Entwicklungspsychologische Grundlagen der Psychoanalyse. Hermann Staats

Entwicklungspsychologische Grundlagen der Psychoanalyse - Hermann Staats


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Vorgang. In dieser Auffassung steht nicht nur die Kultur der »natürlichen« Suche nach Befriedigung entgegen. Der Konflikt ist bereits innerhalb der biologisch verstandenen Entwicklung angelegt. Diese Auffassung wird kontrovers diskutiert (z. B. Mertens, 1996). In anderen Kulturen finden sich häufig sexualisierte Spiele zwischen 6- bis 10-jährigen Kindern. Die Latenzzeit kann so doch als Ausdruck eines kulturellen »Zwangs« beschrieben werden, der für das Lernen komplexer Zusammenhänge genutzt wird. Mit der vorübergehenden Aufgabe oder Verdrängung ödipaler Wünsche geht eine Entwicklung von Ich und Über-Ich einher, die im Sinne einer kulturellen Anpassung gewünscht ist. Die Fähigkeit zur Selbstregulation steigt, indem neue Befriedigungsformen und Anpassungsmöglichkeiten etabliert werden: Das lustvolle Erfahren der eigenen wachsenden Kompetenz stärkt das Selbstwertgefühl. Lernen, körperliche Aktivitäten und Phantasien dienen dann der Regulation innerer Spannungen. Kinder entwickeln sich in dieser Zeit bereits sehr unterschiedlich. Statt eines gleichförmigen Entwicklungsverlaufs können daher besser Entwicklungspfade für die verschiedenen Bereiche beschrieben werden.

      Auch wenn Kinder ihre ödipal-inzestuösen Wünsche und Konflikte aufgegeben oder unterdrückt haben, sind die meisten Beziehungen zu den Eltern in dieser Zeit eng. Eltern erleben diese Entwicklungsphase oft als besonders glücklich. Der Zusammenhalt in der Familie, die »Kohäsion« ist hoch, das vielfach gemeinsame Lernen und Entdecken von Interessen fasziniert und befriedigt. Störungen in dieser Zeit führen besonders bei Jungen zu therapeutischen Kontakten, meist anlässlich von Lern- und Aufmerksamkeitsstörungen. Das Ruhen sexueller (und aggressiver) Bestrebungen wird von einigen Autoren auch als Ergebnis repressiver gesellschaftlicher und familiärer Strukturen beschrieben. Ein für das Lernen kultureller Inhalte notwendiges längeres Zusammenleben in der Familie erfordert eine vorübergehende Unterdrückung sexueller Wünsche und Impulse: die Sprengkraft von Sexualität muss hier eingeschränkt werden.

      Tömmel (2014) beschreibt die Geschichte psychoanalytischer Konzepte der Latenzzeit. Mit der Sublimierung von Triebkräften (Freud, 1905) komme es zur Entwicklung von Kultur. Erfahrungen des Kindes mit seinem bereits vor im bestehenden und selbstverständlich angenommenen Umfeld – der Kultur – führen zu Identifizierungsprozessen. Sie werden im Spiel erprobt und eingeübt, das »weder eine Sache der inneren psychischen Realität, noch eine Sache der äußeren Realität« (Winnicott 1984, S. 112) sei. Diese kulturellen Erfahrungen führen auch zu einer Veränderung des Über-Ich (image Kap. 3.2). Das relative Ruhen von Liebes- und sexuellen Impulsen trage auch dazu bei, nicht ausschließliche Beziehungen zu leben – und damit Gruppenzugehörigkeiten zu erproben und zu lernen. Ein Versagen dieser Sublimierungsvorgänge in der Latenzzeit ist mit Störungen des Lernverhaltens verbunden. Die Diagnose einer Aufmerksamkeitsstörung kann zu einer pharmakologischen Intervention führen, deren Auswirkungen als eine »Wiederherstellung« der Latenz beschrieben werden (Hopf, 2014; Tömmel, 2014).

      Folgerungen für die Praxis: Hyperkinetisches Verhalten und ADHS

      In Ergänzung eines biologischen Verstehens von hyperkinetischem Verhalten, ADS und ADHS betonen psychoanalytische Autoren soziale und psychologische Faktoren bei der Entstehung und Bewältigung dieses Syndroms. Neraal (2019) beschreibt die häufigen familiären Belastungen in Familien mit einem Kind mit ADHS – etwa heftige familiäre Konflikte, Suchterkrankungen oder das Fehlen eines Elternteils. Betroffene Kinder können als Indexpatienten eines überforderten Familiensystems gesehen werden. Ihr subjektives Erleben ist damit verbunden, sich »kein Gehör« verschaffen zu können und damit auf die Aufmerksamkeit der Umgebung zu »pochen«. Emotionale Inhalte werden gegenüber dem Lernen »priorisiert« und über eine motorische Abfuhr reguliert, so dass die Konzentration auf Lerninhalte nicht gelingt.

      Mit ihrem störenden motorischen Verhalten bekommen diese Kinder dann zwar Beachtung. Die Aufmerksamkeit ist aber in der Regel von Verständnislosigkeit gegenüber ihren primären Wünschen und von Hilflosigkeit geprägt. Manchmal bekommt die Symptomatik des Kindes sekundär eine die Familie stabilisierende Funktion. Wichtige Bezugspersonen in Familie, Kita und Schule reagieren dann vorwiegend mit Eingrenzung, Bestrafung und Isolierung des Kindes – eine Affektregulation kann so nicht gelernt werden. Hyperaktivität ist so Ausdruck der Affektmotorik – z. B. bei Bedrohung des Selbstwertgefühls, Impulsivität Folge von Schwierigkeiten der Mentalisierung von Affekten. ADHS kann dann als eine Störung der interpersonellen Beziehungen betrachtet werden.

      Aus sozialer Sicht müssen zu diesem Bild Veränderungen des Lebensstils von Kindern in den letzten 50 Jahren ergänzt werden. Körperliche Aktivitäten (z. B. im Arbeitsbereich) sind Kindern nicht mehr zugänglich, der Raum, der Kindern für eine selbständige motorische Aktivität zur Verfügung steht, hat sich dramatisch verkleinert, Sportunterricht an Schulen sinkt in seiner Bedeutung. Eine Affektregulation durch körperliche Aktivität und das Lernen körperlicher Kompetenzen tritt daher aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen immer mehr in den Hintergrund. Die Bestätigung des Selbstwerts über körperliche Aktivität gelingt nur noch wenigen betroffenen Kindern.

      Freud beschreibt, dass es in der Latenzzeit zu einem Nachlassen sexueller Impulse komme. Er berücksichtigte aber bereits die Vielfalt der Entwicklungen in dieser Zeit – bei einigen Kindern bleibt die Sexualisierung und eine damit einhergehende sexuelle Betätigung während der Latenzzeit bestehen. Mertens (1996) diskutiert die unterschiedlichen Auffassungen zum Persistieren sexueller Betätigung in der Latenzzeit und die Infragestellung dieses Konzepts: Ist es gerechtfertigt, von einer Zeit der Latenz zu sprechen? Die Unterdrückung sexueller Aktivität bleibt unvollständig; fast alle Kinder in der Latenzzeit zeigen sexuelle Aktivitäten wie Masturbation und sexuelles Phantasieren. Auch diese Aktivitäten unterstützen die Regulation innerer Spannungen. Ein gewaltsames Verbieten oder strikte Unterbindungen können zu einer Einschränkung der Ich-Entwicklung führen.

      Folgerungen für die Praxis: Sexuelle Aktivität, Schuldgefühl und Zwänge

      Symptome, die hauptsächlich in der frühen Latenz aufkommen, wie Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen, Konzentrationsmangel, antisoziales Verhalten, übermäßige Schuldgefühle oder Kastrationsängste, werden als eine Folge strikter Unterbindung sexueller Aktivitäten in der Latenzzeit beschrieben. Die »fast ausschließliche« Beschäftigung mit sexuellen Doktorspielen kann aber auch auf die sexuelle Überstimulation und Überforderung eines Kindes hinweisen (Mertens 1996). Inwieweit es dem Kind gelingt, seine sexuellen Aktivitäten sozial angemessen zu kontrollieren, die mit ihnen verbundenen Phantasien und Emotionen zu integrieren und ein positives Ich und Über-Ich zu entwickeln, hängt mit den Einflüssen des sozialen Umfeldes, der gesellschaftlichen und familiären Kultur zusammen (Tyson & Tyson, 2009).

      2.3 Objektbeziehungen der Latenzzeit

      Durch die Enttäuschung im Zusammenhang mit der Zurückweisung ödipaler Liebeswünsche und durch die wachsenden kognitiven Kompetenzen lösen sich Kinder vermehrt von ihren Eltern. Phantasien (wie die, ein adoptiertes Kind mit anderen Eltern zu sein) unterstützen Kinder in dieser Entwicklungsaufgabe. Freud hat diese Phantasien (1909) als den »Familienroman der Neurotiker« beschrieben. Bei allen – äußeren – Autonomieschritten und Lösungsversuchen bleibt das Über-Ich aber noch an eine Bestätigung elterlicher Auffassungen gebunden. Manche Psychoanalytiker sprechen von einer »Projektion« des Über-Ich auf die Familie. Diese Vorstellung ist aber auch missverständlich. Die noch geringe Distanzierung von familiären Normen kann vielleicht besser als strukturelle Einschränkung verstanden werden (image Kap. 3 und image Kap. 4 zu den Veränderungen der Präadoleszenz und Adoleszenz).Mit der größer werdenden Distanz zu den Eltern und dem Wechsel zur Präadoleszenz wird es zunehmend als innere Instanz erlebt. Fragen nach einem »Richtig« und »Falsch« nehmen eine immer größere Rolle ein. Ältere Kinder leben ihre Phantasien


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