Der weibliche Weg. Martine Texier

Der weibliche Weg - Martine Texier


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der so tief geht, dass er uns im Grunde unserer Seele berührt.

      Leider ist man sich in der modernen Medizin der inneren Verwandlung nicht bewusst, die das Ergebnis einer solchen Gipfelbesteigung ist. Was also geschieht? Am Fuß des Berges wird man Ihnen erklären, dass der Weg sehr schwer und sehr lang ist. Man wird Sie fragen, ob Sie ganz sicher sind, bis zum Schluss durchzuhalten … oder leiden zu wollen. Dann schlägt man Ihnen vor, den Hubschrauber zu benutzen (»die PDA = Periduralanästhesie ist so angenehm«) und Sie auf dem Gipfel abzusetzen.

      Ich stelle nur eine Frage: Ist das Gefühl auf dem Gipfel das gleiche? Bei der Vorbereitung auf die Geburt mithilfe von Yoga geht es eben um die verschiedenen Etappen des inneren Wandels bei Mutter und Eltern und um den Moment der Initiation auf dem Gipfel.

       2. Ein Labyrinth

      Eine Geburt hat auch etwas davon, das Abschreiten eines Labyrinths als Initiation zu erleben. Viele Labyrinthe von früher wurden leider zerstört. Es gibt sie noch am Eingang einiger Kathedralen wie in Chartres oder Amiens. Früher schritt ein Pilger das Labyrinth einer Kathedrale als Teil seiner Pilgerfahrt ab.

      Folgt man den Mäandern im Labyrinth, nimmt die tellurische Strömung stetig zu. Beim letzten Schritt fällt sie radikal ab, um dann im Zentrum des Labyrinths atemberaubende Höhen zu erreichen. Die Schwingungsintensität des Pilgers stieg stetig an. Kurz vor dem Zentrum brach sie zusammen. Im Mittelpunkt angekommen erreichte sie dann Höchstwerte. Das löste beim Pilger einen radikalen Bewusstseinswandel aus.

      Die Parallelen zum Ablauf einer Geburt liegen auf der Hand. Durch den Rhythmus der Wehen über mehrere Stunden hinweg durchlebt die werdende Mutter eine innere Verwandlung. Und wie beim Abschreiten des Labyrinths gibt es Wendungen, die sie näher ans Ziel bringen. Sie meint, es bald geschafft zu haben. Dann kommen Kehren, die wieder wegführen. Sie ist entmutigt und möchte aufgeben! Und häufig erlebt sie dann kurz vor dem Austreten des Kindes einen Moment absoluter Entmutigung. Manchmal geht er mit Todesängsten einher. In der Regel ist das der Moment, in dem sie um Unterstützung bittet. Jetzt braucht sie ermutigende Worte und jemanden an ihrer Seite für die letzte Anstrengung und die finale Verwandlung. Das entspricht dem radikalen Abfall der tellurischen Strömung im Labyrinth. Wenn sie jetzt loslassen kann, kann sie eine neue Bewusstseinsebene erreichen. Durch dieses vollständige Sich-Hingeben kann sie das Bewusstsein für ihre körperlichen Grenzen verlieren (daher auch die Todesangst) und mit der Unendlichkeit verschmelzen. Sie hat Zugang zu einer Dimension der »Größe«. Die Todesangst ist in Wahrheit die Angst, »herauszutreten« aus ihrem gewöhnlichen Bewusstsein. Eines ist sicher: Nach diesem Initiationsritus ist die Frau ein anderer Mensch. Die Erinnerung an diese kosmische Dimension wird für immer auf dem Grund ihrer Zellen festgehalten. Von jetzt an wird ihr Blick auf das Leben ein anderer sein.

      Ist man sich bewusst, was diese Dimension für die Frau bedeutet, für die Eltern und, wie wir später sehen werden, auch für das Kind, stellt sich die Frage nach der Begleitung des Initiationsritus. Dabei geht es nicht so sehr um das Machen, sondern um das Sein.

      Die moderne Medizin ist weit davon entfernt, Menschen auszubilden, die fähig sind, diese Begleitung in ihrem ganzen Ausmaß zu ermöglichen, menschlich und spirituell und nicht nur technisch.

      Eine Geburt kostet viel Kraft und Energie. Man kann vorab noch so viel davon sprechen, alle Mütter sind überrascht, dass sie über solche Kräfte verfügen. Diese Kräfte sind so mächtig, dass sie einem Angst machen können. Aber sie ermöglichen auch die Verwandlung. Ich glaube, diese Erfahrung ist einzigartig im Leben einer Frau und eines Paares.

      Diese Vervielfachung der Energie hat eine wichtige Funktion. Die beiden vorangegangenen Beispiele zeigen das deutlich, die Bergbesteigung und das Labyrinth. Die ganze Zeit über kommt es zu einem stetigen Energieanstieg. So kommt die werdende Mutter, vielleicht auch das Paar, weiter, als sie es sich je vorgestellt hätte. Sie hat das Gefühl, dass diese Erfahrung jede Vorstellung davon in den Schatten stellt. Jetzt bleibt nur noch eines: loslassen, loslassen und noch einmal loslassen.

      Dieses Loslassen führt zu einem neuen Bewusstseinszustand. Die Erfahrung des Sich-Öffnens ist die direkte Folge des Erlebten: die Intensität, die Anstrengung, das Über-sich-Hinauswachsen.

      Diese Intensität spielt auch bei der Öffnung des weiblichen Körpers eine Rolle. Auch hier gibt es eigentlich keine Worte, um diese Öffnung angemessen zu beschreiben. Die Wehen, die den Gebärmutterhals immer weiter verkürzen, das Kind, das sich immer weiter ins Becken der Mutter schiebt, das ist ein unvorstellbares, unglaubliches Gefühl.

      Dominique

      »Eine Geburt ohne PDA, das hat mir das Gefühl des perfekten Übergangs zwischen dem ›Vorher‹ und dem ›Nachher‹ gegeben. Die Zeit wird nicht einfach angehalten zwischen dem zugegeben schmerzhaften Moment, in dem das Kind noch drin ist (runder Bauch) und dem Augenblick, in dem es dann ziemlich plötzlich da ist (leerer Bauch).

      Ich habe das Baby so intensiv ins Leben begleitet, den Weg Schritt für Schritt mit ihm zurückgelegt, dass ich das Ganze gar nicht als Bruch erlebt habe: In den Tagen und Wochen danach hat mich die präzise Erinnerung an diesen Übergang vor jedem Baby Blues geschützt.«

      Agnès

      »Ich habe die Hebamme sagen hören: ›Ein Junge!‹ Denis weinte neben mir. Ich empfand keinerlei Aufregung, keinerlei Müdigkeit, einige Minuten lang war alles wie ein weißes Blatt. Das Kind auf meinem Bauch schien den gleichen inneren Zustand zu haben wie ich: das Gefühl, es vollbracht zu haben, am Ziel zu sein … ›ein Stück angehaltener Zeit‹ vor dem Wiedersehen, vor dem Treffen mit dem neuen Leben zu dritt.«

      Eliane

      »Ich habe bei fast allen Wehen gestanden. Die ganze Zeit habe ich mit dem Baby gesprochen, wir haben die Arbeit zusammen gemacht. Ich habe die Fortschritte gespürt. Im Moment des Austritts habe ich mein Kind gerufen, ich habe gesagt:

      ›Hélène, jetzt ist es Zeit, du musst rauskommen‹ Das war sehr schön. Ich hatte Schmerzen, starke Schmerzen. Aber ich habe versucht, nicht daran zu denken, denn mir war es am wichtigsten, den Moment zu erleben, aktiv zu sein, da zu sein, zu spüren, wie mein Baby kommt, seinen Kopf dreht, sich den Weg bahnt. Ich habe gespürt, wie der Kopf sich vorarbeitet. Das war fantastisch! Mein Leben Lang werde ich wundervolle Erinnerungen an diese Geburt haben.«

      Bald ist der Körper der Frau ganz Öffnung, und diese Öffnung steht im Einklang mit allen Ebenen ihres Seins, die ebenfalls weit offen sind. Das führt zu einem gewaltigen »kosmischen Orgasmus«, der schwer in Worte zu fassen ist: körperliche Öffnung, energetische Öffnung, geistige Öffnung, spirituelle Öffnung. Der Einklang auf diesen vier Ebenen schlägt eine Bresche, ein Teil des Vorhangs reißt auf, und plötzlich hat die Frau Zugang zum bisher Verborgenen, zum Feinstofflichen, Unsichtbaren.

      Diese Erfahrung hat natürlich einen Sinn und eine Funktion.

      Hier sind wir am entscheidenden Punkt der Geburt: dem radikalen Abfall der Energie, bevor sie senkrecht ansteigt, wie beim Abschreiten des Labyrinths. Wozu? Die Frau wird in die Dimension der »Größe« geschleudert. Das erlaubt ihr, in Kontakt mit der Welt des Lichts zu treten, aus dem ihr Kind kommt, in Übereinstimmung mit der Tiefe dieses kleinen Wesens, mit seiner Essenz.

      Auch viele Väter erleben diese Übereinstimmung mit ihrem Kind und ihrer Gefährtin, eine Verschmelzung zu dritt, die außerhalb der Zeit und des Raumes stattfindet: Moment der Ewigkeit und der Unendlichkeit …


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