Entwicklungspsychologische Grundlagen der Psychoanalyse. Hermann Staats

Entwicklungspsychologische Grundlagen der Psychoanalyse - Hermann Staats


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Peergroups (Tyson & Tyson, 2009, S. 120 f.). Die Beziehungen zu Dingen werden wichtig. An ihnen wird gelernt. Spielzeuge und deren Funktionen werden erkundet und gepflegt und repariert, Sammlungen angelegt und damit Natur und Welt erkundet. Ein wenig wie in animistischen Kulturen kann von einer auch in den Dingen belebten Welt gesprochen werden. Sie kennen zu lernen und sich mit ihr vertraut zu machen ist eine Aufgabe, für die z. B. Erfahrungen in Kinder- und Jugendgruppen (wie den Pfadfindern) genutzt werden.

      Von Klitzing und Stadelmann (2011) betonen unter dem Titel »Das Kind in der triadischen Beziehungswelt« die Bedeutung von Mehrpersonenbeziehungen für die kindliche Entwicklung.

      »Die Fähigkeit von Eltern, die Beziehung zu ihrem Kind so zu gestalten, dass es in einen flexiblen triadischen Beziehungsraum hineinwächst, d. h. das beide Eltern jeweils die eigene Beziehung zum Kind ohne Ausschlusstendenz gegenüber dem Dritten entwickeln können und dass die Beziehung des Partners zum Kind akzeptiert und als Bereicherung angesehen werden kann, stellt für Kinder eine günstige Beziehungsvoraussetzung dar …« (S. 967).

      Jungen sind für ihre Entwicklung stärker als Mädchen auf die Triangulierungskompetenz ihrer Eltern angewiesen und auf die Präsenz eines Vaters, der der Mutter liebevoll verbunden ist. Lern- und Verhaltensstörungen werden bei Jungen infolge eines Fehlens von Vätern (und von Triangulierungskompetenz) beschrieben. Söhnen fehle dann ein Schutz gegen äußere und innere Gefahren (Dammasch, 2008). Die Formulierung Freuds (1930, S. 430): »ein ähnlich starkes Bedürfnis aus der Kindheit wie das nach dem Vaterschutz wüsste ich nicht anzugeben« weist auf diesen Aspekt des Erlebens von Söhnen hin (zur Entwicklung in Ein-Eltern-Familien image Kap. 7.5).

      Die Internalisierung eines triadischen Beziehungsmodus wird in der Latenzzeit wichtig und bereitet auf Erfahrungen in den Peergruppen der Adoleszenz vor. Ein Fehlen dieser Fähigkeit wird an den wachsenden sozialen Aufgaben der Latenzzeit deutlich. Interpersonelle Schwierigkeiten des Kindes können dann nicht mehr familiär aufgefangen werden. Mit dem Besuch einer Schule wird ein Teil der Verantwortung für die Entwicklung des Kindes von den Eltern auf die Bildungsstätte verlagert. Außerhalb der Familie auftretende interpersonelle Schwierigkeiten können zu einem Rückzug aus den Gruppen Gleichaltriger führen, zu einem Rückzug auf familiäre Strukturen oder in digitale Welten (image Kap. 5).

      Die strukturellen Veränderungen in der Latenzzeit führen zu einer Neuorganisation der Abwehr. Sie bereiten die Selbständigkeit vor, die in unserer Kultur auch mit einer partiellen Lösung von den familiären und gesellschaftlichen Normen und Erwartungen verbunden ist. Vor diesem Hintergrund kann die Latenzzeit auch als etwas Spezifisches für bestimmte Kulturen betrachtet werden. »Kindheit« wird unterschiedlich verstanden und mit unterschiedlichen Erwartungen und Rollenaufgaben verbunden. Vor allem in der Zeit des Übergangs von der Latenzzeit in die Adoleszenz (Präadoleszenz, image Kap. 3) treten zunehmend phantasierte Gefahren (z. B. »Monster«) auf. Hier werden existentielle Befürchtungen und deren Bewältigung bearbeitet. Angesichts des Erlebens realer Gefahren wie Trennungen oder Todesfällen bekommen diese Phantasien eine Bewältigungsfunktion. Sie treten auch an Stelle realer Gefahren und symbolisieren diese (Tyson & Tyson, 2009). So nähern sie sich neurotischen Ängsten an, die in der Adoleszenz, dem sich entwickelnden Erwachsenenalter (Staats & Taubner, 2015), dem Erwachsenenalter und dem Alter ihre individuellen und doch auch von biologischen und sozialen Faktoren stark beeinflussten Ausprägungen finden. Auf diese bei der Entwicklung einer Angststörung wichtigen entwicklungsbezogenen Auslöser und charakteristischen Bewältigungsformen kann hier nur verwiesen werden.

      Folgerungen für die Praxis: Angststörungen und kindliche Ängste

      Die geschilderten »kindlichen« Ängste und Verarbeitungsformen treten bei Angststörungen im späteren Lebensalter vielfach wieder auf (Benecke & Staats, 2017). Sie werden dann regressiv an Stelle einer Auseinandersetzung mit aktuellen ängstigenden Anforderungen mobilisiert und vertreten diese im bewussten Erleben. Die manifesten Inhalte der Angst vertreten dann Angst aufgrund unbewusster Konflikte oder aufgrund struktureller Einschränkungen (Band 1, Kap. 7.7). »Die neurotische Gefahr muss also erst gesucht werden« (Freud, 1926, S. 198).

      2.4 Latenz im Hinblick auf die kognitive Entwicklung

      Um das siebte Lebensjahr herum beginnen Kinder, etwas von der Leichtigkeit abzulegen, mit der sie Gefühle und Gedanken spontan äußern. Dafür treten Bemühungen, Triebe zu unterdrücken, und logisches sowie rationales Denken in den Vordergrund. Regeln, die unter anderem im gemeinsamen Spiel erworben werden, sind für das Kind in dieser Zeit von großer Bedeutung. Gruppennormen werden verinnerlicht und haben immer mehr Bestand. Mit dem Verständnis gemeinsamer sozialer und moralischer Regeln werden Dinge und Sichtweisen neu bewertet. Magisches Denken weicht der Objektivität und Realität. Es werden also verstärkt Primär- (Triebe, unbewusst) und Sekundärprozesse (logisches Denken, bewusst) voneinander abgegrenzt und operationales Denken beginnt. Kinder entwickeln ein Verständnis für Vergangenes und Zukünftiges und können sich selbst und ihre Gedanken reflektieren (Tulodziecki et al., 2004, S. 24). Ein reflektierendes Nachdenken über Handlungen verändert bestehende Sichtweisen. Welt und Umwelt werden mit dem Ziel eines Erkennens objektiver Sachverhalte erkundet. Kinder verlassen die Perspektive des Erlebens der Welt als weitgehend auf sich selbst bezogen – sie »dezentrieren«. Dennoch bleiben Primärprozesse in der Latenzzeit deutlich erkennbar bestehen, und auch egozentrische Sichtweisen haben weiterhin Bestand.

      »Ein Kind mag zwar in der Lage sein, im Rahmen eines Schulversuchs die unveränderliche Konstanz eines Gewichts oder Volumens zu erkennen, sich anderseits jedoch schnell betrogen fühlen, wenn das Stück Kuchen der Mutter vermeintlich größer ist als sein eigenes« (Tyson & Tyson, 2009, S. 193).

      Auch die Triebimpulse und das Bemühen um deren Regulation spielen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Dezentrierung und der Selbstreflexion. Zunächst verstehen Kinder noch nicht, dass und wie die Gefühle anderer ihre eigenen Gefühle beeinflussen. Es ist ein Entwicklungsfortschritt, sich mit den Augen anderer zu sehen. Stolz und Scham entwickeln sich zu eigenständigen Empfindungen. Sie sind in der Latenzzeit meist noch an die reale Präsenz anerkennender Personen gebunden und werden erst in der Adoleszenz unabhängiger von der Realpräsenz anderer. Ambivalente Gefühle werden ab dem 9. Lebensjahr bewusst erlebt und geschildert. Dies bereitet das sich und anderen »Fremd«-Werden der Präadoleszenz (image Kap. 3) vor. Hohe und lange andauernde Anspannungszustände erschweren die Entwicklung von Selbstreflexion (ausführlicher hierzu Tyson & Tyson, 2009, S. 190 ff. und Einschub ADHS).

      Familie und Gesellschaft stehen in einer konflikthaften Beziehung in Bezug auf die Sorge für und um Kinder. Freud hat diese Konflikthaftigkeit als etwas Grundsätzliches betont. Zugleich waren in seiner Zeit die Aufgaben, die Familie und Gesellschaft zugeordnet wurden, vergleichsweise klar abgegrenzt und in der Gesellschaft wenig hinterfragt. Über die – schulische – Bildung hinaus werden Kita und Schule dagegen heute Erziehungsaufgaben zugesprochen und abverlangt. Das Leben mit Gleichaltrigen hat dabei oft auch die Aufgabe, das Leben mit Geschwistern (image Kap. 2.5) zu ersetzen.

      Folgerungen für die Praxis: Aufwachsen in altershomogenen Gruppen und elterliches Verhalten

      Ein – zeitlich umfassendes – Aufwachsen in altershomogenen Gruppen bringt spezifische Schwierigkeiten mit sich und verschiebt Ansprüche und Machtverhältnisse in Konflikten zwischen Schule und Familie.


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