Puzzeln mit Ananas. Pascale Gmür

Puzzeln mit Ananas - Pascale Gmür


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Meyer ist Mutter von fünf nun erwachsenen Kindern und bewirtschaftete bis vor Kurzem mit ihrem Mann einen Bauernhof mit zwanzig Milchkühen und Kälbern, welche sie für die Aufzucht behielten. Den Hof führt heute ein Neffe weiter. Ruth Meyer lebt mit ihrem Mann und drei Kindern, die noch in Ausbildung sind, im Stöckli oberhalb des Hofs. «Nun bin ich Bienenfrau.» Sie imkert und hat eine Hühnerschar, ihr Mann hilft auf dem Hof aus. Als Mutter und Bäuerin gehörte es dazu, sich mit Unerwartetem anzufreunden und den Lebensstufen zu folgen – wie sie es schon von ihrem Beruf her kannte, den sie jung gewählt und an der Schule für Gemeindekrankenpflege in Sarnen erlernt hatte. «Die ambulante Pflege hat mich stärker begeistert als die stationäre. Weshalb, weiss ich eigentlich nicht, ich habe oft aus dem Bauch heraus entschieden.» Schule und Praktika auf verschiedenen medizinischen Gebieten wechselten sich ab, 1986 kam Ruth Meyer nach Balsthal als Praktikantin für Gemeindekrankenpflege, die damals der katholischen Kirche unterstellt war.

      Nach der Diplomierung folgte das Pflichtjahr als Angestellte einer Gemeinde. Ruth Meyer wählte Wildhaus im Obertoggenburg und wusste wohl nicht, was auf sie zukommen würde, als einzige Krankenschwester für das weite Gebiet zwischen Säntis und Churfirsten. Sie arbeitete von zu Hause, holte das Pflegematerial bei den Landärzten, fuhr mit dem Auto und bei Schnee auf Skiern zu abgelegenen Häusern und Höfen. «Ich musste zu jeder Tages- und Nachtzeit los, vor allem wenn Menschen daheim starben, oder bei schweren Lawinen- oder Pistenunfällen. Dann musste ich beim Bergen helfen, und falls es Tote gab, sie für die Gerichtsmediziner vorbereiten. Wenn Menschen zu Hause verstorben waren, wurden sie jeweils von der Gemeindeschwester angekleidet – auch jene, die zuvor keine Pflege erhalten hatten. «Wir hatten das in der Schule gelernt. Heute tun wir es nur, wenn wir jemanden vorher gepflegt haben. Ansonsten sind jetzt die Bestattungsbeamten zuständig.»

      Damals in Wildhaus war Ruth Meyer erst 21 Jahre alt. Wie kam sie damit zurecht, unbekannte, tote Menschen zu berühren? «Das Lebensende hat für mich schon immer auf positive Weise dazugehört.» Sie wuchs in einem Mehrgenerationenhaus auf, in einem kleinen Thurgauer Dorf. Die Grosseltern starben daheim, die Grossmutter war lange krank gewesen. «Früher sagte man bettlägerig. Sie wurde während Jahren von uns, vorwiegend von meiner Mutter, gepflegt. Ich hatte nie das Gefühl gehabt, es sei eine Belastung für sie. Vielleicht entschied ich mich deshalb für den Pflegeberuf.»

      Wenn Ruth Meyer ihre Arbeit von vor dreissig Jahren mit heute vergleicht, stellt sie fest, dass die Leute damals weniger früh Pflege erhielten. «Und wenn sie Hilfe brauchten, waren sie ganz einfach dankbar, dass wir kamen, selbst wenn ich in Wildhaus oft erst am Nachmittag die Zeit fand, eine abseits wohnende Frau zu besuchen, um sie zu waschen. Das ist heute ganz anders. Besonders Leute, die nicht täglich die Spitex brauchen, äussern ihre Ansprüche. Ein Paradebeispiel: Sie wollen exakt um Viertel nach sieben geduscht werden, weil sie den Tag verplant haben, und begreifen nicht, dass wir frühmorgens zu jenen gehen, die ohne uns nicht aufstehen können.» Auch viele Diabetikerinnen und Diabetiker, die nicht selbstständig Insulin spritzen können, erwarten die Spitex: Sie dürfen erst frühstücken, nachdem die Pflegenden den Blutzucker gemessen und das korrekt dosierte Insulin verabreicht haben.

      Frau Tobler sitzt inzwischen mit der Tochter beim Frühstück, und die Pflegefachfrau ist im nächsten Dorf angelangt, wo sie bei Frau Baumgartner klingelt. Deren Betreuerin öffnet und bittet sie, eine Viertelstunde zu warten, bis die Klientin fertig geduscht sei. Ruth Meyer bleibt freundlich und beschliesst, nachher direkt mit Frau Baumgartner über das verabredete Zeitfenster zu sprechen. Die sechzigjährige Geschäftsfrau erhielt vor einigen Monaten eine Krebsdiagnose, hat mehrere Spitalaufenthalte hinter sich, wird vom Onkologen und vom Übergangsteam der Spitex eng begleitet, möchte weiterhin im eigenen Haus bleiben, kann aber nicht mehr allein leben. An manchen Tagen fühlt sie sich beim Gehen selbst mit dem Rollator unsicher. Um in dieser veränderten Situation eine gute Lösung zu finden, organisierte Ruth Meyer ein Familiengespräch mit der Klientin und ihren beiden fürsorglichen Söhnen. Die Spitex-Einsätze und die Besuche der Söhne liessen sich intensivieren, doch es genügte nicht: Falls Frau Baumgartner stürzen sollte, wäre in diesem Moment wahrscheinlich niemand bei ihr. Die Söhne wandten sich an eine Vermittlungsstelle für Care-Migrantinnen, da Frau Baumgartner eine offene, kommunikative Persönlichkeit ist und über gute finanzielle sowie räumliche Voraussetzungen verfügt, damit jemand rund um die Uhr für sie da sein kann. Kürzlich traf die jetzige Betreuerin aus Kroatien ein.

      Die Spitex kommt zurzeit zwei Mal wöchentlich für die vereinbarten Aufträge. «Was dazwischen geschieht, zählt zur Autonomie der Klientin», sagt Ruth Meyer. Beim heutigen Besuch misst sie den Blutdruck, bereitet die Medikamente für die nächste Woche vor und versorgt zwei offene Wunden, die bei Stolperstürzen entstanden sind. Frau Baumgartner sitzt seitlich am Küchentisch, mit dem rechten Bein auf dem Sitzbrett des Rollators.

      «So müssen Sie sich nicht bücken, Frau Meyer. Haben Sie gesehen, es blutet!»

      «Das ist gut, Frau Baumgartner. Damit das Wundsekret herauskommt, feuchte ich nochmals die Gaze an.» Dann massiert sie mit drei Fingern das Gewebe rund um die Verletzungen herum.

      «Wie geht es Ihnen mit den neuen Tabletten?»

      «Ich spüre gar keine Nebenwirkungen.»

      «Da bin ich erleichtert. Ich dachte, hoffentlich meinen Sie nicht, es aushalten zu müssen, falls Ihnen übel wird. Dagegen hätten Sie ja Medikamente.»

      «Die brauchte ich nicht.»

      Aus dem antiken Bauernschrank holt Ruth Meyer die Plastikkiste mit den Medikamenten und stellt sie auf den Tisch. Auf ihren Schoss legt sie das Tablet, nimmt aus der ersten Schachtel eine Blisterreihe, vergleicht mit der Liste im Pflegedossier, öffnet eine Schachtel nach der anderen und ordnet die weissen, gelben, rosa, grün-weissen Pillen und Kapseln in die kleinen Fächer für morgens, mittags, abends, nachts. Es darf kein Fehler passieren. Frau Baumgartner weiss Bescheid, wofür sie welches Medikament nimmt, aber es sind zu viele und zu viele ähnlich aussehende, um sie selbst zu sortieren. Ruth Meyer nennt jedes einzelne mit seiner Dosierung und Wirkung, dazwischen beantwortet sie eine Frage der Klientin zum Antidepressivum, ohne die Konzentration zu verlieren. Nachdem sie das Dosett gefüllt hat, kontrolliert sie ruhig noch einmal jedes Fach, bevor sie die Tagesschieber schliesst. Wäre Frau Baumgartner weniger gut informiert, oder könnte sie die Medikation nicht nachvollziehen, würde am Nachmittag eine zweite diplomierte Pflegefachfrau kommen, um die von Ruth Meyer gerichtete Medikamentenbox nochmals zu kontrollieren. Die grosse Verantwortung und die Sorgfalt im Umgang mit Medikamenten erfordern mehrere Sicherheitsstufen. So dürfen Fachpersonen Gesundheit die Dispenser zwar vorbereiten, aber überprüft werden sie in jedem Fall durch diplomierte Fachpersonen.

      Ruth Meyer ist immer in der häuslichen Pflege tätig gewesen, mit einer entscheidenden Ausnahme: Als junge Frau arbeitete sie als Freiwillige während sechs Monaten mit Mutter Teresa im Sterbehaus von Kalkutta. «Fünfzig Frauen und fünfzig Männer lagen auf Pritschen in zwei Räumen. Gesehen habe ich strube Dinge, hervorgegangen aus der Armut und dem indischen Kastensystem, was mich stärker belastete als die Pflege der Sterbenden.» Sie machte wertvolle Lebenserfahrungen: Weil es in ihrer Natur liegt, vorauszudenken, sorgte sie sich abends schon für den nächsten Tag, wenn das Essen auszugehen drohte. «Doch täglich trafen von irgendwoher Spenden ein, auch für Medikamente und Verbandsmaterial. Das war sehr besonders, und mit der Zeit lernte ich, darauf zu vertrauen.» Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz plante Ruth Meyer, bei der Gemeindekrankenpflege in Balsthal zu bleiben, bis sie das nötige Geld hätte, um nach Afrika zu reisen. Als Kind war sie fasziniert gewesen von Albert Schweitzer und seinem Spital in Lambaréné, nun wollte sie ihren eigenen Weg zur Unterstützung von afrikanischen Menschen finden. Der Zufall wollte es anders: Ruth Meyer lernte in Balsthal ihren zukünftigen Ehemann kennen, wurde fünffache Mutter und Bäuerin.

      Als die Kinder grösser waren, stieg Ruth Meyer wieder in die ambulante Pflege ein, nun war es die öffentliche Spitex, nicht mehr die katholische Krankenpflege. «Es ist gut, dass ich immer dabeigeblieben bin, abgesehen von der Familienpause, und alle Entwicklungen der Spitex miterlebt habe. Aber


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