"Bleib schön sitzen!". Eugen Freund
weiß lackierte Tischchen, auf denen Wasserkocher standen, die zur Sterilisation der Spritzen und Injektionsnadeln im Einsatz waren. Und dann war da noch eine Liege, genauer: eine Joka-Couch, die sich einmal, ich war damals achteinhalb Jahre alt, als Geschenk des Himmels erweisen sollte.
Zu Weihnachten 1959 bekam ich nämlich meinen größten Wunsch erfüllt: Unter dem Christbaum stand eine rote Schachtel, in der eine elektrische Eisenbahn (»Kleinbahn«) verstaut war. Ich hatte sie einige Wochen vorher beim »Grüner« in Klagenfurt in der Auslage gesehen und offenbar keine Ruhe mehr gegeben. Noch am Abend baute ich das Oval unter dem Esstisch auf, sonst gab schlicht keinen Platz dafür. Da das aber auch keine wirklich praktikable Lösung war (wenn ich unter dem Tisch spielte, war der Raum für die Beine der restlichen Familienmitglieder deutlich eingeschränkt), kam mein Vater auf die glänzende Idee, die Schienen im Bettzeugraum der aufklappbaren Couch in der Ordination unterzubringen. Das wiederum verkürzte meine Spielzeit auf jene Stunden, in denen weder mein Vater die Ordination noch Patienten das Bett beanspruchten. Das war allerdings selten der Fall.
Weihnachten war für uns Kinder natürlich ein Segen, aber immer auch ein wenig mit einem Fluch verbunden. Da viele Patienten auch am Heiligen Abend versorgt werden mussten, war der Vater auch an diesem Tag auf Visiten unterwegs. Wir Kinder saßen im Vorraum, spielten miteinander und warteten gespannt darauf, dass das Christkind endlich das Glöckchen läutete – das untrügliche Zeichen, dass der Christbaum geschmückt war und es mit dem Abliefern und dem Einpacken der Geschenke fertig war. Den Baum besorgte uns jedes Jahr der »Joza«, der Mann der Schulwartin – damals war es üblich, einfach in den nahe gelegenen Wald zu gehen und sich dort einen schönen Baum abzuschneiden – wenn der Wald der Kirche gehörte, dann umso besser. Dann war er auch gleich gesegnet.
Während die Nachbarkinder – an ihrem Gejauchze und dem Geschnatter deutlich hörbar – schon längst mit ihren neuen Spielzeug spielten (oder sogar bei uns vorbeikamen und die neuesten Sachen präsentierten), ließ unser Gabentisch noch immer auf sich warten. Oder besser: Der Vater ließ auf sich warten. Denn viele Patienten luden ihn ein, mit ihnen noch die eine oder andere Jause zu teilen oder »wenigstens ein paar Minuten, nur für ein Weihnachtsplauscherl, noch zu bleiben«. Und so wurde es oft acht Uhr oder sogar neun, bis der Herr Doktor von seinen Visiten zurückkam und uns Kinder aus der Ungeduld erlöste. Später – viel später – wiederholte sich das Schauspiel durch das ähnliche Verhalten unserer Mutter. Auch sie war zu Weihnachten immer die letzte. Mittlerweile hatten natürlich schon wir Kinder das Schmücken des Christbaums übernommen, aber jedes Jahr am 24. Dezember warteten wir auf sie, bis sie aus Klagenfurt zu uns kam: Sie musste noch die Obdachlosen und die Taxifahrer mit kleinen Geschenken versorgen, meist selbst gebackene Kekse, was immer zu heftiger Verspätung und auch zu einer gewissen Verärgerung führte …
Ein Zimmer, das eigentlich zu unserer Wohnung gehörte und gegenüber dem Warteraum lag, wurde einige Jahre noch von einer anderen Partei, der Familie Wolkinger, benutzt. Doch so ganz genau hielten sich die Wolkingers offenbar nicht an die Raumeinteilung. Eines Tages, oder eigentlich eines Nachts ging meine Mutter in die Küche und sah zu ihrem Schrecken hinter dem Kasten einen Schuh herausschauen. Zu diesem Schuh gehörte auch ein Fuß, ein Bein, ein Körper – da stand doch tatsächlich Herr Wolkinger und stotterte eine Entschuldigung: »Uh, ah, ich … ich habe den Wasserhahn tropfen gehört und wollte ihn gerade zudrehen …« Ob damals auch irgendetwas aus der Küche gefehlt hatte, ließ sich nicht mehr rekonstruieren.
Fast alle Kinder im Haus waren älter als wir Neuankömmlinge. Sie gingen schon zur Schule, und wenn das die Volksschule war, dann mussten sie nicht einmal ins Freie: Alle Wohnungen (auch unsere) waren mit einem Gang mit den Klassenzimmern verbunden. Ohne Mäntel und ohne feste Schuhe konnten wir so die ersten vier Jahre zur Schule gehen.
Auf der anderen Seite des großen Gebäudes gab es den schon erwähnten Parkplatz, er war gleichzeitig die Zufahrt zur Holzhütte, die die Gemeinde als Lager verwendete, zwei Traktor-Anhänger standen darin, Holzstangen, um im Winter die Straßen abzugrenzen, und Bänke, die den Urlaubern in den Sommermonaten auf den Wanderwegen zur Verfügung standen. Unterhalb, quasi im Keller der Hütte, gab es einen kleinen Stall mit Schweinen. Die fütterte die Frau Kert mit »Kåschpl« – essbare Abfälle, die in einem Kübel gesammelt und dann in den Schweinetrog geleert wurden. Gelegentlich teilten sich die Schweine den Platz in der Hütte mit zugelaufenen Katzen. Nur zu viele durften es nicht werden.
Manchmal, wenn ich mit einem der größeren Buben in einem Kellerzimmer mit den kleinen Matchbox-Autos spielte – dazu hatten wir in den Holztisch Fahrbahnen eingekratzt –, hörte ich draußen am Gang flehendes Katzenmiauen. Als wir nachschauten, sahen wir die Schulwartin gerade in den nächsten Raum huschen, in dem ein riesiger Waschtrog aus Beton eingebaut war. Frau Kert wollte nicht, dass wir sahen, was als Nächstes passierte. Sie hielt einen Kartoffelsack im Arm, aus dem das schwache Miauen zu vernehmen war, aber nur ganz kurz. Mit einer raschen Handbewegung tauchte sie den braunen Sack ins Wasser und hielt ihn wohl eine halbe Minute unter. Als sie ihn wieder herauszog, war das Miauen verstummt.
Der grausame Tod der Katzenjungen war nicht das einzige einprägsame Ereignis im Umgang mit den Tieren in unserer Hausgemeinschaft. Immer wieder musste auch ein Huhn daran glauben. Das für den Mittagstisch herzurichten, war die Aufgabe von Herrn Kert: Ein frei herumlaufendes Huhn einzufangen, war schon schwierig genug. Es schien zu ahnen, was ihm bevorstand, und lief daher mit lautem Gackern vor dem mit einer Axt bewaffneten Mann davon. Wenn er es schließlich mit beiden Händen erwischt hatte, folgte der nächste, brutale Schritt: Er legte es auf einen Holzpflock, versuchte das mit den Flügeln wild um sich schlagende Huhn einigermaßen ruhig zu halten und – zack – schlug er dem Tier mit der scharfen Hacke den Hals durch. Der Kopf fiel zu Boden, doch was danach folgte, blieb unvergesslich: Oft entglitt der zappelnde restliche Körper seinen Händen und dann lief das kopflose Tier davon, Blut spritzte aus dem Hals, bis es nach ein paar Metern kraftlos in sich zusammensackte. Dann wurde es in einen großen Topf mit heißem Wasser gelegt, um die Federn leichter ausrupfen zu können. Dass wir danach trotzdem noch Lust auf ein Brat- oder Backhendl hatten, ist schwer erklärlich. Umso verständlicher, dass sich einmal im Hof ein Hahn für die grausame Behandlung seiner Hennen ausgerechnet an mir rächte. Ich war gerade am Weg zum Hühnerstall, als mich der besagte Hahn sah und zielgerecht auf mich zu rannte: Nichts Böses ahnend blieb ich stehen und da war er schon. Er sprang mich an und bohrte seinen Schnabel durch die dünne Sommerhose in meine Seite. Ich schrie auf, laut genug, dass er von mir abließ, doch seit damals bin ich immer vorsichtig, wenn ich Hühnern, oder mehr noch einem Hahn außerhalb eines Zaunes begegne.
Irgendwann, als er um die 15 Jahre alt war (ich war damals zehn), wollte mein älterer Freund Sigi nicht nur mit den Matchbox-Autos spielen. Als ich in sein Zimmer kam, lag er im Bett und tat so, als ob er müde sei. »Komm, leg dich dazu«, sagte er und hob mit einer Hand die Decke hoch. Ich dachte mir nichts dabei und schlüpfte neben ihn. Es dauerte nur kurz und schon nahm er meine Hand und legte sie auf seinen erigierten Penis. Ich wusste nicht recht, wie mir geschah und wollte sie wegziehen. Aber Sigi blieb hartnäckig und hielt meine Hand fest. Das schien ihm nicht zu reichen, denn er forderte mich auf, sein dickes Stück in den Mund zu nehmen. Mir graute davor, aber ich hatte keine Chance und tat, was er verlangte, krümmte aber meine Lippen so nach innen, dass ich mit dem Penis kaum in Berührung kam. Als er merkte, dass bei mir da nicht mehr herauszuholen war, ließ er mich gehen. Es war das letzte Mal, dass ich in sein Zimmer kam. Zum Auto-Spielen musste ich mir dann andere Freunde suchen.
Hinter der Schule gab es noch zwei Besonderheiten: Im Schatten des Turnsaales war eine zirka drei Meter breite, gut 20 Meter lange, mit 10 Zentimeter hohem Rand betonierte Fläche errichtet worden. Sobald die Temperaturen unter null gesunken waren, wurde erst Wasser daraufgespritzt und bald danach hörte man das Klirren der Eisstöcke. Denn vor allem am Wochenende trafen sich viele St. Kanzianer, um bis spät in die Nacht – zwei Lampen beleuchteten die Eisbahn notdürftig – ihre Matches auszutragen. Ziel war es, den Stock so nahe wie möglich an die Daube zu zielen oder dem Gegner die Bahn zu ihr zu versperren. Neben der dicken Winterkleidung und den aus Filz gefertigten Überschuhen sorgte auch der Alkohol dafür, dass die Körper nicht einfroren.
Die zweite Besonderheit war – gleich neben der Eisbahn – die Kalkgrube: ein Betonschacht, der mit einer weißen Masse gefüllt und durch schwere Bretter abgedeckt