: Mit den Zehn Geboten könnte man als Richter kein Recht sprechen. Da verwundert es nicht, dass schon die Israeliten und später unzählige Rechtssysteme dieser Welt versucht haben, die Zehn Gebote mit Hilfe von Paragraphen zu operationalisieren – womit sie diesen großartigen Schatz an Lebensweisheit (gegen seine Intention) in eine Rechtsordnung verwandeln wollten.
Die Zehn Gebote nutzen aber ganz bewusst keine Sprache der Justiz, sondern eine Sprache der Liebe. Das fängt schon damit an, dass sie den Menschen persönlich ansprechen: „Du sollst nicht stehlen!“ Ja, es geht um dich! Nicht um das Volk als Ganzes, nicht um die Sippe, den Stamm oder die Gemeinschaft, sondern um die und den Einzelnen. Jede und jeder wird von Gott eingeladen, nach den Grundbedingungen der Freiheit zu fragen. Deshalb drehen sich die Zehn Gebote auch alle um das Verhältnis von Gott und Mensch, beziehungsweise von Mensch und Mensch. Der Staat als solcher kommt darin gar nicht vor.
Die Zehn Gebote sind also so etwas wie eine Zusammenstellung ethischer Maßstäbe, die dem Individuum helfen, sich nicht wieder von irgendetwas versklaven zu lassen. Dahinter steckt der Gedanke der Prävention und die wegweisende Einladung: „Frage dich, mit welcher Lebenseinstellung du am besten durchs Leben kommst.“
2. Die Zehn Gebote sind keine Verbote, sondern Konsequenzen
Wer die deutsche Übersetzung „Du sollst …“ oder „Du sollst nicht …“ hört, bekommt schnell den Eindruck, hier würden klare Vorschriften gemacht. Die Sprachwissenschaftler sind da vorsichtiger. Sie weisen gerne darauf hin, dass im Urtext eine grammatikalische Form benutzt wird, die nicht einfach „Los, mach mal“ bedeutet. Die hier benutzte Verneinung mit der hebräischen Silbe „Lo“ steht eher für einen Ausdruck