Extra Krimi Paket Sommer 2021. A. F. Morland

Extra Krimi Paket Sommer 2021 - A. F. Morland


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die Linie 44 ein. Der Bus wurde voll, beide Frauen hatten noch einen Sitzplatz ergattert, Gellmann blieb gegenüber der Mitteltür stehen und schaute wie geistesabwesend die Passagiere an, seine Blaue und die Gelbe. Nach vier Stationen konnte er sich setzen und in der Wilhelmstraße verließen die Blaue und er den Bus. Wenn sie jetzt ... Richtig, sie hielt sich rechts und ging schnell auf ein Hochhaus zu, Nummer 37, dort wohnte sie, Gellmann überquerte langsam die Straße und bummelte nach links, drehte sich vorsichtig nach ihr um.

      Direkt ins Haus, damit war sein Auftrag erfüllt. Fünf Minuten gab er sich noch, sie erschien nicht wieder, alles in Ordnung, deshalb schlenderte er zur Bushaltestelle zurück. Fünfzehn Minuten musste er warten, er rauchte ungeduldig, bis der Bus endlich kam.

      Als Gellmann einstieg, hätte er sich fast verraten: Auf ihrem alten Platz saß die Gelbe und warf ihm einen gleichgültigen Blick zu. Das gab’s doch nicht! Wer kutschierte denn spätabends zum Vergnügen mit einem Bus bis zur Endhaltestelle und wieder zurück?

      Bis zum Lannerplatz grübelte er über ihr seltsames Verhalten nach. Ihre Beschreibung hatte er längst in seinem Kopf gespeichert und normalerweise würde er sie jetzt laufen lassen oder an der nächsten Telefonzelle oder - wenn es nicht auffiel - per Handy Hilfe holen. Aber heute war kein normaler Abend, die Krawatte drückte und würgte, in den ungewohnten Schuhen wuchsen Hühneraugen, Haydn und Mozart plus Brahms hatten ihn auf neunundneunzig getrieben.

      Auf dem Lannerplatz ließ Gellmann ihr einen gehörigen Vorsprung. Die Gelbe marschierte zielstrebig auf eine Bar zu, der Namenszug Zur lustigen Witwe blinkte in diskretem Grün und Gellmann sinnierte einen Moment, wo er diesen Begriff schon einmal gehört hatte. Nein, sie wollte doch nicht in die Bar, im letzten Moment bog sie ab und tauchte in der dunklen Meitzergasse unter. Jetzt beschleunigte er, war aber vorsichtig genug, nicht direkt in den schwarzen Gang zu stürmen, sondern erst einmal den Kopf um die Ecke zu stecken. Ja, da lief sie, hatte fast das Ende erreicht, vor dem Licht vom Neumarkt gut zu erkennen.

      Angst schien sie nicht zu haben, dachte Gellmann anerkennend, dieser finstere Schlauch zwischen den hohen Häusern konnte das Fürchten lehren ...

      Für den Bruchteil einer Sekunde ahnte er noch die Gestalt, die auf ihn zuschnellte, dann explodierte sein Kopf.

      Unter Gellmanns Schädeldach dröhnten schwere Schmiedehämmer, vor seiner Nasenspitze flirrten Sterne und er krümmte sich, um der Übelkeit zu entgehen. Als er mit einer Hand umhertastete, fühlte er raue, bucklige Steine - er lag auf dem Boden. In einer Einfahrt. Zwischen zwei fensterlosen Mauern. Jemand hatte ihn niedergeschlagen - die Gelbe, er war ihr in eine dunkle Gasse gefolgt ... Über Gellmanns linkem Ohr brannte es wie Feuer, mit den Fingerspitzen berührte er die Schwellung und jaulte vor Schmerzen auf.

      Zwei Minuten später schaffte er es, aufzustehen und einen Fuß vor den anderen zu setzen, taumelnd wie ein Betrunkener. Nach Atem ringend lehnte Gellmann sich an eine Wand und verschnaufte, bis diese üble Schaukelbewegung aufgehört hatte. Erst danach kam er auf die Idee, in seinen Taschen nachzusehen. Es fehlte nichts, soweit er feststellen konnte. Als er sich umzog, hatte er Ausweise und Papiere in seinem Anorak zurückgelassen.

      Gellmann war kein Held und auch kein Dummkopf. Während er Richtung Pension schlich, ordnete er seine wirren Gedanken zu einer unerfreulichen Alternative. Entweder war er in eine Falle gelaufen, die Gelbe hatte ihn erkannt und in die Gasse gelockt, wo ein Komplize ihn abfing. Wenn er das dem Chef beichtete, riskierte er einen wüsten Rüffel wegen seiner Unvorsichtigkeit und Eigenmächtigkeit. Falls der Überfall nichts mit der Gelben zu tun hatte, musste er Weinert erklären, was ihn um diese Zeit in die Meitzergasse geführt hatte.

      In beiden Fällen bekam er Ärger und deshalb beschloss Gellmann, überhaupt nichts zu melden.

      Die Frau in Gelb hatte sich schon ausgezogen, als der elegant gekleidete Mann die Zimmertür aufschloss. Sein Blick war wie immer starr, als besäße er Glasaugen, und wenn sie ehrlich war - sie fürchtete sich vor ihm, obwohl sie mit ihm schlief.

      »Nichts«, sagte der Mann und warf seine Jacke auf den Boden.

      »Keine Papiere? Ausweise?«

      Unter seinem Blick überlief sie eine Gänsehaut.

      War die dumme Kuh taub? Er hatte doch gesagt: Nichts. Und nichts war nichts. Seine Hose glitt zu Boden und sie sah, dass er wie jeden Abend eine gewaltige Erektion hatte.

      Als sie in der Nacht aufwachte, wagte sie nicht, sich zu rühren. Neben ihr atmete er ganz flach, als lauerte er im Halbschlaf auf das geringste Geräusch, um sofort wie eine ausgehungerte Schlange zuzustoßen. Keine Papiere, aber sie zweifelte schon lange nicht mehr, dass die anderen sie entdeckt hatten. Warum griffen sie nicht zu? Was planten sie? Auf was hatte sie sich da eingelassen? Wenn es dunkel, kalt und still wurde, fraß die Angst sie von innen auf. Sie hatte mehr als einmal andere Opfer gejagt, aber war noch nie gejagt worden. Nun erst begriff sie, was Angst im Nacken bedeutete.

      Donnerstag, 14. September

      Trotz der zehn Stunden Schlaf zwickten die Waden und die steifen Gelenke knackten. Nach dem Frühstück spazierte Rogge deshalb gen Osten, bog in die Brückenstraße ab und stieß auf den Weg, der am Stockbach entlangführte. Die Wanderwege waren gut markiert, ein rühriger Fremdenverkehrsverein hatte für Bänke und Hinweistafeln gesorgt und der ursprünglich vollständig eingefasste, kanalisierte Bach war an vielen Stellen schon wieder von seinem Betonkorsett befreit, bildete Kurven und kleine Seitenarme, an denen Weiden wuchsen.

      Bis Herlingen brauchte der Hauptkommissar zwei Stunden, die Steifheit war gewichen, dafür spannte seine Gesichtshaut. Urlaub hatte er in diesem Jahr noch nicht gehabt, das Reha-Sanatorium zählte nicht, etwas Sonne schadete nicht. In Herlingen war heute kein Markt, Rogge schlenderte über den leeren Platz, der an zwei Seiten mit Arkaden umgeben war, bewunderte Fassaden, studierte Schaufenster und prallte mit einer jungen Frau zusammen, die aus einem Geschäft raste.

      »Entschuldigung ...« - »Keine Ursache.« - »Herr Rogge!« Gertruds Miene wechselte von Zerknirschung zu echter Freude. »Wie geht es Ihnen?«

      »Danke, gut, Frau ...?«

      »Leiwen. Aber sagen Sie ruhig Gertrud, das tun alle.«

      »Wenn Sie erlauben ...«

      »Tue ich!« Sie schien sich ehrlich über das Treffen zu freuen. »Wollen Sie einkaufen?«

      »Brauchen tu ich nichts«, erwiderte er seufzend.

      »Kenn ich, auf dem Rückflug platzt der Koffer und zu Hause schmeiße ich die Hälfte der teuren Souvenirs weg.«

      »Aber wann komme ich schon mal dazu, einen Ladenbummel zu machen.«

      »Was machen Sie denn, beruflich, meine ich?«

      »Ich bin Kriminalbeamter«, antwortete er sehr beiläufig, gespannt, wie sie reagieren würde.

      Der Schuss traf ins Schwarze: »Waaas?«, staunte sie. »So wie im Fernsehen?«

      »Wir müssen mehr am Schreibtisch arbeiten«, wehrte er ab.

      »Das ist ja 'nen Ding!« Sie hatte sich noch nicht erholt. »Die Männer hier aus dem Revier kenn ich ja, aber mit einem richtigen Kriminaler hab ich noch nie gesprochen.«

      »Normalerweise beißen wir nicht.«

      »So sehen Sie auch gar nicht aus«, lachte sie aus vollem Hals.

      Nein, Gertrud war weder beunruhigt noch hatte sie Angst, und wie er sie einschätzte, würde sie die Neuigkeit sofort verbreiten. Deshalb riskierte er es: »Aber Sie können einem neugierigen Bullen eine Frage beantworten.«

      »Wenn ich kann ...«

      »Diese dunkelhaarige Schönheit mit den schwarzen Augen, die morgens bedient ...«

      »Das ist die Chefin.« Unwillkürlich hatte Gertrud die Stimme gesenkt, und weil er ungläubig die Stirn runzelte, rückte sie ein Stück näher und flüsterte: »Man soll’s gar nicht glauben, dass die den Olli geheiratet hat.«

      »Olli ist


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