Odersumpf. Marina Scheske

Odersumpf - Marina Scheske


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in Szene setzten und sich zuprosteten, als hätten sie gerade eine Heldentat vollbracht.

      Er sah auch die Bettler, viele waren es nicht, aber sie waren unübersehbar. »Bettler gab es früher bei uns nicht«, sagte er zu seiner Mutter.

      »Weil Bettelei verboten war«, antwortete sie gereizt.

      Seine Eltern genossen ihr neues Leben und es schien ihm, als wollten sie nur die schönen Seiten davon sehen. Sie mutierten zu rheinischen Frohnaturen, wie ein Chamäleon hatten sie die Farbe gewechselt, sich angepasst. Sie waren Wessis geworden. Das hätte er noch verkraften können, sie lebten ja jetzt da drüben. Aber ihre Freude daran nahm er ihnen übel. Besonders bei seiner Mutter fiel ihm auf, dass sie schon nach wenigen Jahren den Dialekt der Region angenommen hatte. Mit ihm sprach sie zwar weiterhin in Friedrichsfelder Mundart, waren jedoch Einheimische dabei, dann kopierte sie deren Sprache. So glaubte Konrad es jedenfalls zu hören. Für ihn war es Verrat, ein Verrat an der Heimat. Verleugnete die Mutter damit nicht ihre Herkunft? War es denn nichts mehr wert, ein Brandenburger zu sein?

      Zurück in Berlin kaufte er sich einen preußischen Wimpel.

      Er stellte ihn auf seinen Schreibtisch. Dort lag die Bibel des Urvaters, in ihr befand sich noch immer der Stammbaum, in dem Konrad handschriftlich dessen Todesdatum eingetragen hatte.

      Er wusste, dass er recht tat, wenn er das Andenken seines Urvaters in lebendiger Erinnerung behielt. Die Welt hatte sich verändert, aber hatte ihm der Urvater nicht ewig geltende Werte vermittelt? Er dachte daran zurück, wie er ihm mit feierlicher Stimme die Zehn Gebote aus dem Alten Testament vorgelesen hatte, die Moses auf einem Berg empfangen hatte. Handelte es sich dabei nicht um universelle ethische Grundsätze, nicht nur für das Christentum geltend, Grundsätze, die das Zusammenleben der Menschen überhaupt erst möglich machten? Eines Tages würde er sie seinen Kindern vorlesen.

      Kinder. Spätestens dann musste ein neuer Stammbaum her, der alte bot keinen Platz mehr für Eintragungen. Es war nicht so, dass Konrad sich dem Neuen gegenüber verschloss, es floss unmerklich in ihn ein, jedoch maß er alles Neue am Wertekanon seines Urvaters.

      Und dann waren da noch die materiellen Werte, die er ihm hinterlassen hatte. Er war Universalerbe, dreißigtausend Ostmark gingen nach vollendeter Enteignung auf das Konto seiner Eltern, von ihnen treu verwaltet bis zu seiner Volljährigkeit. Dort blieb es unangetastet auf einem Sparkonto bis zur Währungsunion. Bis auf einen Betrag von knapp fünftausend Mark, der eins zu eins umgetauscht wurde, war es nun nur noch die Hälfte wert. Ein Kollege riet ihm damals, in Aktien zu investieren. Natürlich tat er das nicht. Aktien waren Kapitalismus, ein Wort, das mit »mus« endete. Das Geld blieb auf der Sparkasse und warf magere Zinsen ab.

      Schließlich kam die zweite Geldentwertung. Nun betrug sein Sparguthaben noch knapp über dreizehntausend Euro. Konrad kaufte sich davon ein gebrauchtes Auto.

      In den folgenden Jahren verblasste das geistige Erbe des Urvaters, so wie auch der materielle Nachlass dahingeschwunden war. Weggespült vom Strom der täglichen Ereignisse, überlagert vom Geröll einer schnelllebigen Zeit verschwand es aus seinem wachen Bewusstsein. Erst viele Jahre später, als er Laura heiratete und die Kinder geboren wurden, tauchte es wieder auf. Er befand sich in einer anderen Lebenssituation. Nun galt es, Verantwortung für eine Familie zu übernehmen.

      Was hatte er in Creywitz gesucht? Natur, frische Luft für seine Kinder? Ruhe nach dem lärmenden Getöse der Großstadt? Sicher, auch das. Aber darüber hinaus trieb ihn etwas ganz anderes an. Er wünschte sich, dass seine Kinder so aufwachsen würden, wie er aufgewachsen war, in einem weitestgehend geschützten Raum, in einer überschaubaren Welt ohne schädliche Einflüsse, die er nicht verhindern konnte. War es das, was er wollte? Kontrolle über seine Kinder im Sinne eines patriarchalischen Familienbildes? War es ihm, wie den völkischen Siedlern, vor allem um Kontrolle und Macht gegangen?

      Das konnte und wollte er sich nicht eingestehen, denn dann hätte er sich mit ihnen auf eine Stufe gestellt. Dabei wusste er, genau dies ruhte auf dem Bodensatz seiner Seele und es kam vom Urvater. Nur, dass Kontrolle nun »informiert sein« hieß und Macht »Verantwortung übernehmen«. Er wusste genau, in einer Zeit, in der sich alte Rollenbilder auflösten, lag es an ihm selbst, inwieweit er davon Gebrauch machte.

      Was er in den letzten beiden Jahren erlebt hatte, war so überraschend und vollkommen absurd gewesen, dass er sich in dieser ersten Nacht nach dem Umzug wieder einmal die Frage stellte, wie so etwas in diesem Land überhaupt möglich war. Es erschütterte sein Weltbild und sein Rechtsempfinden in hohem Maße. War er naiv gewesen? Hatte er sich nicht genug informiert? Inzwischen hatte er sich belesen und Informationen erhalten, die man in keiner Tageszeitung und in keiner Nachrichtensendung fand. Wenn es wirklich stimmte, dass sie überall im Land Höfe in die Hand nahmen und versuchten, ganze Dorfgemeinschaften für ihre Ideologie zu vereinnahmen, dann war nicht nur er naiv gewesen, sondern ein ganzes Land. Schlimmer noch, die Politiker dieses Landes, von den Kommunen bis zum Bundestag, die Justiz und der Verfassungsschutz, alle hatten weggeschaut und dieses Treiben stillschweigend geduldet.

      Als Konrad diese Erkenntnis erreichte, stand das Rad seiner Gedanken endlich still. Er fühlte sich erleichtert, weil es hier um eine Kollektivschuld ging. Fast alle verschlossen die Augen vor dem, was da vor sich ging. Und auch er ging gern Kompromisse ein um des lieben Friedens willen. War dieses Raushalten nicht auch ein Relikt aus der DDR-Zeit?

      Wir sind, wie wir sind, dachte er. Das Leben hat uns so geformt. Was können wir schon ausrichten, wir kleinen Leute? Wir müssen zusehen, wie wir klarkommen.

      Das war sein letzter Gedanke, bevor er endlich einschlief. Dieser Gedanke war eine Generalamnestie für all seine Landsleute, die wegschauten, weil sie in Frieden leben wollten. Ganz so, wie es auch ihre Urväter getan hatten, als in Deutschland die Synagogen brannten.

      *

      Am nächsten Morgen lag ein Zettel auf dem Tisch. »Bin Brötchen holen.«

      Er wartete lange auf Laura. Mit seinem Kaffee stand er am Fenster und beobachtete den kleinen Parkplatz. Er schätzte ab, ob er dort abends noch einen Platz finden würde, bis ihm einfiel, dass er ja nun zu Fuß zur Arbeit gehen konnte.

      Als sie endlich kam, goss sie sich schweigend Kaffee ein und stellte sich zu ihm ans Fenster. »Holger Grams ist tot. Er hat sich erhängt.«

      »Woher weißt du das? Mein Gott, Laura, wie siehst du denn aus? Setz dich doch erst mal hin!«

      »Ich muss was essen«, murmelte sie. Hastig schnitt sie sich ein Brötchen auf, Konrad schaute ihr zu. Er sah, wie sie sich in die Hand schnitt und das Blut tropfte. Tränen liefen über ihr Gesicht.

      »Nun mach doch was!«, rief sie.

      Es war nicht so schlimm, wie es ausgesehen hatte. Konrad verband ihre Wunde, nahm sie in den Arm und wiegte sie wie ein Kind. »Laura, Schnecke, es ist nur ein kleiner Ritz.«

      »Er hat hier gewohnt!«, stieß sie schließlich hervor. »Keiner in Creywitz wusste, dass er hierhergezogen ist. Direkt aus der Klinik. Oder wusstest du das etwa?«

      »Woher denn? Sicher wusste es der eine oder andere, aber sie sprachen nicht mehr über Holger. Was da passiert ist, hat ein schlechtes Licht auf ihren schönen Ort geworfen.«

      Er erinnerte sich an Holgers Worte, als er ihn in der Klinik besucht hatte: »Ich muss weg aus Creywitz! Ich kann nicht mehr, Konrad. Ich kann die ganzen Hackfressen nicht mehr sehen! Dieser Graf hat Kathi auf dem Gewissen, aber ich kann es nicht beweisen! Die von der Kripo, die denken, ich bin bekloppt. Ich werde wegziehen, der Hof wird verkauft, mein Bruder erledigt alles für mich. Und dann werde ich einen Detektiv beauftragen. Dieser Lump hat sie bestimmt irgendwo verscharrt!«

      »Zu mir hat er mal gesagt, er zieht vielleicht zu seinem Bruder nach Jahnswalde. Hörst du mir überhaupt zu, Konrad? Dabei ist er nach Friedrichsfeld gezogen. Hier hat er gewohnt, hier in diesem Haus! Ausgerechnet in der Selbstmörderburg. Er hat sich an der Heizung erhängt, stell dir das mal vor! Ich halte das nicht aus, das verfolgt uns, Konrad.«

      »Woher weißt du das?«

      »Ich war beim Bäcker. Und Kathi wird immer noch vermisst. Meinst du, der Graf hat sie umgebracht?


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