Spirituelle Sterbebegleitung. Rüdiger Maschwitz

Spirituelle Sterbebegleitung - Rüdiger Maschwitz


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diese Weise gelangte der junge Arzt bald zu höchstem Ruhm. Er konnte alle Kranken heilen, von denen er sprach, dass sie gesund werden würden.

      Eines Tages wurde die Tochter des Königs schwer krank. Der König, der von dem großen Ruf des jungen Arztes gehört hatte, ließ ihn herbeiholen. Er sprach zu ihm: »Wenn es dir gelingt, meine Tochter zu heilen, so sollst du sie zur Frau bekommen.«

      Der junge Arzt wurde in das Gemach der Königstochter geführt. Als er an ihrem Krankenbett stand, war er ergriffen von ihrer großen Schönheit und gewann sie sogleich lieb. Aber er sah, dass die Herrin des Todes zu Häupten der schönen Prinzessin stand. Da wusste er sich keinen Rat. Lange dachte er nach, wie da zu helfen wäre. Endlich kam ihm der rettende Gedanke: Er ließ vier starke Männer kommen, und diese mussten das Bett mit der Prinzessin drehen, sodass die Herrin des Todes nun zu den Füßen stand.

      So kam es, dass die Königstochter wieder zu Kräften kam und gesund wurde. Wie er es versprochen hatte, gab der König seine Tochter dem jungen Arzt zur Frau. Noch dazu überhäufte er ihn mit Schätzen. Das Paar lebte sehr glücklich.

      Die Herrin des Todes aber, die getäuscht worden war, ließ ihren Patensohn zu sich rufen und nahm ihn mit in ihr unterirdisches Gewölbe. Dort, in jenem Gewölbe befinden sich die Lebenslichter aller Menschen. Der junge Arzt sah all die brennenden Kerzen. Die Herrin des Todes sprach: »Ich verzeih dir, denn es war die Liebe, die dich bewog, mich zu überlisten. Aber wenn du es noch einmal wagst, so werde ich dich wieder in mein Reich unter der Erde mitnehmen, dieses Mal aber wirst du dann sterben.«

      Lange Jahre lebte der Arzt glücklich an der Seite der schönen Königstochter. Eines Tages aber wurde der König schwer krank. Er ließ seinen Schwiegersohn, den Arzt, kommen. Dieser sah, dass die Herrin des Todes am Kopfende des Lagers stand. Weil er aber seinen Schwiegervater retten wollte, achtete er die Worte seiner Patin nicht und ließ das Bett in gleicher Weise drehen, wie er es einst bei seiner Frau getan hatte. Da genas der König und gab dem Arzt die höchsten Ehren.

      Die Herrin des Todes aber holte ihren Patensohn noch am selben Tage ab und führte ihn in ihr unterirdisches Reich. Sie sprach zu ihm: »Du hast dein Versprechen nicht gehalten und hast meine Güte missbraucht. Siehst du die Kerze, die fast abgebrannt ist? Dies ist dein Lebenslicht.«

      Im selben Augenblick flackerte die Kerze ein letztes Mal auf und erlosch. Da musste der Arzt sterben. Wenn er auch reich und mächtig war, wenn er auch der Patensohn der Herrin des Todes war, so half ihm das doch alles nichts. Und so nimmt die Herrin des Todes alle Menschen zu sich, bis auf den heutigen Tag.

       Übersetzt von Sigrid Früh

      Bei diesem Märchen gibt es einige Veränderungen gegenüber der Version der Brüder Grimm. Die wichtigste wird schon in der Überschrift deutlich: Der Tod ist eine Frau. Dies nimmt dem Tod den Aspekt der männlichen Macht. Die Frau strahlt mütterliche Geborgenheit aus, aber auch sie verändert die letzten Spielregeln des Lebens nicht. Der Tod kommt. Für unseren Zusammenhang verdeutlicht das Märchen vier Aspekte:

      image Wer den Tod anschaut, wird leben

      Das Patenkind erkennt genau, wer sterben muss und wer leben kann. Steht der Tod am Fußende des Bettes, und der Patient sieht ihn an, wird der Kranke leben. Wer den Tod nicht anschaut (der Tod steht schon hinter dem Menschen – welch Doppelsinnigkeit), wird sterben. Das Hinschauen des Menschen, das Betrachten des Todes verhilft zum Leben. Dieses Märchen enthält also die Einladung, im Leben dem Tod gegenüberzutreten. Wir leben oft so, als ob der Tod nicht existiere. Er wird verdrängt oder aus dem Leben ausgeklammert. In Wirklichkeit steht er – wie im Märchen – schon lange bei uns.

      image Wer liebt, kann die Bedingungen (manchmal) verändern

      Das Patenkind dreht bei seiner großen Liebe das Bett um. Der Tod kann nun angeschaut werden. Auch hier ist spannend, dass der Mensch gesund wird und leben kann, wenn er dem Tod ins Gesicht sieht. Die Sterbebegleitung, die das Patenkind der Herrin des Todes (also der Arzt) übernimmt, konfrontiert den geliebten Menschen mit dem Tod, und dies wirkt sich heilsam aus. Wenn wir diese Situation einmal übertragen, bedeutet dies, dass wir auch geliebten Menschen das Wissen über Sterben und Tod zumuten dürfen und sollen. Die Liebe vertraut, hofft und verändert.

      image Der Begleitende lernt, den Tod wahrzunehmen

      Was in diesem Märchen geschieht, erachten wir vielleicht als selbstverständlich. Das Patenkind, sprich der Arzt, muss den Menschen anschauen und den Tod wahrnehmen. Beides will gelernt und gewagt werden. In unserem Alltag ist dies keine durchgehende, allerdings eine mögliche Praxis. Mir ist es oft so gegangen, dass ich den Tod im Zimmer antraf. Dies war kein Sehen des Todes am Bett, sondern ein Wahrnehmen des Todes in Raum und Zeit, sprich im Gesicht des Menschen oder in der entsprechenden Atmosphäre im Raum. Viele Ärzte, viele Krankenschwestern, viele Begleiterinnen im Hospiz können von ähnlichen Erfahrungen berichten. Der Tod hat seine eigene Atmosphäre. Als meine Mutter starb, wies uns eine vertraute Schwester mit ihrer Kompetenz und ihrer Erfahrung auf den nahen Tod hin. Und sie hatte Recht. Uns half dies im Abschied.

      image Kein Mensch kann dem Tod entkommen

      Der Tod lässt sich nicht austricksen. Weder mit Geld für die beste medizinische Behandlung noch mit Frömmigkeit, die alles tut was Gott vermeintlich will, noch mit der Verpflichtung gegenüber anderen Menschen. Der Patensohn fühlte sich vielleicht dem König verpflichtet, vielleicht war er ihm auch innerlich sehr verbunden und dankbar. Er wollte ihn vor dem Tod bewahren, er wollte ihn nicht gehen lassen und konnte ihn nicht freigegeben. Vielleicht wollte er auch seiner Frau einen Gefallen tun. Wer weiß? Aber der Tod kommt, unweigerlich, und erreicht jeden.

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       Sterben ist einmalig

      Es gibt zwei Fragen, die zum Sterben immer wieder gestellt werden: Wie ist das Sterben? Wie wird mein Sterben sein? Die beiden Fragen sind ähnlich und werden von Menschen jeden Alters gestellt. Natürlich spitzen sich diese beiden Fragen in einer akuten Situation zu. Doch es gibt dazu nur eine Antwort: Sterben ist einmalig, ganz im Sinne des Wortes. Jeder Mensch stirbt einmal. Darüber hinaus ist jedes Sterben eines Menschen in seiner Art und Weise einmalig. Jedes Sterben ist einzigartig. Manchmal ähnelt sich etwas, im Grunde genommen lässt sich aber keine Art und Weise des Sterbens vorhersagen. Ich habe Menschen erlebt, da dachte ich, sie sterben in Frieden und völliger Gelassenheit, und dann war es ein schweres Sterben voller Kampf und Festhalten. Bei anderen Menschen erwartete ich eher diesen Kampf, und sie starben in Frieden und tiefer Stille.

      Diese Erfahrung »Sterben ist einmalig und höchst individuell« gilt ganz unabhängig vom Glauben und vom Vertrauen zu Gott; sie gilt unabhängig von einer langen Meditationspraxis, und erst recht ist sie unabhängig von jedem Alter.

      Dabei ist es wichtig, das eigentliche Sterben von den Sterbemöglichkeiten, die es im Leben immer wieder geben kann, zu unterscheiden. So können schwere Verletzungen durch Unfälle, Krankheiten wie Herzinfarkte, schwere Lungenentzündungen, Folgen von Thrombosen und Ähnliches mehr an den Rand des Todes führen. Dank der Fortschritte in der Medizin, aber auch aufgrund der inneren Kraft des vom Tode Bedrohten kann sich dies aber auch noch einmal wenden und der Mensch ins Leben zurückfinden.

      So haben wir es erfahren, als meine Mutter nach einem Unfall im Sterben lag ( Seite 46 ff.). Als wir bei ihr im Krankenhaus waren, rüttelte eine der Enkelinnen ganz erschüttert und heftig an ihrem Bett und rief: »Du darfst noch nicht sterben,


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