Glauben ohne Dogma. Dieter Rammler
sich in ihm neben der Vernunft noch eine andere „Stimme“ zu Wort meldet und Menschen als Vision und Poesie, in der Musik und bildenden Kunst, als energetische Erfahrung oder Segen berührt, das unterscheidet den Glauben von rationalen Systemen. Zu glauben ist ein Wagnis und ein Schritt ins Offene, nicht abgehoben und weltfremd, sondern geerdet und lebensnah.
Zu einem aufgeklärten Verständnis von Religion gehört das Wissen um ihre Geschichtlichkeit. Religionen beginnen nie bei null, sondern sie fußen auf überlieferten Vorstellungen und Lebensweisen, die sie zugleich weiterentwickeln und umformen. Sie verändern sich mit der zivilisatorischen Entwicklung und bestimmen diese mit. Sie reagieren auf neue Welterkenntnisse und Entdeckungen und legen veraltete ab. So ist im Laufe der Religionsgeschichte eine ungeheure Fülle symbolischer Deutungen entstanden. Dieser Prozess ist bis heute nicht beendet, auch wenn man zurzeit den Eindruck gewinnen kann, dass sich der christliche Glaube gegenüber den Naturwissenschaften in der Defensive befindet und sich gewissermaßen in einer Nische zu behaupten versucht. Das wäre gewiss der falsche Weg. Man rettet seinen Glauben nicht dadurch, dass man sich gegenüber dem Bewusstseinswandel und den Erkenntnissen der Geschichtlichkeit von Religion verschließt und in Dogmen verharrt. Für mich gehört es zur intellektuellen Redlichkeit, das heutige historische Wissen in das Nachdenken über den eigenen Glauben einzubeziehen und die Dogmen als menschliche Vorstellungen zu relativieren. Es sind Denkformen auf Zeit, nicht mehr und nicht weniger.
Die Bibel
Das Buch, das ich neben den Märchen der Gebrüder Grimm aus meiner Kindheit aufbewahrt habe, ist eine schwarze Lutherbibel. Wenn ich es recht erinnere, bekam ich sie von meiner Großmutter zur Einschulung. Zu Beginn des Studiums kaufte ich mir eine Zürcher Bibel. Ihre Sprache war mir zunächst nicht vertraut. Ich habe sie durch alle Semester hindurch zu den verschiedenen Themen bearbeitet. Zur Ordination schenkte mir meine Mutter die 1983 erschienene revidierte Lutherausgabe, in weißes Leder gebunden, mit Goldschnitt. Sie begleitete mich durch meine Zeit als Gemeindepastor. Heute erinnern mich diese Ausgaben der Heiligen Schrift an berufliche und persönliche Stationen.
So geht es vielen Menschen. Sie haben eine Bibel zu Hause, in der oft ihre Konfirmations- und Trausprüche notiert sind, manchmal auch Taufen und Abschiede. Vielleicht nehmen sie sie hin und wieder aus dem Schrank und halten ein Stück ihrer Glaubens- und Lebensgeschichte in der Hand. Dennoch bleibt die Bibel für viele Gläubige ein Buch mit sieben Siegeln. Sie finden zwar Zugang zu den bekannten Überlieferungen, die auch im Kirchenjahr als Lesungen und Predigttexte vorkommen. Wer es sich aber darüber hinaus einmal vorgenommen hat, die Bibel wie ein Buch in größeren Zusammenhängen oder gar ganz zu lesen, der verliert leicht den Überblick. Vor allem stößt er auf verstörende Texte voller Gewalt, überholter Weltbilder und zum Teil heute nicht mehr akzeptabler religiöser Gebote und Riten. Verträgt sich das mit der Auffassung der Bibel als heiliger Schrift? Der Eindruck, dass es sich um eine komplexe Sammlung von Schriften aus unterschiedlichen Zeiten handelt, erklärt manches. Aber wie verhält sich dazu die Behauptung, die Bibel bezeuge die Geschichte Gottes mit den Menschen? Kann man das heute noch so sagen? Und falls nicht, welchen anderen Zugang finde ich zu diesem historischen Dokument, auf das sich, wenn auch unterschiedlich, gleich zwei Schriftreligionen, das Judentum und das Christentum, berufen, und eine dritte, nämlich der Islam, im Koran ebenfalls zentrale Überlieferungen des Alten und Neuen Testaments kennt?
Zweifelsohne ist die Bibel für einen großen Teil der Menschheit das bedeutendste Dokument religiöser Weltdeutung. Sie ist Weltliteratur, eine wohl 3000 Jahre alte Bibliothek des Glaubens. Bis heute wurde sie in etwa fünf Milliarden Exemplaren gedruckt, der Großteil in den letzten 100 Jahren. Als Vollbibel mit Altem und Neuem Testament wurde sie in 674 Sprachen übersetzt, das Neue Testament allein in weitere 1515 Sprachen. Mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung haben potenziell Zugang zur Bibel in ihrer Muttersprache.
Neben der Bibel gibt es die Heilige Schrift der Juden. Sie ist entgegen landläufiger Ansicht nicht das „Alte Testament“, obwohl sich der weitaus größte Teil, wenn auch in anderer Reihenfolge, mit dem ersten Teil der christlichen Bibel deckt, sondern der Tanach. Er besteht aus den drei Haupteilen Tora (fünf Bücher Mose), Nebiim (Propheten) und Ketubim (Schriften, zum Beispiel die Psalmen), deren Anfangsbuchstaben im Hebräischen das Wort „Tanach“ bilden.
Ziemlich einhellig wird in der Bibelwissenschaft heute die Auffassung vertreten, dass am Anfang der Literaturwerdung des Tanach und damit auch der Bibel die fünf Bücher Mose (Tora) standen. Moses hatte, so die Erzählung, das Volk Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft geführt. Auf der 40-jährigen Wanderung durch die Wüste Sinai offenbart sich Gott am Berg Horeb und lässt seinem Volk durch Moses die Gebote übermitteln. Damit ist der Bund Gottes mit Israel konstituiert. Kurz bevor sie in das gelobte Land einziehen, legt Moses die Führung aus den Händen und übergibt sie Josua, nicht ohne in einer letzten, großen Rede das Volk an die Tora (Weisung) Gottes zu erinnern und ein zweites Mal darauf zu verpflichten. Damit endet das fünfte Buch Mose, das im Großen und Ganzen eine Wiederholung und Einschärfung der Gebote vom Sinai darstellt und daher als Deuteronomium (zweites Gesetz) bezeichnet wurde.
Die Geschichte geht dann in der bekannten Weise weiter: Unter Josua erfolgt die Landnahme, unter den „Richtern“ bildet sich der Bund der zwölf Stämme, der vom Königtum unter David und Salomo abgelöst wird, der Glanzzeit des vereinten Israel, mit Jerusalem und dem von Salomo erbauten Tempel als Zentrum, was freilich eine spätere Idealisierung darstellt. Dann zerbricht die Einheit und es bilden sich das Nordreich Israel und das Südreich Juda. Als die Assyrer das Nordreich Israel erobern und die Oberschicht zum ersten Mal ins Exil führen, bleibt Juda übrig, der Rest, von dem man sich eine neue Blüte und Rückkehr zum Königtum Davids erhofft.
So lautet der Kern der Meistererzählung der antiken Autoren. Heute weiß man relativ genau, dass den Anstoß dazu Josia gab, als er im Zuge einer Restauration seines Königtums Juda auch eine Reform des Jerusalemer Tempelkults verfügte. Er knüpfte dafür an die literarische Figur von Moses großer Rede kurz vor der Landnahme an. Sein Motiv war klar: Juda als der „heilige Rest“ Israels soll sich auf seine Anfänge besinnen, den Gottesbund erneuern und im Tempel von Jerusalem seine religiöse Mitte finden. Das war literarisch die Geburtsstunde der Tora als einer Sammlung von Schriften, in denen die Geschichte vom Bund Gottes mit Israel bewahrt wird. Sie wurde aufgeschrieben, um die religiöse Einheit Israels zu begründen.
Meistens waren es Umbruchzeiten, in denen das schöpferische Potenzial religiöser Geschichtsdeutung zum Zuge kam, weil der Bedarf an Krisenbewältigung wuchs. So auch in der nächsten großen Krise Israels, genau genommen des Restes, der davon in Juda noch vorhanden war. Diesmal waren es die Babylonier, die das assyrische Großreich abgelöst hatten und aus ihrem Kerngebiet zwischen Euphrat und Tigris ebenfalls in die strategisch wichtige Landbrücke der Levante und Palästinas vorstießen. Jerusalem wurde erobert, der Tempel Salomos zerstört, die politische und religiöse Führungsschicht ins „babylonische Exil“ deportiert.
Im Exil bahnte sich ein Perspektivwechsel an. Denn aus Sicht dieser Exulanten an den „Wassern Babylons“ befand sich Israel nun wieder dort, wo einst der Sage nach Abraham, der Stammvater Israels, aufgebrochen war. Abraham hatte geträumt, dass die Stimme Gottes ihn zum Aufbruch in ein unbekanntes Land aufforderte und große Nachkommenschaft versprach. Er ließ seine Heimat zurück, um mit seiner Sippe von Ur zunächst nach Haran in Syrien und anschließend nach Israel zu ziehen. Dort angekommen, gab er sein Nomadenleben auf und wurde sesshaft. Es ist gewissermaßen eine der Gründungssagen des Volkes Israel. An sie erinnerten die priesterlichen Autoren, als sie in der Verbannung den Verlust ihrer Identität befürchten mussten. Sie folgerten aus der Sage, dass der im Traum erschienene Gott Abrahams sein Volk ja auch in der Fremde aufgesucht hatte und dass es infolgedessen von alters her keine gottlose und heillose Zeit gibt, selbst im Exil nicht. Israel darf sich also auch in der Diaspora unter den Völkern gesegnet und als Gottes Volk bewahrt wissen. Man kann an diesem Beispiel gut ablesen, dass für die biblischen Überlieferungen nicht die Historizität an sich im Vordergrund steht, sondern eine bestimmte Lesart der Geschichte, die für die eigene Gegenwart von Bedeutung ist. Man erinnert sich an die alten Erzählungen, um sich in der Gegenwart für die Zukunft zu vergewissern und Zuversicht oder Hoffnung zu schöpfen.