Freestyle Religion. Uwe Habenicht
etwas Eigenes zu gestalten. Kein Wunder also, dass auch in anderen Bereichen (und auch in der Theologie) Freestyle zunehmend in den Blick gerät.
So heißen Freestyler in der neueren Wirtschaftssprache „Lead User“. Das sind die Menschen von morgen, weil sie Bedürfnisse haben, die die breite Masse noch lange nicht hat und die darüber hinaus an Problemlösungen arbeiten, die kreativ auf solche Bedürfnisse antworten.2
In der theologischen Dogmatik wird so etwas nicht selten als Bastel-Mentalität und „Bastel-Religion“ abgewertet. Freilich ohne die Nöte und die Sehnsüchte zu verstehen, die einen solchen selbstverantworteten religiösen Gestaltungsprozess motivieren und notwendig machen. Um was es mir im Folgenden geht, ist deshalb mehr und substanzieller als eine solche Bastel-Religion. Seine wirkliche Sprengkraft zeigt der Begriff „Freestyle Religion“ erst, wenn wir ihn im Sinne von „religious Freestyle“ verstehen, also nicht nur als eine weitere Religion, sondern als eine grundlegend neue Haltung der Religion und dem Religiösen gegenüber. Eine Haltung, die das übliche monotheistische Entweder-oder zugunsten eines additiven Sowohl-als-auch übersteigt. Das Substantiv „Religion“ und die Substanz der Religion, der sich klare Zugehörigkeiten und Glaubensinhalte zuordnen ließen, lösen sich zunehmend in das Adjektiv „religiös“ auf, dem diese Klarheit und Eindeutigkeit fehlen. Religionen lassen sich voneinander abgrenzen, religiös sein nicht mehr. So tun wir gut daran, nicht nach Religion, sondern nach religiös sein zu fragen, nicht nach Mystik, sondern nach dem Mystischen, nicht nach Spiritualität als einem abgegrenzten Bereich, sondern nach spirituellen Dimensionen, die sich einem Subjekt erschließen können.
3. Vom Zerbröseln institutionalisierter Religion
Die großen Epochenzäsuren lassen sich in der Regel an einzelnen Ereignissen festmachen: Das Ende des Kalten Krieges lässt sich mit dem Fall der Berliner Mauer eindeutig datieren, die Reformation mit Luthers Thesenanschlag 1517. Ganz gleich, wie viel historisierende Phantasie beim krachenden Anschlagen der 95 Thesen von Martin Luther an die Kirchentür der Wittenberger Schlosskirche mit im Spiel ist – am Ende hat jeder Hammerschlag zum Einsturz der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung geführt. Die Situation, in der wir uns heute befinden, macht es uns da viel schwerer, ein aussagekräftiges Ereignis zu benennen, das uns das An-den-Rand-Drängen institutionalisierter Religion so veranschaulicht, wie es die Beschreibung des belgischen Theologen Bruno Latour tut: „Als man merkte, dass das Kirchenschiff zu weit war, zog man sich auf die Kapelle zurück und überließ den Touristen die heiligen Stätten, die der Verwaltung historischer Baudenkmäler zufielen; dann fand man die Kapelle zu groß und flüchtete in die Krypta; als ihnen die Krypta zu weitläufig erschien, drängten sich die wenigen Verbliebenen in der Sakristei zusammen. Und morgen? Man wird sich in einem Besenschrank verstecken und nicht mehr hinauswagen.“3
Es ist nicht nur ein stiller Exodus aus der Kirche, der sich seit den 1960er Jahren vollzieht. Es ist eben mehr als nur das allmähliche Abschmelzen einer Großinstitution. Es geht vielmehr um das innere Abreißen einer Verbindung zwischen den Menschen und der Kirche als Institution. Es ist wie ein inneres Abhandenkommen, das in den meisten Fällen die Kirchenmitgliedschaft sogar einschließt. Man gehört formell noch zur Kirche, aber man hört nicht mehr hin, fühlt sich bei jedem Kontakt eher fremd als heimisch und versteht die Sprache, die dort gesprochen wird, immer weniger. Wie bei einem alten Ehepaar, das zwar noch im gleichen Haushalt lebt, aber lange schon innerlich ausgezogen ist.
Auf dem Etikett, das diesen Prozess beschreibt, steht Entkirchlichung und Enttraditionalisierung. Was innerhalb der Kirchenmauern gilt, gilt lange schon nicht mehr außerhalb. Was im kirchlichen Inner-Circle Common Sense ist, stößt außerhalb nur noch auf Kopfschütteln: eine kleine Party an Karfreitag, warum nicht? Halloween zu feiern, ist doch cool, oder? Tischgebete sind peinlich, für die Kinder ohnehin und Gästen sowieso nicht zumutbar. Das Problem daran: Auch den Inner-Circle gibt es vielerorts schon nicht mehr. Die einzigen, die Halloween nicht feiern, sind die Pfarrerskinder, die nicht kommen durften.
Um unsere Gegenwart und die Rolle der Religion darin zu verstehen, müssen wir die Geschichte erzählen, die zu dieser Gegenwart geführt hat. Bis vor Kurzem wurde diese Geschichte unter dem Stichwort der „Säkularisierung“ erzählt. Ihre Kurzfassung besagt: In der ausdifferenzierten Moderne wird Religion überflüssig und verliert immer mehr an Bedeutung, bis sie schließlich gänzlich verschwindet. Betrachtet werden kann sie dann nur noch in den Glasvitrinen der historischen Museen. Die letzten Jahrzehnte haben jedoch gezeigt, dass sich das Sterben des bereits totgesagten Patienten Religion nicht nur in die Länge zieht, dass dieser vielmehr erstaunlich vital erscheint. Die Geschichte der Säkularisierung, also das Vorrücken von Wissenschaft und Technik und die Inbesitznahme von einst religiösen Bereichen, muss offenbar differenzierter und anders erzählt werden4 – und zwar so, dass der Bedeutungsverlust institutionalisierter Religion (Kirchen) einerseits und der breitgefächerte Boom des Spirituellen anderseits gleichermaßen in den Blick kommen. Ob dieser Prozess als Verlust beschrieben werden muss oder als Chance der Religion, endlich nichts anderes sein zu müssen als Religion, bleibt dabei zunächst offen: „Die Religion, die durch die Feuertaufe der Säkularisierung gegangen ist, weiß um die Grenzen der Religion, also um die Notwendigkeit der Selbstbegrenzung. Die Gesetze des Himmels und der Erde mit den Mitteln der Religion zu ergründen und zu verkünden: Das geht nicht! … Die Kirche ist nun nicht mehr für alles zuständig, nur noch für Spiritualität und Religiosität.“5
Wie immer dieser Prozess bewertet wird – in jedem Fall kommt es zu erheblichen Verschiebungen und Verlagerungen. Und diese erdbebenartigen Verschiebungen sind es, die für die Großkirchen spürbar und immer deutlicher sichtbar werden.
Schauen wir diesen Prozess etwas genauer an, lassen sich mindestens fünf Aspekte ausmachen, die zu dieser Situation geführt haben und sie heute noch prägen.
3.1 Individualisierung eins und zwei
Zur Eigenart geschichtlicher Prozesse gehört es, dass in ihnen verborgene Spannungen und bisher zusammengehaltene Gegensätze erst im Laufe der Zeit deutlich hervortreten und möglicherweise auseinanderbrechen. Das spannungsvolle Beieinander von Religion und Individualität gehört zu diesen Phänomenen. Das Christentum hat sich, anders als das Judentum, zu dem es anfangs noch gehörte, immer an den Einzelnen gewandt. Ohne Ansehen von Herkunft, Sprache, religiöser Zugehörigkeit und Geschlecht galt die christliche Botschaft den Einzelnen, um aus diesen „Herausgerufenen“ die „ecclesia“, die Kirche, zu bilden. So war und ist noch immer die am Einzelnen vollzogene Taufe, die auf der individuellen Glaubensentscheidung (etwa bei der Konfirmation) beruht, zentrales Sakrament des christlichen Glaubens. In diesem Sinne ist christlicher Glaube Quelle von Individualisierung. Soziale und kulturelle Bindungen lässt der Einzelne hinter sich, um seiner individuellen Berufung zu folgen. Zugleich wird diese individuelle Entscheidung durch die Eingliederung in den Glauben der Glaubensgemeinschaft eindeutig begrenzt. Wer sich taufen lässt, bindet sich an den geteilten Glauben der anderen Getauften. So ist christliche Religion sowohl Quelle von Individualisierung als auch deren Gegenteil, nämlich die Beschränkung von Individualität. Der Soziologe Ulrich Beck nennt dieses Stadium Individualisierung eins: „Individualisierung Eins meint Individualisierung in der Religion.“6
Martin Luthers reformatorisches Denken radikalisierte diese individuelle Freiheit des Einzelnen gegenüber der katholischen Amtskirche nachhaltig. „Die ‚Erfindung‘ des eigenen Gottes bildet vielleicht das Herzstück der Revolution Luthers. Er ist es, dem das ‚Undenkbare‘, das ‚Ungeheuerliche‘, die ‚Häresie‘ gelingt, durch die Konstruktion der Gottunmittelbarkeit des Individuums in der Verbindung von dem ‚einen‘ und dem ‚eigenen Gott‘ die subjektive Glaubensfreiheit gegen die kirchliche Orthodoxie zu begründen.“7
Trotz der Loslösung des eigenen Gottes von der Amtskirche bleibt dieser jedoch an die christliche Überlieferung, sprich Bibel, gebunden: „Der eigene Gott Luthers ist also keineswegs der ‚Bastel-Gott‘ des 21. Jahrhunderts, sondern der wörtliche Bibelgott, der sich in der Schrift offenbarende, eigne und einzige Gott. So paradox es klingen mag, der ‚eigene Gott‘ Luthers fällt zusammen mit dem einen Gott der Bibel.“8
Auch wenn der Soziologe Beck hier das Schriftverständnis Luthers