Theologie der Caritas. Группа авторов
Lebenskunst agieren wir in einer höheren Lebenswirklichkeit, als es die der Lebenserhaltung und –bewältigung ist. Lebenskünstlerisch gelingt es, ohne darum selbstherrlich zu werden, uns auf der Ebene zu wissen, die das Humanum in Aussicht stellt. Der vorgegebenen Thematik des Vortrags kann ich nur gerecht werden, wenn ich von der selbstlosen Rede „Ich bin bloß ein Mensch“ zur selbsthaften wechsle: „Ich bin sogar ein Mensch“. Läßt Jahwe, wie beim Propheten Hosea zu lesen, gegenüber dem Volk Israel, seinem hurerischen Weib, Gnade vor Recht ergehen – hier paaren sich unerforschliche Gerechtigkeit und unerforschliche Liebe –, dann lautet die Begründung des erstaunlichen Tuns: „deswegen bin ich Gott und nicht Mensch“ (dihoti theos egô eimi kai ouk anthrôpos).23 Das vom Wechsel von feurigem Zorn zu barmherziger Liebe überraschte Volk ist der auf Distanz gehaltene Mensch. Gehört nun zum Menschen Selbstsein, dann hat er auch das Recht zu sagen: „deswegen bin ich Mensch und weder Halbgott noch Gott“, ohne damit die Möglichkeit jüdischer und christlicher Religiosität zu verneinen. Doch dazu später ein Wort.
Der erste schöpferische Akt des Lebenskünstlers besteht darin, sich selbst und das eigene Leben ernst zu nehmen. Damit verwandelt sich alles, was als Banalität des Lebens, seines Auslebens und seiner Bewältigung vorgegeben sein mag. Der Ernst nimmt dem Leben nicht die Freude, im Gegenteil. Jetzt erst, auf der Ebene der Lebenskunst, erhält es in allen seinen Zügen einen sonst unbekannten Glanz. Es hat seine Zufälligkeit verloren. Ich bin mir selbst wichtig geworden und mit mir die Anderen. Wer sagen kann „Ich bin mir selbst notwendig und mit mir mein Leben“, wer damit schon mitsagt, „Mir sind die Anderen und ihr Leben notwendig“, der hat sich von jedem Fatalismus befreit, vom Gefühl der Belanglosigkeit von allen und jedem. Das Leben ist jetzt ein gesteigertes, und dies in allem Tun und Empfinden, Erfahren und Ergehen. Wer die Querelen kennt, den Gedanken zu rechtfertigen, dass Gott ein Ens necessarium ist, der ahnt, was es bedeutet, sich als lebenskünstlerisch Agierender notwendig zu wissen. Auf neue Art ist Leben das kostbare Gut geworden, das ja nicht zu verschleudern, sondern fruchtbar zu machen ist. Der Lebenskünstler, von dem ich rede, fragt nicht, was er vom Leben haben, wie er in ihm auf seine Kosten kommen, sondern, was er ihm geben kann. Mit dieser Frage ist er auf dem Weg des menschlichen Gelingens angelangt, den die leibhaftige und gesellige Lebendigkeit als den der Lebensteilung vorzeichnet. Wer sein Leben ernst nimmt, nimmt das des Anderen unmöglich weniger ernst. Wer sich selbst nötig geworden ist, dem sind es auch die Anderen, mit denen das Leben zu teilen ist. Das Ich und das Du, das Mein und das Dein verschränken sich; sie bedingen einander. Das Teilen beginnt mit so Einfachem wie dem Teilen von Sichten. Für Aristoteles gehört zum aistanesthai notwendig das synaisthanesthai.24 Was für eine belebende Freude ist es, den Blick auf Natur und Kunst zu teilen! Die gewohnte Alltäglichkeit des Sehens ist überhöht. Sichten zu teilen ist eine der großen und bedeutenden Spielarten der Lebenskunst, die sich nicht weniger im Teilen von Tisch und Bett, von Sichsorgen und Verantwortung Tragen bewährt.
III.
Der Mensch, der sogar ein Mensch ist, ist sich ein Rätsel. Die alte Menschenfrage „Woher und wohin, warum und wozu?“ kann auch er nicht beantworten, ja er lebt davon, sie nicht beantworten zu können. Das Leben mit seinem Geborenwerden, Aufwachsen, Lieben, Leben Weitergeben, Altern und Sterben – das stellt dem Menschen immer neu die Frage nach sich selbst. Besonders seine Endlichkeit erweist sich als Schatzbewahrer des Nichtwissens. Der Mensch braucht sein Geheimnis: Es gibt ihm die Chance, die Unbeantwortbarkeit der Frage, die er sich selbst ist, zu gestalten. Das ist die Stunde der Poesie, nicht zuletzt der religiösen, die dem Menschen Glaubenstatsachen und -wahrheiten vor Augen stellt, voll von Sinngebung und Befeuerung des Gemüts. Damit ist die Möglichkeit gegeben, selbsthaft Religiosität auszutragen, und zwar in dem Bewusstsein, ein Mensch zu sein und zu bleiben, ein Mensch, der sich nicht auf sich selbst als Einzelner entwirft, sondern als leibhaft Lebendiger sich in Lebensteilung mit Anderen übt.
Erste Züge des Humanum zeichnen sich ab. Es ist ein Werk menschlichen Künstlertums, verdankt sich also der Fähigkeit des Menschen, sich seines Lebens so anzunehmen, dass er es steigert und ihm eine Wirklichkeit verleiht, die um einen Himmel über der liegt, die selbsternannte Ratgeber suggerieren, wenn sie uns erzählen, wie wir als Einzelne am meisten vom Leben haben können. Das Glück in sich und bei sich selbst zu suchen – im eigenen Leib oder in der eigenen Seele -, das ist der Weg ins Selbstische, das selbsthaftes Gelingen gefährdet, ja unmöglich macht. Seit Adam Smith25 ertönt dieser Ruf: „Sei selbstisch, wenn du auf der Gewinnerseite sein willst!“ Es ist die Freiheit des Liberalismus, die sich darin als gegeben und gewährleistet versteht, dass der Einzelne seine, und nur seine Interessen verfolgen kann. Wer nichts als sie im Sinn habe, sei durch eine „unsichtbare Hand“ geführt, die aus praktischer Blindheit für Andere das Gemeinwohl entspringen lasse.26 Die Maxime „Sei selbstisch!“ ist in der Verfassung der USA in die Form „Pursuit of Happiness“ gebracht, selfishness, der Tod des Humanum, als garantiertes Verfassungsrecht. Dieses Verfassungswort gibt dem Vitalismus recht und verbrieft als bürgerliches Grundrecht das Recht des Stärkeren. Findet Wissenschaft für menschliches Selbst das Wort Fluidum, dann passt dies Bild auch für das Humanum: Es ist nichts, das jemals zu etwas Festem und Bleibenden gerinnt. Ständig ist es in Entwicklung begriffen. Das ist für die grundständige Ungerechtigkeit unter Menschen bedeutsam, für diese Ungleichheit als Ausgangslage des Lebens und Handelns. Der Kampf für den Ausgleich ist jeden Tag neu zu führen. Es ist der Kampf gegen die Pervertierung des Selbsthaften ins Selbstische, der Kampf gegen das unbehinderte Recht des Stärkeren.
Unter den geschichtlich gewachsenen Ungleichheiten ist die von Arm und Reich von einsamer Dominanz. „Denn Arme habt ihr allezeit (pantote) bei euch“27 – das ist kein einfacher Sachverhalt. Schon Aristoteles spricht von zu Armen und zu Reichen.28 Diese Auswüchse sind nicht hinnehmbar. Zu Reiche ruinieren die politische Gemeinschaft. Das Zulassen, ja systemische Hervorbringen verwahrloster Armut unterbindet die Möglichkeit, dass Arm und Reich das Leben gelingend miteinander teilen. Beider Zu-sehr ist politisch unmöglich zu machen. Bestrebungen jedoch, alle gleich arm bzw. gleich reich zu machen, verfolgen schlechte Utopien. Nun kommt ein gewagter neuer Gedanke: Die Ungleichheit von Arm und Reich, soweit kein Zu-sehr vorliegt, bleibt erhalten, aber das Unrecht, das grundständig in ihr mitgegeben ist, wird aufgehoben und in einen Rechtszustand umgewandelt.
Das Verhältnis von Arm und Reich, in dem, zumindest latent, das ungerechte Recht des Stärkeren herrscht, kann, so mein Gedanke, allein dadurch den Rechtsstatus erlangen, dass beide Seiten aufeinander zugehen, um sich gegenseitig als die anzuerkennen, die sie sind. Gibt es erst einmal im gegenseitigen Einverständnis das Recht, arm zu sein, und das Recht, reich zu sein, so dass Arme und Reiche füreinander gleicherweise im Recht sind, dann ist, bei bleibender Ungleichheit, doch eine Balance hergestellt. Kommt es jetzt zur Konfrontation, wenn Einer beim Anderen etwas erreichen will, dann ist das kein feindlicher, sondern ein guter Streit, eine eris agathê, wie Hesiod sagt. Das verändert auch die Verhältnisse von Helfenden und Hilflosen, Starken und Schwachen. Sie sind, pränormativ, Rechtsverhältnisse geworden. Um ein prägnantes Beispiel zu geben: Der Demente hat ein Recht auf Demenz, was besagt, dass mit dem Recht auf Fürsorge auch eine pränormative Pflicht übernommen wird. Nachdem Demenz durch ihre Häufigkeit zur Lebensform geworden ist, bedarf es keines Mitleids gegenüber den Dementen, um hilfreich für sie tätig zu werden. In dem Recht auf Demenz ist auch das Recht eingeschlossen, nächste Angehörige nicht mehr zu erkennen. Mit der Gewinnung des Rechtszustandes ist eine Entmystifizierung verbunden. Wer jetzt noch von Schicksal spricht, von unverdientem oder verdientem, ja gar von Strafe, muss das selber verantworten – als Poet.
Nun habe ich zum Recht der Armen und Schwachen, arm und schwach, und zum Recht der Reichen und Starken, reich und stark zu sein, noch eine theologische Frage: Ist das Gnade-vor-Recht-ergehen-Lassen, wie es in Hosea und im Römerbrief vorgeführt wird, ein Vorrecht und also Recht Gottes, oder etwas Außerrechtliches, was nach Belieben und Willkür schmeckte? Auch Menschen haben ja die Gelegenheit, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Die Anrede „Gnädigste“ ist veraltet, aber Herrscher haben, angemaßt oder verfassungsgemäß, das Recht der Begnadigung. Was ist es wohl, was dann bei ihnen die Entscheidung herbeiführt: Kalkül, Mitleid, Vorurteil? Meine Frau und ich haben schon früh bei Gottfried Benn die letzten Zeilen des späten Gedichts „Menschen getroffen“