Weltdistanz und Menschennähe. Michael Lohausen

Weltdistanz und Menschennähe - Michael Lohausen


Скачать книгу
herausgefordert hätte17 oder dass die krisenhaften Zeitumstände (Säkularisation) eine derartige Ergänzung und Rückversicherung über die theologische Mitte der Pastoraltheologie notwendig gemacht hätten.18 Johann Michael Sailer (1751—1832) ist die zentrale Figur in diesen Überlegungen. Er nimmt eine Stellung zwischen Innovation und Stabilisierung ein. Es fällt dabei das Argument ins Gewicht, dass der starke Bibelbezug bei Sailer die kritisch-prophetische Komponente in der Pastoraltheologie, die einer Instrumentalisierung durch von außen kommende Herrschaftsambitionen bzw. -verlockungen prinzipiell etwas entgegenzusetzen hat, deutlich zum Vorschein bringt.19 Es macht sich für die Geschichtsinterpret_innen aber andererseits auch die Schwierigkeit bemerkbar, dass „[es ihm] [b]ei aller Bibelkenntnis … [nicht gelang], die gesellschaftlich wie theologiegeschichtlich abgestützte Kleruszentrierung der Seelsorgspraxis zu überwinden“20 bzw. dass er genau durch die theologische ‚Aufladung‘ von traditionellen Rollenzuschreibungen einer „Fokussierung der pastoralen Reflexion auf die Pfarrer“21 noch Vorschub leistete.

      (c) Wissenschaftszeit (ca. 1830—1930): Es handelt sich dabei um einen außerordentlich heterogenen Abschnitt in der Fachgeschichte, aber man kann einen gemeinsamen Nenner daran festmachen, dass währenddessen die großen Auseinandersetzungen um die Arbeitsform der Pastoraltheologie stattfanden.22 Anton Grafs (1811—1867) aus der Tübinger Schule kommendes Konzept einer, Wissenschaft von der sich selbst in die Zukunft erbauenden Kirche‘ markiert dabei den ersten Meilenstein und nach der Mehrheitsmeinung wegen der darin enthaltenen traditionskritischen Implikate gleichzeitig auch den vorläufigen Höhepunkt in der Theoriebildung.23 Die Erläuterungen zu den sich daran anschließenden Abläufen tragen in der Regel entweder summarisch den Charakter einer Gegenaussage, dass ‚die Kirche‘ bzw. ‚die Pastoraltheologie‘ (als Kollektivsubjekt) die bis zu diesem Zeitpunkt gewonnenen Errungenschaften wieder aufgegeben hätten,24 oder beziehen sich auf ausgewählte ‚Graf-Antipoden‘ – Joseph Mast (1818—1893), Michael Benger (1822—1870), – um die Rücknahmen individuell festzumachen.25 Die Entwicklungen in der Wendezeit vom 19. zum 20. Jahrhundert bekommen dadurch Reklerikalisierung, Entwissenschaftlichung, ‚neuer Pragmatismus‘26 u. ä. als Sammelbezeichnungen aufgedrückt – eine Etikettierung, die sicher nicht aus der Luft gegriffen ist, aber in der Pauschalität doch nur sehr eingeschränkt zu erkennen gibt, welche Herausforderungen für das Fach und die Klerusausbildung im Ganzen mit der dynamisierten, moderner werdenden Gesellschaft verbunden waren (vgl. Kap. 2 und 3).

      (d) Reorganisationszeit (ca. 1930—1960): Die relativ kurze Phase im Vorfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils rückt vor allen Dingen als Wiederanknüpfung an Grafs Konzeptionsanstöße in den Fokus.27 Die Aufbruchsphänomene am Anfang des 20. Jahrhunderts (Bibel-, Liturgie-, Jugendbewegung) und ein in Wandel geratenes Kirchenverständnis (‚mystischer Leib‘ statt Rechtsgebilde) bildeten demzufolge das Klima, in dem ein pneumatologischer Denkansatz, die Aufsprengung einer blickverengten Amtsträger-Theologie und eine ökumeneinteressierte Wissenschaftsauffassung neu aufgegriffen und transformiert werden konnte – zum Beispiel auf die „Mitverantwortung der Laien“28 hin. Constantin Noppel (1883—1945), Linus Bopp (1887—1971) und Franz Xaver Arnold (1898—1969) treten als Hauptrepräsentanten dieses Umschwungs „[v]on der Technologie zur Theologie“29 in Erscheinung.30 Die Überzeugung, dass das Zweite Vatikanische Konzil eine fundamentale Zäsur im Geschichtsablauf darstellt und so etwas wie das Initialgeschehen der Gegenwart bedeutet, wird nicht nur inhaltlich,31 sondern schon ganz äußerlich sichtbar: Es wird mit diesem Ereignis das nächste Kapitel aufgeschlagen.32 Eine neue Zeitrechnung fängt an.

      Ein solches Phasenmodell hat den Vorteil, leicht eingängig zu sein, aber es steht auch in der Gefahr, zum eingefahrenen Raster zu werden und bei anhaltender Perpetuierung den Anschluss an verbreiterte, ausdifferenzierte oder erst dazu kommende Wissensstände zu verpassen. Das ist für die Pastoraltheologie mit Blick auf politik-, sozial- und frömmigkeitsgeschichtliche Forschungserrungenschaften besonders virulent, sofern sie Interesse an einer kritikfesten Aufarbeitung der eigenen geschichtlichen Hintergründe hat und es dann auch nicht bei der Frage belassen kann, wie Lehrbuchkonzepte aus der Vergangenheit sozusagen ‚im luftleeren Raum‘ miteinander zusammenhingen, sondern sich ein Bild davon zu machen versucht, in welchen Verbindungen diese Theorien zur pastoralen Situation insgesamt (gesellschaftliche Voraussetzungen, kirchliche Rahmenbedingungen, Lebensverhältnisse des Seelsorgepersonals u. ä.) gestanden haben. Es ist Nachholbedarf vorhanden. Die vorliegende Arbeit geht im Horizont der aufgezeigten Problematik dem Ziel nach, dem Vergessen der Geschichtsdimension und der Musealisierung ihrer Bestände entgegenzuarbeiten und Perspektiven aufzumachen, unter denen die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit im ‚langen 19. Jahrhundert‘ (Eric Hobsbawm) für ein Fachverständnis in der Gegenwart anschlussfähig gemacht werden kann und nicht in eine Verabschiedung münden muss.

      Das erste Kapitel verdeutlicht die Rekonstruktion der Entwicklungen in der Pastoraltheologie selbst als geschichtlichen Zusammenhang und analysiert die zentralen Interpretationen vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Es findet in diesem Abschnitt gewissermaßen die Rezeption der Rezeption oder eine Geschichtsdarstellung auf zweiter Ebene statt. Ein Akzent liegt dabei auf der Sichtbarmachung der ekklesiologischen Vorannahmen, so dass es möglich wird, die vom kirchlichen Ort der Vertreter bestimmten ‚Färbungen‘ der Interpretationsansätze auseinander zu halten.

      Das zweite Kapitel nimmt als Ergänzung zu solchen auf die Lehrbuchtradition festgelegten Herangehensweisen Sondierungen im Umfeld der Pastoraltheologie vor. Rekonstruktionen der Fachgeschichte, die das kirchliche Einbettungsszenario bzw. Settings der Seelsorge nicht berücksichtigen, müssen sich schon insofern Kritik gefallen lassen, als die Pastoraltheologen im 19. Jahrhundert ausnahmslos eine direkte Praxisbezogenheit für ihre Universitätstätigkeit in Anspruch genommen und den Standards einer zeitgemäßen Wissenschaftsform tendenziell übergeordnet haben (so genannte ‚Anleitungslehre‘). Der Blickwinkel wird in diesem Teil unter makrosozialen Aspekten (politische Situation, Strukturentwicklung der Kirche) geweitet.

      Das dritte Kapitel konkretisiert die daraus gewonnenen Ergebnisse auf ausgewählte Seelsorgekontexte und existenzprägende Faktoren in Klerikerbiographien auf dem Zenit des Ultramontanismus hin. Die Eingrenzung auf die Phase von der Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts lag besonders nah, weil die Geschichtsinterpreten über die in dieser Zeit entstandenen Lehrbücher mit dem Hinweis auf sowohl inhaltliche als auch methodische Fehlentwicklungen am schnellsten hinweggegangen sind. Es geht in dem Abschnitt darum, mit Einblicknahmen in die klerikale Lebenswelt Kontexte deutlich zu machen, worauf die Pastoraltheologie unter den Bedingungen des Ultramontanismus eigentlich in der Praxis ausgerichtet war – nämlich auf Seelsorger in außerordentlich ambivalenten Lebensverhältnissen – und dadurch einer differenzierteren Auseinandersetzung mit der zeitspezifischen pastoraltheologischen Literatur Material an die Hand zu geben.

      Das vierte Kapitel plädiert, nicht als ob damit schon alles gesagt wäre, sondern ganz im Gegenteil, als Werbung für mehr Forschungsengagement in diesem Bereich, für ein verstärktes Wahrnehmen der Verbindungslinien zwischen abstrakt-verallgemeinernder Theoriebildung und konkret-vielgestaltiger Seelsorge- bzw. Kirchenpraxis in fachgeschichtlichen Zusammenhängen. Es ruft mit dem österreichischen Pastoraltheologen Anton Kerschbaumer (1823—1909) einen Fachvertreter ins Gedächtnis, der eine solche Vermittlung von Lehre und Leben auf eigene Art praktiziert hat und von daher ein Beispiel abgibt, dass eine ‚Charakterzeichnung‘ des Fachs in diesem Zeitraum, die darin nur Regelwerksversessenheit und seelsorglichen Uniformierungswillen sehen lassen würde, sehr viel Karikaturenhaftes an sich hätte.

      Die vorliegende Arbeit stellt die Ergebnisse eines Forschungsprozesses im Bewusstsein des eigenen begrenzten Horizonts vor. Sie ist pastoraltheologisch und hat deshalb nicht die Zielsetzung, einen Diskussionsbeitrag zur (Kirchen-)Geschichtswissenschaft zu liefern, sondern umgekehrt: Sie ‚bedient sich‘ bei Analysen und Interpretationen zu historischen Quellen bzw. Entwicklungen, bündelt sie in der Fluchtlinie der verfolgten Fragestellungen und bereitet sie für die Rezeption durch die Pastoraltheologie auf.

      1 Vgl., um sich eine Vorstellung über die Komplexität zu machen, die schon etwas länger zurückliegenden, aber als Problemanzeige immer noch aktuellen Wegmarken Herbert


Скачать книгу