Nebeleck. Elisabeth Nesselrode
der verkrümmten Hand aufs Türblatt, registrierte die blutigen Abdrücke auf der Klinke, die Spritzer auf dem dunklen Holz. »So wie es aussieht, wurde er direkt an Ort und Stelle niedergestochen …«
»Anscheinend, der Täter hat ihn im Türrahmen überrascht. Er kam vom Flur.«
»Fehlt was im Haus? Wertgegenstände, Geld?«
Yusuf Kaya schüttelte den Kopf. »Raubüberfall kann man ausschließen. Im Nachtkasten sind zweihundert Euro, sein Portemonnaie liegt gut sichtbar unten in der Garderobe, ebenfalls gefüllt. Abgesehen davon wär man hier sowieso nicht reich geworden. Der Typ hat wie ein Asket gelebt, das ist alles quasi Sperrmüll. Er ist nicht aus der Gegend. Letztes Jahr ist er hergezogen.«
»Wenn das mal keine Fehlentscheidung war«, bemerkte Ulrike und blickte ein letztes Mal in das aschfahle Gesicht und auf den leicht geöffneten Mund, der für die Ewigkeit zu einem morbiden Lächeln verzerrt war.
Ulrike trat nach draußen, stellte sich ins Sonnenlicht und sah sich um. Der Dreiseithof Nebeleck lag abgeschieden auf einer großen Lichtung in einem Waldstück, der nächste Ort Schwanghaus war etwa zehn Gehminuten entfernt. Neben der riesigen Scheune und dem Wohnhaus gab es noch einen alten Stall, der nur ein paar vor sich hin rostende landwirtschaftliche Geräte und etwas Holz enthielt. Die Wiese um den Hof hatte eine satte grüne Farbe und war gesprenkelt von leuchtend gelben Narzissen, die sich der Sonne entgegenstreckten. Vor dem tiefblauen Himmel bogen sich am Rande der Lichtung hohe Kiefern sanft im Ostwind.
Das malerische Farbenspiel des Frühjahrs kontrastierte so stark mit dem maroden Hof und der übel zugerichteten Leiche, dass Ulrike das Ganze für einen Augenblick wie eine Inszenierung vorkam. Doch hier war nichts inszeniert. Die Brutalität, durch die Leonard Berger den Tod gefunden hatte, war Indiz für ein Verbrechen, das aus purem Hass begangen worden war, das einer Hinrichtung gleichkam. Nur für einen Moment fragte sie sich, warum sie so starrsinnig darauf bestanden hatte, den Fall allein zu übernehmen. Nach allem, was in den letzten Wochen geschehen war, waren ihr die Arbeit, das Alleinsein und der Ortswechsel sehr gelegen gekommen. Auch in Regensburg hatte man ihr Drängen sofort akzeptiert, die Kriminalpolizeiinspektion war ohnehin völlig überlastet.
Sie drehte sich noch einmal zu dem Hof um und blickte durch die schmutzigen Fenster, rief sich die Leiche Bergers in Erinnerung. Es war dennoch ihre Entscheidung gewesen und jetzt auch ihre alleinige Verantwortung.
Ulrike schüttelte ihre Bedenken ab, bevor sie sich auf den Weg zum Polizeibus machte, in dem die Spaziergängerin befragt wurde, die den Toten gefunden hatte. Da erregte ganz plötzlich etwas ihre Aufmerksamkeit. Am Ende der Zufahrt zum Hof meinte sie eine Frau wahrzunehmen. Ihre Umrisse lösten sich nur kurz aus dem scharfkantigen Schattenspiel der Bäume, sie wirkte wie versteinert. Als sie Ulrikes Blick bemerkte, rannte sie davon und verschwand im Dunkel des Waldes.
***
Hallo du,
fällt mir schwer zu erklären, was heut passiert ist, als wir uns getroffen haben. Vielleicht war es Magie oder so was. Es hat sich zumindest so angefühlt. Ich bin ganz durcheinander seitdem, das ist mal sicher. Aber ich hab das Gefühl, als wär das jetzt Schicksal. Als hätt ich’s doch immer gespürt, dass es so kommt, und jetzt weiß ich’s halt, ich hätt nicht gedacht, dass mir so was noch passieren kann. Deswegen sag ich bloß Danke. Und dass ich an dich denk.
X.
2
Die Polizeiinspektion lag am Rande der Neumarkter Innenstadt. Ulrike wurde ein Arbeitsplatz direkt am Fenster des Großraumbüros zugewiesen, von dem sie auf einen riesigen Parkplatz blicken konnte, auf eine Kreuzung und den glänzenden Asphalt. In der Frühjahrswärme hatte sich das Büro ordentlich aufgeheizt. Ulrike hängte ihren grauen Mantel über den Schreibtischstuhl und schaltete den Computer ein. In der Ferne sah sie die knorrigen Zweige der Kiefern eines kleinen Waldstückes, das den in der Nähe liegenden Flugplatz säumte. Sie dachte zurück an den Hof und an das Gespräch mit der Spaziergängerin, die Leonard Berger entdeckt hatte.
Die junge Frau, Tamara Huber, kam aus dem Neubaugebiet, das zwischen dem Ortskern von Schwanghaus und dem verlassenen Bauernhof im Nadelwald lag. Sie war Anfang dreißig, lebte dort mit ihrem Mann und zwei gemeinsamen Kindern. Fast täglich ging sie mit ihrem blonden Hündchen hier spazieren. Dieses hatte sich während des Gesprächs auf der Wiese in der Sonne ausgestreckt, nicht ahnend, was die Verzögerung beim morgendlichen Auslauf verursacht hatte.
»Ist das ein Dackel?«, fragte Ulrike, nachdem sie sich neben die geöffnete Tür des Polizeibusses gestellt hatte.
»Nicht ganz, ein Basset Fauve de Bretagne, eine französische Jagdhund-Rasse«, antwortete die Frau mit bebender Stimme. Sie war verweint, ihre Augen waren weit geöffnet, ihre Hände ineinander verkrampft.
»Ich heiße Ulrike Kork und bin von der Kriminalpolizei in Regensburg. Wie geht’s Ihnen? Ich kann mir vorstellen, was das für ein Schock für Sie gewesen sein muss.«
Tamara Huber griff sich an die Stirn. »Ich kann nicht begreifen, wer so was macht.«
Sie berichtete, dass sie mit ihrem Hund unterwegs gewesen war, als ihr plötzlich Bergers riesiger Deutsch Drahthaar aus dem Wald entgegengeschossen kam und mit dem Stummelschwänzchen gewedelt hatte.
»Ich hab Theo sofort erkannt, dem Herrn Berger vom Nebeleck bin ich oft begegnet. Freundlich ist er gewesen, etwas verschwiegen vielleicht, aber bestimmt kein schlechter Mensch. Wir haben manchmal ein bisschen geratscht. Nichts Besonderes, übers Wetter oder so.«
Sie habe sich gewundert, warum der Hund ohne Herrchen unterwegs war, also sei sie hinter ihm her zum Hof gegangen, nur um zu schauen, ob alles in Ordnung sei. »Theo hat sich dauernd zu mir umgedreht, wie um sicherzugehen, ob ich noch da bin, er wollte mir was zeigen. Ich hab mich noch gewundert, aber ab da wusste ich eigentlich schon, dass was nicht stimmt.«
Sie war bis zum Hof gelaufen, durch die geöffnete Eingangstür und weiter nach oben, erzählte sie unter Tränen. »Theo hat ihn dauernd mit der Schnauze angetippt und gewinselt und mich so angeschaut. Ich hab mich zu Tode erschrocken und dann die Polizei angerufen.«
Tamara Huber schluchzte, und Ulrike reichte ihr ein Taschentuch. Ein brauner VW Sharan kam neben ihnen zum Stehen. »Das ist mein Mann«, sagte sie. »Brauchen Sie noch was?«
Ulrike schüttelte den Kopf. »Wir werden Sie kontaktieren, wenn noch Fragen offen sind.«
Tamara Huber nickte, verabschiedete sich und stieg mit ihrem blonden Hund in den Wagen. Ulrike sah zu, wie das Auto über die Auffahrt im Wald verschwand. Noch lange schwebte der aufgewirbelte Dreck in der flirrenden Morgensonne.
Es war Mittag geworden. Ulrike checkte ihre Mails, druckte die Dokumente aus, die sie bei den Kollegen in Regensburg angefordert hatte, und machte sich auf den Weg in das kleine Besprechungszimmer, das bereits voll besetzt war. Neben Yusuf Kaya und Franka Brandl erkannte sie noch den jüngeren Polizisten, der die Aussage von Tamara Huber aufgenommen hatte. Die anderen waren ihr unbekannt.
Wie immer zu Beginn einer neuen Ermittlung war sie auch dieses Mal von einem unnachgiebigen Tatendrang ergriffen. Doch irgendetwas anderes trieb sie zusätzlich an, als würde etwas in ihrem Unterbewusstsein sie permanent ermahnen, dieses Mal alles richtig zu machen, den Überblick nicht zu verlieren, die Oberhand zu behalten.
Nachdem sie sich vorgestellt hatte, begann sie: »Ich weiß, das ist eine außergewöhnliche Situation, aber eine solch brutale Tat verlangt, dass wir jetzt alle unser Möglichstes tun. Das bedeutet Überstunden und überdurchschnittliches Engagement –«
»Die Kollegen hier wissen sehr genau, wie überdurchschnittliches Engagement aussieht«, unterbrach Kaya sie. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, sein Schnurrbart bewegte sich hin und her, was ein Indiz für Verärgerung zu sein schien.
»Es ist wichtig«, fuhr Ulrike fort, ohne sich die Anspannung anmerken zu lassen, »dass wir jetzt schnell sind, keine Zeit verlieren. Mit Unterstützung aus Regensburg ist vorerst nicht zu rechnen, daher müssen wir unsere Ressourcen jetzt möglichst sinnvoll einsetzen.« Sie taxierte den Raum, begegnete