Die Überlebenden von Atlantis. Frank Joseph
drei Richtungen – aus dem Norden, Westen und Osten. Als die Morgendämmerung über dem Meer anbrach, erblickten ägyptische Wachtposten, die vor dem Delta postiert waren, ein furchteinflößendes Spektakel: Der nördliche Horizont wurde von einer Armada mit geblähten Segeln verdunkelt. Zu dem angsteinflößenden Anblick trugen auch die Schnitzereien monströser Vogelköpfe und anderer grotesker Tierfiguren an den Vordersteven der großen Schlachtschiffe bei. Die zahlenmäßig unterlegenen ägyptischen Schiffe versuchten in verzweifeltem Abwehrkampf gegen sie zu manövrieren. Ihre Verluste waren enorm, und das »Große Grün«, ihr Name für das Mittelmeer, mischte sich mit dem Blut der Verteidiger. Rücksichtslos durch die treibenden Trümmer zerbrochener Schiffe krachend, setzte die mächtige atlantische Flotte den Bug ihrer siegreichen Schiffe auf die heiligen Küsten Ägyptens, um Zehntausende von Seekriegern auszuspucken.
Zur selben Zeit stürmten libysche Truppen mit dreißigtausend Mann gegen Ägyptens Westgrenze und drängten die Verteidiger hinter die Grenzlinie zurück. König Meryey hatte Mitglieder der königlichen Familie und sogar allerlei persönlichen Luxus mitgebracht, voller Zuversicht, dass er bald seinen Thronsitz in Memphis errichten würde. Die gleichzeitige Landung der Atlanter im Osten verlief ungehindert und erlaubte den verbündeten Philistern eine erfolgreiche Besetzung Syriens. Sie brachten die ägyptischen Garnisonen auf, während die Hethiter, wie erwartet, nervös, aber unbeteiligt zuschauten. Vom schnellen, leichten Sieg begeistert, marschierten die Philister mit höchster Geschwindigkeit in Richtung Nildelta. Zusätzliche Hilfe kam aus dem Süden, wo die Nubier die Ereignisse am unteren Nil ausnutzten und unerwartet einen Aufstand gegen die ägyptischen Statthalter begannen. Pharao Merenptah wurde nun von allen vier Seiten aus angegriffen.
Die Selbstaufopferung seiner Marine war jedoch nicht umsonst gewesen. Ihr selbstmörderischer Widerstand hielt die Invasion gerade so lange auf, dass Merenptahs Streitkräfte die Hafenstadt Prosopis verstärken konnten. In Unkenntnis deren strategischer Lage waren die Seevölker in Schussweite der dort stationierten Einheiten von Bogenschützen gelandet. Die Invasoren wurden nun durch schwere Salven unmittelbar auf sie gerichteter Trommelfeuer von Pfeilen aus verdeckten Positionen überrascht und niedergeworfen. Gleichzeitig griff die Hauptstreitmacht der ägyptischen Armee in überwältigender Zahl an. Von den unerbittlichen Pfeilen und einem ganzen Infanterie-Korps auf einem engen Strandbereich festgenagelt, konnten die Marinesoldaten der Seevölker nicht weiter vordringen. Diszipliniert erkämpften sie sich ihren Rückzug zu den Schiffen und konnten so ihre Verluste auf wenige tausend Gefallene oder Gefangene begrenzen.
Diese Schlacht wurde von Homer in der Odyssee dramatisiert. Nachdem sein Held nach Ithaka zurückgekehrt war, verbarg er seine Identität, indem er einem Hirten erzählte, er sei ein Kreter, der sich nach dem Erfolg der Achäer in Troja einer Flotte von Piraten für eine Expedition gegen Ägypten angeschlossen hatte. Das Abenteuer, sagte er, wäre fehlgeschlagen, wobei die meisten Invasoren getötet und die übrigen versklavt worden wären. Die Schlacht bei Prosopis beschreibt Odysseus folgendermaßen:
»Der ganze Ort war voller Infanterie, Streitwagen und glänzender Waffen. Zeus, der Donnerer, schlug meine Gruppe mit entsetzlicher Panik. Kein Mann hatte die Kraft, sich dem Feind zu stellen, denn wir waren von allen Seiten bedroht. Sie metzelten schließlich einen großen Teil meiner Gefährten nieder und verschleppten die Überlebenden, um sie als Sklaven für sich arbeiten zu lassen.«
Zurück an Bord ihrer Schiffe warteten die Seevölker vor der Küste auf eine weitere Gelegenheit, die Invasion fortzusetzen. Dabei wurden sie jedoch ununterbrochen von ägyptischen Marineeinheiten bedrängt, die, statt die überlegenen Kriegsschiffe direkt anzugreifen, kurze Guerilla-Angriffe gegen die Transport- und Versorgungsschiffe unternahmen, um den Feind damit aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Im Vertrauen darauf, dass seine verbliebene Flotte die Seevölker in Schach halten würde, evakuierte Merenptah den Großteil seiner Armeen aus Prosopis und ließ dieses praktisch unverteidigt zurück, um stattdessen die Festung Perite zu verstärken. Dies war die letzte wichtige Verteidigungsposition gegen den Vormarsch von König Meryey, der bereits den westlichen Rand des Deltas erreicht hatte. Am frühen Morgen des 15. April griff ein größeres Kontingent von Libyern, den Sonnenaufgang vor Augen, in Erwartung einer offenen Feldschlacht an. Stattdessen ließen die gefürchteten Bogenschützen des Pharaos einen Pfeilhagel auf die heranstürmenden Wellen von Fußsoldaten niedergehen. Trotz des resultierenden Massakers drangen die Libyer weiter voran und kämpften Mann gegen Mann sechs Stunden lang unter den Festungsmauern gegen die Verteidiger.
Schließlich kamen den Ägyptern ein Streitwagengeschwader und eine Brigade von Speerwerfern zu Hilfe. Damit brach der libysche Angriff endgültig zusammen und wurde schließlich zur Niederlage. Als sich die Schlacht zu wenden begann, tat es auch König Meryey. Er floh vom Schlachtfeld und ließ seine königliche Familie zurück, die in die Hände des Feindes fiel. Seine sechs Söhne waren bereits im Kampf gefallen. Zusammen mit dem Mobiliar des Monarchen erbeuteten die Ägypter 120.000 Waffen und weitere militärische Ausrüstungsgegenstände sowie 9.000 Kupferschwerter. Haufenweise trugen sie die libysche Beute fort, die einen unumstößlichen Beweis dafür bildete, dass der Angriff der ernsthafte Versuch einer Invasion gewesen war. Alle Trophäen wurden an Heeresschreiber übergeben, die alles bis zum letzten Artikel inventarisierten. Dann wurden die Lederzelte der Invasoren in Brand gesetzt. Fast 10.000 Libyer waren gefallen. Weitere 9.111 wurden gefangen genommen. König Meryey war nicht unter ihnen. In Schande zu seinem Palast zurückgekehrt, wurde er von seinem eigenen Volk abgesetzt und hingerichtet. Doch auch die Ägypter erwiesen sich nicht als großzügig. Als Preis der Kapitulation schlugen sie 2.362 libyschen Offizieren die Hände ab.
Merenptah konnte jedoch keine Zeit mit Siegesfeiern verschwenden. Er wandte seine erschöpfte Armee in die entgegengesetzte Richtung, um sie gegen die Philister zu führen, die das östliche Delta bedrohten. Nachdem sie von den atlantischen und libyschen Rückschlägen erfahren hatten, waren sie nicht mehr sicher, ob sie die Invasion auf eigene Faust weiterführen sollten. Während sie noch zögerten, schlugen die Ägypter mit einem konzentrierten Frontalangriff zu, der ihre Gegner den ganzen Weg in die Levante zurücktaumeln ließ. Dort legten sie ihre Waffen nieder und gelobten, sie nie wieder aufzunehmen. Diesmal zeigte der Pharao Milde gegenüber den Besiegten. Er erlaubte ihnen, sich dauerhaft in dem Gebiet niederzulassen, das fortan den Namen Palästina trug. Den Nubiern gegenüber war er nicht zu ähnlicher Nachsicht geneigt und schlug ihren Aufstand mit eiserner Faust nieder.
Mit diesem Scheitern an allen Fronten löste sich die Koalition der Seevölker auf, und ihre Schiffe verließen die ägyptischen Gewässer. Merenptah hatte die Erwartungen von Freund und Feind gleichermaßen übertroffen. Der schlaue Pharao war ein zäher alter Mann, der seine zahlenmäßig überlegenen Feinde überlistet, ausmanövriert und vernichtend geschlagen hatte. Die Atlanter zogen sich daraufhin in ihre Hauptquartiere auf Zypern und Rhodos zurück. Obwohl die Dardanellen verloren gegangen waren und Ägypten unbesiegt blieb, waren Italien, die Balearen, Sardinien, Sizilien und wichtige Inseln der Ägäis noch in ihren Händen. Das Reich von Atlantis hielt immerhin noch einen großen Anteil am östlichen Mittelmeer.
So spektakulär Merenptahs Sieg erschien, offenbarte er doch auch die Schwäche Ägyptens. Die Schlachten bei Prosopis und der Festung Perite hatten die Streitkräfte so viel gekostet, dass sie nicht in der Lage waren, ihren Sieg über die Libyer zu nutzen und König Meryey bis zu seinem Palast zu verfolgen. Und die Nachsicht des Pharaos gegenüber den in die Flucht geschlagenen Philistern war wohl weniger auf seinen Großmut zurückzuführen als vielmehr auf seine Unfähigkeit, militärisch nach seinem Gutdünken mit ihnen zu verfahren. Die brutale Unterwerfung der militärisch weniger starken Nubier diente vermutlich dem Zweck, dem Rest der Welt ein Signal uneingeschränkter Kraft zu senden, um seine reale Schwäche zu verbergen.
Die Verluste der Seevölker waren zwar schwerwiegend, beschränkten sich jedoch auf die gelandeten Streitkräfte. Keines ihrer Schiffe war versenkt worden, im Gegensatz zur Flotte der Ägypter, die völlig vernichtet worden war. Dennoch konnten die Atlanter kein drittes Debakel riskieren, solange ihre Feinde von einem so klugen Strategen angeführt wurden. Während sie ihre Flotte auf Rhodos und Zypern überholten, warteten sie darauf, dass Merenptah an Altersschwäche starb. In dem politischen Chaos und der Unsicherheit, die regelmäßig zwischen dem Tod eines Pharaos und der Einsetzung des nächsten in Ägypten