Glauben ohne Dogma. Dieter Rammler
Emmaus, einem kleinen Ort in der Nähe Jerusalems, begegnete und ihnen erst abends beim Brotbrechen aufging, wen sie vor sich hatten. Das alles sind Glaubenserzählungen und keine Tatsachenberichte. Sie wollen die Lebendigkeit Jesu vermitteln und bezeugen, dass Jesus weiter unter ihnen ist. Hunderte waren es, die in unmittelbarer Nähe zu den Ereignissen am Passahfest und auch später noch auf dem Weg des einstigen Christenverfolgers Paulus nach Damaskus seine Kraft zu spüren glaubten, sich von der Botschaft des Sieges über den Tod mitreißen ließen, diese Hoffnung mit allem verknüpften, was sie über ihn gehört hatten, anfingen, nachzuerzählen und zu sammeln, aufzuschreiben und in ihren Versammlungen vorzulesen, was sie über ihn in Erfahrung bringen konnten. Für sie deutete im Rückblick auf sein Leben alles darauf hin, dass er der leidende Gottesknecht war, den der Prophet Jesaja angekündigt hatte, der, unerkannt und von der Welt verworfen, die Schuld seines Volkes trägt und mit Gott versöhnt. Oder dass er, der so stark an die Gottesnähe glaubte und zu ihm als Vater betete, selbst der Sohn eben dieses Vaters im Himmel wäre, mit dem er nun bis ans Ende der Zeit über seine Nachfolger wachen und dereinst über ihre Treue richten würde – eine Vorstellung, die wir aus den König-Jahwe-Psalmen kennen. Wie anders sollten sie es auch ausdrücken als mit den Sprachbildern ihrer Tradition?
Dabei vollzog sich ein Fokuswechsel. Je mehr sich der Glaube, den Jesus zu Lebzeiten selbst vertreten und verkündet hatte, nach seinem Tod in den Glauben an ihn als Sohn Gottes und Messias verwandelte, desto überzeugter war die junge Jesusbewegung, dass sich die alten Verheißungen Israels nun für alle Menschen erfüllten. Sie knüpften damit an die großen Erzählungen des Tanach an, sahen in Jesus Christus den zweiten Moses, der sein Volk aufs Neue aus der Gefangenschaft ins gelobte Land führt und als Messias und Friedefürst die alte Wurzel Jesse zum Leben erweckt – aber diesmal in einem neuen Bund mit allen Menschen. Jesus hat das Reich Gottes verkündigt, was kam, war die Kirche, heißt es spöttisch bei einem Kritiker aus dem 19. Jahrhundert – eine Kirche, die sich selbst als das neue Volk Gottes dazu berufen fühlte, die ganze Welt in Jesu Auftrag und Namen zu missionieren und zu taufen. Sicher war das eine bemerkenswerte Umdeutung: Jesus, der zwar getauft war, aber selbst nicht taufte, gibt vor seiner Himmelfahrt die Losung aus: Gehet hin in alle Welt, machet zu Jüngern alle Völker, taufet sie auf den Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe (Matthäus). Ein Text, der in dieser Weise erst entstanden ist, als sich die christliche Gemeinde schon auszubreiten begann und mit dem sie ihre Mission begründete.
Als sich der Jesusbewegung Leute anschlossen, die keine Juden waren, aber mit dem jüdischen Glauben sympathisierten, und Juden aus der Diaspora, die hellenistisch geprägt waren, entstand das Bedürfnis, die Geschichte von Jesus Christus auch in deren Vorstellungswelt zu übertragen und Bilder und Symbole zu verwenden, die ihrem religiösen Weltbild und ihrer Kultur entsprachen. Fast hätte es der jüdischen Herkunft und der alten Geschichte Gottes mit seinem Volk nicht mehr bedurft, so unabhängig und universal wurde Jesus Christus im Johannesevangelium gedeutet: Im Anfang war das Wort (Logos), und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit (Prolog). Später fanden weitere Metamorphosen statt, die aus der Jesuserinnerung ein mystisches Drama, einen Kampf zwischen Licht und Dunkelheit, Gut und Böse machten (Gnosis). Daraus entwickelten sich heftige Richtungsstreitigkeiten innerhalb der alten Kirche, bis das apostolische Glaubensbekenntnis in den ökumenischen Konzilien des vierten und fünften Jahrhunderts verbindlich wurde. Bis dahin wurden, in der Sorge, das Christusbekenntnis könnte verfälscht werden, (apokryphe) Evangelien verworfen, der biblische Kanon abgegrenzt, Glaubensregeln aufgestellt und Bischöfe (Aufseher) eingesetzt. Der christliche Festkreis von Ostern und Pfingsten wurde um Weihnachten erweitert. Und die Kalender folgten allmählich einer neuen Zeitrechnung: post Christum natum – nach Christi Geburt.
Diese Transformationen einer ursprünglich jüdischen Bewegung in eine neue Weltreligion liegen wie Schichten auf den im Neuen Testament bezeugten Ereignissen und sind als Interpretamente wirksam. Und sie prägten sich umso mehr ein, als man die Schriften des Neuen Testaments fortan als historische Tatsachenberichte las. Für mich ist es spannend, dass man diesen Transformationsprozess, wenn auch nur in Ansätzen, rekonstruieren kann, weil sich damit einerseits das Prozesshafte des Glaubens darstellen und andererseits bestimmte dogmatische Geltungsansprüche relativieren lassen. Man hat diesen Ansatz beim historischen Jesus bereits in der neutestamentlichen Leben-Jesu-Forschung im 19. Jahrhundert verfolgt, aber auch bald wieder verworfen, weil man meinte, man könne keine Grundierung hinter all den Übermalungen ausfindig machen. Entweder das Bild, wie es ist, oder kein Bild. Das sehe ich anders. Ich finde, dass das Abheben der eindeutigen Schichten christlicher Bekenntnisbildung zu einem jüdischen Menschen führt, der mit seinem Glauben, seinem Wirken und seinem Sterben eine Bewegung ausgelöst hat, die bis heute Zulauf findet. Man kann sich an den Rabbi aus Nazareth erinnern, wie er in seinen Gleichnissen, Seligpreisungen, seinem Gebet, in der Tischgemeinschaft mit „Sündern und Zöllnern“ und durch seine heilende Zuwendung zu Kranken und Armen seinen Glauben lebt und verkündigt – einen Glauben, der durch die Erinnerungsgeschichte des Christentums hindurch bis heute für viele Menschen ein Schlüssel zur Sinngebung im eigenen Leben geworden ist.
Inzwischen hat sich die neutestamentliche Forschung zum dritten Mal der Frage nach dem historischen Jesus (Third Quest) gestellt. Ein wesentlicher Ertrag ist diesmal die Erkenntnis des jüdischen Kontextes, in dem Jesus und die frühe Nachfolgegemeinschaft sich bewegen. Ein zweites Ergebnis besteht darin, dass jede Form der Erinnerung, auch die an den historischen Jesus, von den Vorstellungen und Interessen dessen geleitet wird, der sich erinnern will. Auch der geschichtliche Jesus bleibt dem hermeneutischen Zirkel der Interpretation verhaftet. Liegt in dieser Einsicht nicht auch ein gutes Stück Freiheit beschlossen, den eigenen Formen des Erinnerns zu vertrauen? Wer ist Jesus Christus für uns heute? Mit dieser Frage begann Dietrich Bonhoeffer 1933 in Berlin seine Vorlesung über Christologie, der Lehre von Christus. Wir können dabei auf das Erinnerungsgeflecht der ersten Christen nicht verzichten und quasi einen Standpunkt außerhalb einnehmen. Aber man hat den Glauben auch nicht vorliegen wie einen Keks in der Schachtel. Vielmehr lässt sich die Erinnerung nur zusammen mit ihren Ausdrucksund Überlieferungsformen öffnen, indem wir diese geschichtlich ergründen, sie übersetzen und interpretieren – und damit allererst verstehen und so für uns entscheiden, welcher der Spuren wir folgen, die der Mann aus Nazareth in den biblischen Zeugnissen hinterlassen hat. So ist christliche Existenz im besten Sinne eine Spurensuche. Das ist für mich aufgeklärter Glaube, ob man dabei die Botschaft des Rabbis aus Nazareth oder das Bekenntnis zu Jesus Christus in den Mittelpunkt stellt, oder beides zusammen. Die erinnerte Geschichte ist nicht die quasi objektive Voraussetzung für den Glauben, so als müsste man nur noch Ja und Amen sagen, sondern der Glaube tritt aktiv in die Geschichte der Erinnerung ein. Das wiederum kann Menschen helfen, die im Glauben auf der Suche sind. Denn die Offenheit befreit vom Druck der Vollständigkeit. Dogmen sind hermetisch, Glauben nicht. Man muss nicht alles glauben, um ein gläubiger Mensch zu sein. Die Evangelien selbst erzählen, wie die Menschen, die mit Jesus auf dem Weg sind, zwischen Gewissheit und Zweifel schwanken. Das gehört zum Glauben.
Es wird immer wieder gefragt, worin der christliche Glaube bestehe, wenn man Jesus so entschieden in die Kontinuität der Hoffnungen Israels stellt. Die Gegenfrage lautet: Geht es um das Christentum, oder nicht doch eher darum, mit dem Judentum und dem Juden Jesus an Gott zu glauben? Es wird auch gefragt, ob das Christentum nicht mehr sei als Humanismus. Die Gegenfrage: Was wäre falsch daran, wenn ein Mensch durch seinen Glauben zu einem humanen Leben fände? Schließlich wird moniert, dass man dafür kein Christ zu sein bräuchte. Dem ist nichts entgegenzusetzen. Jesus Christus war auch kein Christ, sondern ein gläubiger Mensch, dem es mit allen Fasern seines Lebens darum ging, Gott als liebendem Grund zu vertrauen und seinem Nächsten beizustehen. Das kann man als Jude, Muslim, Buddhist, Humanist oder Christ. Wer sich in der Weltgeschichte umsieht, entdeckt, dass es leuchtende Vorbilder des Glaubens überall auf der Welt und auch in anderen Religionen gab und gibt. Gott sei Dank auch im Christentum. Als Christen glauben wir in der Erinnerung und Nachfolge Jesu an Gott als den Daseinsgrund der Liebe und an seine Barmherzigkeit. Die Trennlinie verläuft also nicht zwischen Christentum und anderen Religionen, sondern quer durch alle Religionen und Kulturen hindurch. Wo Macht und Geld vergöttert werden und Menschen sich über andere erheben einerseits, und wo sie ihrer Bestimmung folgen, in Ehrfurcht vor dem Leben, das Gott geschaffen hat, andererseits.