Kommunikations- und Mediengeschichte. Mike Meißner
selbst das Wort ergriff, sondern dass bestimmte Redner für größere Gruppen sprachen. Zudem verdeutlichte ihre räumliche Ausrichtung für die Zuhörer, für wen sie sprachen. Bei Eilers finden sich eine Reihe weiterer deutlicher Hinweise auf dieses Phänomen der Kommunikationsrepräsentanz, das weiter unten noch näher erläutert wird.
Während langer Zeiträume der Menschheitsgeschichte – in Europa bis weit ins Mittelalter, in Stammesgesellschaften noch bis ins 20. Jahrhundert hinein – erfolgte umfassender öffentlicher Austausch in ähnlicher Art und Weise. Meist waren an dieser Form der Kommunikation allerdings nicht sämtliche Mitglieder einer Gemeinschaft oder Gesellschaft beteiligt. Im antiken Athen z. B. verfügten nur die freien, männlichen Bürger über ein Rederecht bei der Volksversammlung, der sog. Ekklesia. Um 322 v. Chr. waren dies etwa 30.000 Männer, wobei durchschnittlich nur 5.000 bis 6.000 an den Versammlungen teilnahmen (vgl. WELWEI 1996: 31, 37). Ein solcher Austausch nahm erhebliche Zeit in Anspruch, sodass andere Teile der Gesellschaft gleichzeitig für den Erhalt der Lebensgrundlagen sorgen mussten – meist waren dies v. a. Frauen und Sklaven (vgl. SCHÖNHAGEN 2004: 137). Dies gilt auch für das antike Athen. Aber nicht nur in der Frühzeit der Menschheit und der Antike, sondern auch noch im Mittelalter wurde ein großer Teil des kommunikativen Austauschs mündlich abgewickelt, z. B. bei Dorf- oder Volks- und Gerichtsversammlungen, den sog. Ding- oder Thing-Versammlungen (vgl. RÖSENER 2000: 47). Hintergrund ist dabei auch die im mittelalterlichen Sozialleben »elementare dominante Erwartung […]: daß die betroffene Gemeinschaft an der Herstellung und Beurteilung dieser [politischen und rechtlichen; die Verf.] Ordnungen teilhaben konnte« (THUM 1980: 18). Somit besaß die »Dingversammlung […] eine starke Integrationskraft« (RÖSENER 2000: 51).
ABBILDUNG 1
Landsgemeinde in Glarus (2014)
In der Schweiz waren solche öffentlichen Versammlungen, die »Landsgemeinden« (siehe Abb. 1) oder auch Zendenversammlungen (Bezirksversammlungen im Wallis), noch im 17. und 18. Jahrhundert eine »funktionsfähige Form der Öffentlichkeit des Politischen« (WÜRGLER 1996: 33, Hervorh. d. Verf.; vgl. auch CARLEN 1973: 24; MÖCKLI 1987: 26-30).17 In einem Kanton, Glarus, sowie einem Halbkanton, Appenzell Innerrhoden, hat sich diese Tradition – selbstverständlich mit starken Veränderungen – bis heute erhalten: Einmal im Jahr18 versammeln sich alle Stimmfähigen, um »unter freiem Himmel über alle wichtigen politischen Geschäfte« zu beraten und zu entscheiden (BLUM/KÖHLER 2006: 285).19 Entschieden wird dabei etwa über Verfassungsänderungen, Gesetze, Kreditbeschlüsse sowie Verträge, in Glarus auch über den Steuersatz, wobei auch Vorlagen abgeändert werden können. »Die Versammlung als höchstes Organ existiert überdies in einigen schwyzerischen Bezirken, in der Mehrzahl der bündnerischen Kreise und in rund 2000 Gemeinden« der Schweiz (ebd.). Insbesondere in kleineren Gemeinden stellt die Gemeindeversammlung, bestehend aus allen stimmberechtigten Einwohner*innen, noch recht häufig das Legislativorgan dar, größere haben heute meist ein Gemeindeparlament (vgl. ebd.). Bei den beiden noch bestehenden Landsgemeinden finden allerdings »lebhafte verbale Kontroversen« zwischen den Bürger*innen, wie sie früher häufig der Fall waren (WÜRGLER 1996: 34), nur noch selten statt, werden doch die anstehenden Fragen vorher bereits ausführlich in den Massenmedien diskutiert (vgl. BLUM/KÖHLER 2006: 296f., 302). Dagegen enthielten die frühen Zeitungen, im 17. und auch noch 18. Jahrhundert, meist keine oder kaum lokale Berichte, sodass für die anstehenden Entscheidungen bei den Landsgemeinden noch großer Diskussionsbedarf bestand, »ja etliche strittige Probleme sind überhaupt erst durch Anträge aus dem Kreis der gemeinen Landleute thematisiert worden« (WÜRGLER 1996: 34). Außer in den erwähnten Landsgemeinden und Gemeindeversammlungen findet Versammlungskommunikation selbstverständlich, nicht nur in der Schweiz, auch heutzutage immer noch vielerorts statt, insbesondere im Rahmen kleinerer Teilöffentlichkeiten, so etwa in Parlamenten, Vereinsversammlungen etc. Sie dient aber meist nicht mehr dem gesamtgesellschaftlichen Austausch, der heute vorwiegend über die Massenmedien zustande kommt.
EXKURS I
Historischer Hintergrund I: Die Alte Eidgenossenschaft bis 1798
Der ›erste‹ Bund, der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis heute offiziell als Gründungsakt der Schweiz mit dem Nationalfeiertag am 1. August begangen wird, wurde 1291 zwischen Uri, Schwyz und Nidwalden geschlossen (vgl. REINHARDT 2010: 13-18),20 nach der Schlacht am Morgarten 1315 erneuert und um weitere Orte ergänzt.21 So kamen per Vertrag Obwalden (1315), Luzern (1332), Zürich (1351), Glarus (1352) und Bern (1353) hinzu, Zug wurde 1352 erobert. Diese Verträge bildeten zu Beginn, insbesondere für Zürich und Bern, nur »eine Option« bzw. »eine Vernetzung unter anderen«, denn sog. »Landfriedensbündnisse […] [waren] zeittypisch« (ebd.: 24-26). Dass der neue Bund von Dauerhaftigkeit geprägt war, hatte nach dem Freiburger Historiker Volker Reinhardt (ebd.: 28) mehrere Gründe: die stetige »Verdichtung der Bünde […] mit gemeinsamen innenpolitischen Zielrichtungen und […] Einrichtungen«; die »Eroberung abhängiger Gebiete, die […] gemeinsam zu verwalten« waren (sog. Gemeine Herrschaften); »eine Abstoßungsreaktion« gegen »neue zentrale Institutionen« innerhalb des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation am Ende des 15. Jahrhunderts (vgl. Historischer Hintergrund II);22 sowie die »Idee der Nation«, die durch die »Wortkriege […] der Humanisten […] in den Köpfen der Eliten« verankert wurde. Gelegentlich musste das Primat der »eidgenössischen Ausrichtung« (ebd.: 41) auch militärisch durchgesetzt werden, z. B. 1450 gegen Zürich (vgl. ebd.: 19-41).
Mit der Erweiterung der Eidgenossenschaft war ein kontinuierlicher Austausch und »ein Minimum gemeinsamer Beschlussfassung« (REINHARDT 2010: 42) notwendig geworden. Zu diesem Zweck kam seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zuerst einmal jährlich die sog. Tagsatzung (französisch: diète; italienisch: dieta) zusammen, die Versammlung der Abgesandten der Orte bzw. später Kantone. Diese wurde von zwei Vertretern je Ort besucht, die ein sog. ›imperatives Mandat‹ hatten, d. h., sie waren an vorher gefasste Beschlüsse zu den einzelnen Tagesordnungspunkten gebunden. Gleichzeitig setzte sich eine Mischform aus Einstimmigkeit, z. B. für eine Bundesrevision, und Majoritätsprinzip, etwa für Angelegenheiten, welche die gemeinsam verwalteten Gebiete und Schiedsgerichte betrafen, durch. Neben den Mitgliedern der Eidgenossenschaft konnten aber auch die zugewandten Orte teilnehmen, die formal keine Mitglieder, aber eng assoziiert waren, z. B. das Wallis oder die ›Drei Bünde‹ (das spätere Graubünden). Als ›Vorort‹ agierte zunächst Luzern, welches sich diese Rolle nach der Reformation mit Zürich teilte (vgl. ebd.: 42-45; WÜRGLER 2014: o. S.).
Ab den 1520er-Jahren erschütterte die Reformation die Eidgenossenschaft. Die von dem Zürcher Prediger Huldrych Zwingli angeführte Glaubenserneuerung wurde von den innerschweizerischen Orten (Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern und Zug) bekämpft, von Bern, Basel und Schaffhausen aber befürwortet. Dies führte 1529 zu einem Bündnis der katholischen Orte mit Österreich und kriegerischen Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Ausgängen. Als eines der langfristigen Ergebnisse kann wohl die Landteilung von Appenzell Innerrhoden (katholisch) und Außerrhoden (reformiert) gelten, die sich bis heute in den beiden Halbkantonen manifestiert. Wie breit die Gräben waren, zeigt sich etwa an der Tagsatzung, die »seit zweihundert Jahren das Forum des eidgenössischen Gedankenaustauschs schlechthin« (REINHARDT 2010: 82) gewesen war und »in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Symptome der Entfremdung« zeigte (ebd.: 82).
Für die sog. »Spätzeit der Alten Eidgenossenschaft« (1713-1797) spricht Reinhardt (ebd.: 98) von einem »Spannungsverhältnis von Stabilität im Großen und vielfältigen Konflikten im Kleinen«. Stabilisierend wirkten insbesondere die Erhaltung der traditionell sehr kleinräumigen Selbstverwaltung sowie die enge Verflechtung der »Interessen der städtischen Eliten mit denen der dörflichen Oberschichten« (ebd.: 99). Neben Konflikten über die Frage der Vorherrschaft geistlicher oder weltlicher Gerichtsbarkeit gelangten zudem die neuen Ideen der Aufklärung in die Köpfe der führenden Politiker – nicht zuletzt in Form der amerikanischen