Fall Jeanmaire, Fall Schweiz. Jürg Schoch

Fall Jeanmaire, Fall Schweiz - Jürg Schoch


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      Dieses Buch ist nach den neuen Rechtschreiberegeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckige Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.

      Gestaltung: Christine Hirzel, hier + jetzt

       Bildverarbeitung: Humm dtp, Matzingen

      © 2006 hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Baden

       www.hierundjetzt.ch eBook-ISBN 978-3-03919-700-2

      eBook-Herstellung und Auslieferung:

      Brockhaus Commission, Kornwestheim

       www.brocom.de

      Inhalt

       I. Abtreten – Der Schritt in den Ruhestand

       II. Mur and Mary

       III. Die Überwachung

       IV. Die Verhaftung

       V. Die Verhöre

       VI. Der Schritt in die Öffentlichkeit

       VII. Sehstörungen der Bupo

       VIII. Irrungen und Wirrungen im Nachrichtendienst

       IX. Auf dünnem Eis

       X. Störung der KSZE-Kreise

       XI. Das politische Tribunal

       XII. Der geheime Schauprozess

       XIII. Im Gefängnis

       XIV. Täter und Opfer

       Anmerkungen

       Quellen- und Literaturverzeichnis

       Zeittabelle

       Abkürzungen

       Anmerkung und Dank

       Personenregister

      Der Tag sollte lang, aber interessant werden. Kurz nach 9 Uhr bestiegen die Korpskommandanten, Divisionäre und Brigadiers vor der Berner Guisan-Kaserne die Cars. Die Fahrt ging nach Thun, wo orientiert wurde: über den Stand der Evaluation von Flab-Lenkwaffen, der Panzerabwehr-Lenkwaffe BB 77 DRAGON, über die Entwicklung der Hohlpanzerrakete 74 und das Raketenrohr 75. Danach setzten sich die Herren erneut in die Cars und fuhren zum Zielhang; dort demonstrierten tiefere Grade, wozu die Panzerrakete 74 im Feld tauglich war. Zurück in Bern, nahm man in der Guisan-Kaserne das Mittagessen ein, begab sich nach dem Kaffee in den Vortragsraum und folgte weiteren Referaten. Den Abschluss bildete, krönender Kontrapunkt zu den militärischen Fachmonologen, ein Referat über das Verhältnis zwischen Armee und Medien, das der Chefredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung», Fred Luchsinger, zum Besten gab. Abends, es war schon dunkel, verschob sich die Generalität nach Grosshöchstetten in den Gasthof Sternen, wo zehn Tische und eine dienstbeflissene Servierequipe bereitstanden.

      Es handelte sich um die traditionelle Jahreskonferenz der Heereseinheitskommandanten und Chefs der Dienstabteilungen des Eidgenössischen Militärdepartements. Für Brigadier Jean-Louis Jeanmaire, den Chef der Luftschutztruppen, war es das letzte Mal, dass er in diesem erlauchten Kreis sass. Man schrieb den 25. November 1975, Jeanmaire hatte seinen 65. Geburtstag bereits hinter sich, zum Jahresende sollte er in den Ruhestand treten. Vielleicht war dies der Grund, weshalb er an den Tisch Bundesrat Rudolf Gnägis, des EMD-Chefs, zu sitzen kam. An den Ehrentisch also.

      Zeit seines Lebens war Jeanmaire mit Leib und Seele Soldat gewesen. An der ETH Zürich hatte der Bieler zwar ein Architekturstudium absolviert und anschliessend in Südfrankreich eine paar Monate in seinem Beruf gearbeitet. Aber es war die Welt der Waffen und Uniformen, der Disziplin, des Gehorsams und Taktschritts, die ihn faszinierte. Seine Vorbilder sah er nicht in Koryphäen der Architektur, sondern in strammen Offizieren. Allen voran in seinem Vater, dem Kavallerieobersten und Platzkommandanten von Biel. Als Schüler schon hatte sich Jean-Louis wiederholt vom Unterricht abgesetzt und in die Zuschauerreihen geschlichen, die die Strasse mit defilierenden Truppen säumten. Oder war in jene Geländekammern geradelt, in denen Krieg simuliert wurde.

      So stand von allem Anfang an fest, dass der junge Mann, der 1931 die Infanteriere-Rekrutenschule absolviert hatte, nach Höherem strebte. Als er ein Jahr später, frisch brevetiert und herausgeputzt in seiner Leutnantsuniform, vor seine Mutter trat, zog er die Pistole, gab drei Schuss ab und erklärte: «Jetzt bin ich Offizier.»1

      Doch bald schon spürte er, dass eine Milizlaufbahn sein Bedürfnis nach soldatischem Sein kaum würde befriedigen können. Immer deutlicher machte sich das Verlangen bemerkbar, Soldat und nur Soldat zu sein und seine jugendlichen Energien ganz in den Dienst der Armee zu stellen. Instruktionsoffizier werden – dieser Gedanke beherrschte nun seine Zukunftspläne. Eine Zeit lang aber trieben ihn noch Zweifel um. Würde er es überhaupt schaffen?

      Im Herbst 1935 leistete der Leutnant auf dem Monte Ceneri Dienst. In jenen Tagen fasste er sich ein Herz und schrieb dem Waffenchef der Infanterie, Divisionär Borel, einen Brief: «Nach reiflicher Überlegung und nach einem Gespräch mit meinem Paten, Oberstdivisionär Tissot, habe ich die feste Absicht, mich als Aspirant für den Instruktionsdienst zu melden.»2 Bevor er, liest man darin weiter, seinen Antrag offiziell unterbreiten werde, möchte er den Herrn Waffenchef bitten, ihn in den nächsten Tagen in Bern zu empfangen, damit er ihm die Motive seiner Absicht mündlich auseinander setzen könne. Schon einen Tag später erhielt Leutnant Jeanmaire Antwort von einem Mitarbeiter des Waffenchefs: «Durch einen Zufall erfahre ich, dass der Brief, datiert vom Monte Ceneri vom 30. September, ohne Unterschrift bei uns heute eingegangen, von Ihnen stammt.» Der Entscheid hatte den Anwärter dermassen erregt, dass er tatsächlich vergass, das Schreiben, mit dem er die Weichenstellung seines Lebens ankündigte, zu unterzeichnen.

      Vielleicht dachte Jeanmaire an jenem Novemberabend, am Ehrentisch im Gasthaus Sternen, an den leicht stolpernden Beginn seiner Karriere. Vielleicht erfüllte ihn auch die Aussicht, in ein paar Wochen die Uniform endgültig abzulegen und, wie man bei solcher Gelegenheit sagt, ins Glied zurückzutreten, mit ein paar Wehmutsregungen. Keine Befehlsgewalt, keine Mission, keine Auftritte mehr, auch keine salutierende Ehrerbietung von Soldaten und Offizieren, die seinen Weg kreuzten. Nur, ein Kind der Traurigkeit war Jean-Louis Jeanmaire nie.


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