"Bleib schön sitzen!". Eugen Freund
Rezeptgebühr durfte meine Mutter einbehalten – ein Schilling, zwei Schilling, später waren es fünf Schilling, aufgehoben oder gesammelt wurde das Geld immer in passenden blechernen Tablettendosen, die auf ihrem Schreibtisch aufgereiht waren. Es war ihr Einkommen. Oder unseres. Denn gelegentlich, wenn das ohnehin knappe Taschengeld wieder einmal ausgegangen war, stibitzte ich einen Fünfer aus der Dose. Oder ich griff in die Manteltaschen meines Vaters und klaubte die eine oder andere Münze heraus. Eine kleine Plastikschatulle mit Kleingeld führte mein Vater auch stets im Auto mit, als eiserne Reserve. Auch die hatte ich entdeckt und behalf mir in Notlagen daraus. Etwa wenn meine Lust auf etwas Süßes nicht mehr zu bändigen war.
Am allerliebsten hatte ich zu jener Zeit »Stollwerk«, tiefbraunes, quadratisches süßes Zeug, das beim Lutschen im Mund alle Zahnzwischenräume verklebte. Dafür musste man freilich zum »Konsum« – dort ging ich als Vierjähriger einmal um fünf Uhr früh hin und war schwer enttäuscht, weil das Geschäft noch geschlossen war … Der »Konsum« war bis zu seinem endgültigen Zusammenbruch unser einziges Lebensmittelgeschäft im Ort – mit den heutigen Supermärkten nicht zu vergleichen. Es war dunkel im Raum, am Boden standen prall gefüllte große Papiersäcke mit Mehl, Zucker, Reis, Haferflocken und Ähnlichem. Hinter der L-förmigen Theke stand Herr Krakolinig, bekleidet mit einem hellgrauen Arbeitsmantel, und reichte uns die Waren, die in den Regalen verstaut waren, alles, was verpackt oder in Gläsern oder Dosen feilgeboten wurde. Es gab in St. Kanzian allerdings noch eine weitere Gemischtwarenhandlung. Die war im Gasthof Rabl untergebracht, wo sonntags im Sommer nach der Messe immer ein Schleck-Eis auf der Tagesordnung stand. Um daran zu kommen, musste man in die Küche des Gasthofs gehen und den Wirt bitten, sich kurz vom Kochen zu trennen und mit uns in die Fleischerei zu gehen, denn dort stand die Eismaschine, direkt neben der Kühltruhe, in der die Schulterscherzeln, die Schweinshälften oder die Hendln gekühlt wurden. Um 50 Groschen bekam man damals eine kleine Kugel, um einen Schilling entsprechend zwei. Mehr als zwei oder drei Sorten gab es nie, Vanille, Erdbeere, Schokolade, eventuell noch Haselnuss, das war’s. Wenn die Jahreszeit nicht nach Eis verlangte, gab es eine köstliche Alternative: »Negerbrot« (so durfte man damals die Schokolade mit den großen Haselnuss-Stücken nennen), oder »Dreieck« – Schoko-Waffeln, die die Größe eines Schul-Dreiecks hatten, auch Schaumtüten oder Ein-Schilling-»Bensdorp«-Schokoladen. (Immer wieder beteiligten wir uns damals an einer Aktion der Firma, die das Sammeln einer bestimmten Anzahl an »Schleifen« – das war die Verpackung aus Papier, in der die Schokolade eingewickelt war – mit zehn oder auch zwanzig »Bensdorp«-Schokoladen prämierte.) Um aber einen Einkauf zu tätigen, musste man die Mizzi, die Schwester des Wirtes, meist ebenfalls aus der Küche des Gasthauses holen. Dann ging sie mit uns durch den Ausgang auf die Terrasse mit der jahrhundertalten Kastanie und sperrte eine alte, knarrende Holztür auf, hinter der sich ein Kammerl mit allen möglichen Lebensmitteln befand. Und eben auch mit köstlichen Süßigkeiten.
Wenn wir dann allein vom Gasthaus weggingen, schlichen wir uns so rasch wie möglich am Stall vorbei. Dort stand immer der »Fide«: ein kleiner, rundlicher Mann, meist trug er Holz-Zockel ohne Strümpfe, sein Gang war wackelig, seine Lippen, von denen immer Speichel tropfte, waren dicklich und seine Sprache unverständlich. »Fide, Fide, Feitl auf!«, riefen ihm die tapfereren größeren Buben zu und ich hatte keine Ahnung, was damit gemeint gewesen sein könnte.
Neben der Brücke, unter der der Abfluss des Klopeiner Sees floss, waren in den frühen 1950er Jahren montags immer Frauen zu sehen, die dort ihre Wäsche wuschen – sie waren aus dem ganzen Ort zusammengekommen, trugen in einem Leintuch eingerollt Hemden, Unterwäsche, Socken und Tischtücher mit sich und schrubbten sie im kalten Wasser des Baches, bis sie wieder blütenweiß waren, oder was man damals eben unter blütenweiß verstand.
Neben dem wöchentlichen Kirchgang und dem Besuch des Krämerladens gab es für uns Kinder noch einen zweiten Grund, regelmäßig in den Ort zu gehen: Im Gasthof Wank gab es einen Fernseher und da durften wir, gegen ein Eintrittsgeld von 50 Groschen, mittwochs immer »Kasperl« und »Welt der Jugend« ansehen, schwarz-weiß natürlich. Dazu kamen noch die spannenden Abenteuer von »Lassie« und »Fury« – ein Hund und ein Pferd, die mit besonderen Eigenschaften immer ihre jugendlichen Besitzer aus einer Gefahrenlage retteten. Kasperl war etwas für die ganz Kleinen (»Krawuzi-Kapuzi«), die »Welt der Jugend« war eine Art »Zeit im Bild« für Kleine, nannte sich im Untertitel »Das internationale Fernsehmagazin« (Sprecher: Luise Prasser und Fred Schaffer). Schon die Kennmelodie zeigte auf, worauf man sich freuen konnte: Eine Weltkugel drehte sich bis zu einem bestimmten Punkt, blieb unvermittelt stehen, dann öffnete sich ein Türchen und der gezeichnete Kopf eines Kindes schaute heraus, immer in der jeweiligen Landestracht. Bei »Österreich« war es ein Bub mit einem Filzhut mit Gamsbart und Ziehharmonika.
Daran kann ich mich deshalb so gut erinnern, weil ich als Elfjähriger einmal selbst in einem Beitrag vorkam: als »gelehriger Schüler«, der seinem Großvater in der selbst gebauten Privat-Sternwarte mit Fernrohr (»dieses Monstrum, das wie eine Kanone aussieht …«) behilflich sein durfte. Mit Sphärenklängen unterlegt hieß es dann zum Schluss: »Im sogenannten Trockenkursus« – dabei sieht man, wie der Großvater einen Sternenatlas aufschlägt – »wird der Enkel in die Geheimnisse des Firmaments eingeweiht, in eine Welt, die vielleicht schon morgen die unsere sein wird …«. Vielleicht. Doch zu Sternwarte und Großvater später mehr.
Weil wir keinen Fernseher hatten, mein Vater aber offensichtlich einmal bei einer Visite das Familienquiz »Einer wird gewinnen« mit Hans-Joachim Kulenkampff mitbekommen hatte und davon begeistert war, begann einmal im Monat am Samstagabend auch bei uns das Rätselraten: Wo werden wir uns heute selbst einladen, um »EWG« zu schauen? Nicht immer gelang es, aber Josef Marolt (den wir alle »Pepi« nannten) nahm uns gerne für diese zwei unterhaltsamen Stunden bei sich auf. Wir kamen rechtzeitig, um noch Hugo Portisch mitzuverfolgen, der uns in leicht fasslicher Form das Wochengeschehen erklärte. Der »Kalte Krieg« war seine Spezialität, aber auch der heiße, zu jener Zeit die Auseinandersetzungen im Fernen Osten – die konnte niemand so gut erklären wie der »Portitsch« (wie ihn die meisten nannten). Dann rieten wir bei »EWG« mit, freuten uns aber am meisten auf den Schlussgag mit »Herrn Martin«, dem Butler, der Kulenkampff den Mantel reichte und dabei irgendetwas an der Sendung sarkastisch kommentierte. Für uns hörte sich das alles echt an, erst viel später erfuhren wir, dass sich diese Schlusspointe Kulenkampff immer selbst ausgedacht hatte.
Außer diesem Fernsehabend gab es für uns Kinder kaum eine Ablenkung vom und im Alltag. Nicht, dass wir die besonders nötig hatten: Wir spielten im Hof oder auf dem Schul-Turnplatz, Kinder gab es in der Nachbarschaft genug und das füllte uns auch bis zur Müdigkeit am Abend aus. Wenn es in St. Kanzian doch einmal eine Attraktion gab, versammelte sich dort auch das ganze Dorf. Einmal etwa zog ein riesiger Lastwagen durch Unterkärnten, auf der Ladefläche lag ein fast dreißig Meter langer Blauwal. Er war am Bauch aufgeschnitten, entsprechend stark war der Geruch, der von dort ausströmte. Aber das hielt uns nicht davon ab, dieses Untier aus der Nähe zu betrachten – so etwas Großes hatten wir noch nie gesehen. Allein das Maul, das man mit einem armdicken Stock offen hielt, war so groß, dass ich leicht darin Platz gefunden hätte. Zum Glück machte niemand den Vorschlag, ich sollte das ausprobieren. Nie im Leben ausprobiert hätte ich auch eine zweite Sensation, die uns zur Kirche eilen ließ: Ein Motorradfahrer fuhr auf einem gespannten Seil fast bis zur Kirchturmspitze hinauf. Um das Gleichgewicht zu halten, war unter dem Motorrad noch ein Gestänge befestigt, auf dem eine Frau saß. Wir hielten alle den Atem an, als der Fahrer Gas gab und sein Gefährt samt Begleitung nach oben lenkte – das heißt, lenken musste oder konnte er nicht, denn die Reifen waren abmontiert und nur die Felgen klammerten sich an das Seil. Eine weitere Attraktion waren die »Don-Kosaken« – eine Reitertruppe, die atemberaubende Kunststücke auf ihren Pferden zeigte: Ein Reiter saß verkehrt auf dem Sattel, ein anderer hielt sich unter dem Bauch des Tieres fest, immer wieder galoppierten sie aufeinander zu, stießen sich vom Pferd und kamen trotzdem auf den Beinen stehend am Boden auf.
Ich erinnere mich auch noch gut an die Ordination, in der es alles gab, was ein Landarzt damals brauchte: einen Frauen-Untersuchungsstuhl, mit eierschalengelben Sitz- und Rückenflächen und zwei chromverzierten, verstellbaren langen Stangen, die in einem O endeten, etwas, das uns Kindern immer Rätsel aufgab. Daneben stand ein Zahnbohrgerät, der dazugehörige Elektromotor, der